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Grenzen und Entgrenzungen

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Die soziale Seite an Wirtschaft und Wissenschaft
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Zusammenfassung

Die Stimmung in der Wissenschafts- und Wirtschaftssoziologie erinnert ein bisschen an die Stimmung in Deutschland 1989: Grenzen sind ungern gesehen, der allgemeine Ruf geht auf das Auflösen von Grenzen und Einreißen von Mauern, Grenzregimes sind ein Gegenstand kollektiver Empörung. Grenzen gelten als künstlich hochgezogene Barrieren zwischen dem, das eigentlich zusammengehört. Mit Jubel entgegengenommen wird die Verkündung offener Landschaften, frei fließender Ströme und einschmelzender Unterschiede.

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Notes

  1. 1.

    Prozesswissenschaft („litigation science“) kommt deshalb auf, weil in einem einflussreichen US-amerikanischen Präzedenzfall (Daubert vs. Merrell Dow Pharmaceuticals) das zuständige Gericht urteilte, dass Studien, die nicht veröffentlicht sind und kein „peer review“-Verfahren durchlaufen haben, sondern nur für den Kläger selbst und für Zwecke des Gerichtsverfahrens angefertigt wurden, nicht als wissenschaftliches Beweismaterial gelten Solomon/Hackett (1996). Dies führt nachvollziehbarerweise dazu, dass spätere Kläger versuchen, ihr Beweismaterial publiziert zu bekommen, bevor sie es vor Gericht vorlegen.

  2. 2.

    Sie stellen etwa fest: „Democracy cannot dominate every domain – that would destroy expertise – and expertise cannot dominate every domain – that would destroy democracy.“ Collins/Evans (2007: 8). Und: „We will have to treat expertise as ‘real’“ – „as something more than the judgement of history, or the outcome of the play of competing attributions“ Collins/Evans (2002: 236 f.).

  3. 3.

    Zelizer hat einen sehr breiten Begriff von Intimität oder intimen Beziehungen. Dieser schließt alle Beziehungen ein, in denen etwas geteilt wird, was mit Dritten nicht geteilt wird – wenn etwa zwischen Vorgesetztem und Untergebenem Dienstgeheimnisse geteilt werden, oder zwischen Arzt und Patient Details des physischen und psychischen Befindens. Paarbeziehungen und Familien sind im Feld von intimen Beziehungen jedoch prominent; ich greife hier die Befunde heraus, die sich darauf beziehen.

  4. 4.

    An diesem Punkt entspannt sich etwa eine Debatte zwischen Zelizer und Eva Illouz. Letzter diagnostiziert eine „Verschmelzung von Kultur und Warenwelt“ im Allgemeinen und eine „Einheit von romantischer Liebe und Warenwelt“ im Besonderen (Illouz 2003: 74 f.) und stellt deshalb den Antipoden zu Zelizers Auffassung dar (Illouz 2008). Ihr zufolge werden Liebesbeziehungen im Kapitalismus zunehmend einer Logik des Konsums, der Werbung, der geldwerten Geschenke unterworfen, sie gleichen sich an Konsumpraktiken an oder sind unauflöslich mit diesen verstrickt, und sie verlieren so ihre Reinheit, die sie in früheren Phasen – etwa im ländlichen Amerika vor dem Ankommen der Konsumgesellschaft – jedenfalls potenziell hatten, als zwei Menschen ohne große ökonomische Ressourcen und Konsummöglichkeiten einander einfach aufgrund persönlicher Sympathie wählen konnten.

  5. 5.

    Ähnliche Beobachtungen finden sich schon bei Tyrell (1976: 412): Man könne Familienmitglieder für geleistetes Babysitting oder ähnliche Dienste nicht bezahlen, selbst wenn die Zielperson Geld bräuchte und man ihr das gern würde zukommen lassen; es müssen dann andere Formen für ökonomische Transfers gefunden werden, etwa großzügige Einladungen oder Geschenke. Ebenso werden Eltern oder Großeltern, die ihre dem Jugendalter entwachsenen Kinder oder Enkel alimentieren wollen, dies typischerweise in Geschenken verstecken, um den Eindruck direkter ökonomischer Abhängigkeit zu vermeiden.

  6. 6.

    Im englischen Original heißt es: „connected lives“. – Genau genommen richtet sie sich mit dem „verbundene Leben“-Modell sogar gegen zwei andere Denkmodelle: nicht nur gegen das „feindliche Welten“-Modell, sondern auch gegen ein Denken, das sie „nothing but“ nennt. Gemeint sind reduktionistische, speziell ökonomistische Denkweisen, für die das ganze soziale Leben immer schon nach dem Prinzip der Nutzenmaximierung geordnet ist und von vornherein nichts anderes infrage kommt (Zelizer 2005: 29 ff.; vgl. Zelizer 1988: 615).

  7. 7.

    Natürlich gibt es keine schlechthinnige Garantie dafür, dass ein einmal erreichtes Differenzierungsniveau intakt bleibt. Es kann reale Entdifferenzierungsprozesse geben, wie sie etwa in totalitären Staaten oder auch während großer Kriege zu beobachten sind (Pollack 1990; Misheva 1993; Kruse 2009, 2015; Kuchler 2013b, 2013a). Aber die Schwellen dafür liegen hoch; um von Entdifferenzierung sprechen zu können, muss gezeigt werden, dass äußere Faktoren im internen Operieren eines Sinnfeldes nicht nur irgendeine Rolle spielen, sondern dass sie die selbstreferenzielle Handlungslogik des jeweiligen „Zielfeldes“ außer Kraft setzen Gerhards (1991). Wie immer unscharf dieses Kriterium ist, so klar ist doch, dass nicht jede staatliche Regulierung eines Marktes, nicht jede wissenschaftliche Beirat in einem Politikfeld, nicht jede Expertenanhörung in einem Gerichtsverfahren als Entdifferenzierung und Autonomieeinschränkung qualifiziert – sonst hat man keine Steigerung für die drastischeren Formen mehr übrig.

  8. 8.

    Dass das Modell der verbundenen Leben dem Einbettungsparadigma der Wirtschaftssoziologie zuwiderläuft, sagt Zelizer explizit in einem späteren Kommentar zu Kommentaren zum Buch (Zelizer 2007). Sie habe diesen Hinweis im Buch weggelassen, um Polemik zu vermeiden und Leser nicht zu überlasten mit Dingen, die sie möglicherweise nicht interessieren. „[Commentators] say, rightly, that the connected-lives perspective strongly challenges the embeddedness approach. Why doesn’t the book say so? […] I deliberately compressed my discussion of economic sociology for two reasons: first, because I didn’t want the book to come across primarily as a polemic within a relatively limited field. […] Second, I thought, and still think, the connected-lives perspective […] speak to a much larger public that is not much concerned about the relations between economics and other disciplines“ (ebd.: 613 f.).

  9. 9.

    Brown und Malone (2004) nennen – vor Bourdieu’schem Theoriehintergrund – als die jeweils autonomsten Disziplinen im Bereich der Naturwissenschaften die Physik und im Bereich der Sozialwissenschaften die Wirtschaftswissenschaften, ohne diese Wahl näher zu begründen.

  10. 10.

    Im Strafrecht gilt das althergebrachte Prinzip in dubio pro reo“, d. h. die Schuld des Angeklagten muss über jeden vernünftigen Zweifel hinaus erwiesen sein. Im Zivilrecht gibt es mehr Variationsmöglichkeiten, statt 99-prozentiger Sicherheit mag hier nur über-50-prozentige Sicherheit gefordert sein – ein Überwiegen der Indizien in der einen oder anderen Richtung –, und es ist immer möglich, dass die Rechtslage in diesem Punkt geändert wird, dass qua Gesetzgebung oder richterlicher Entscheidungspraxis die Beweislast eindeutiger der einen oder anderen Seite zugewiesen wird. Im US-amerikanischen Recht lag hier eine wichtige Änderung in der Verschiebung von dem Präzedenzfall „Frye vs. United States“ von 1923, wonach eine wissenschaftliche Methode oder ein wissenschaftlicher Befund durch die vorherrschende Meinung im einschlägigen Forschungsfeld gedeckt sein musste, zu dem Fall „Daubert vs. Merrell Dow Pharmaceuticals“ von 1993, wonach weichere und pluralere Kriterien bei der Beurteilung von Wissenschaftlichkeit anzulegen sind und dem Gericht mehr eigener Spielraum dabei zugestanden wird (Jasanoff 1995, 2008b, 2008a; Solomon/Hackett 1996).

  11. 11.

    Ebenso ist die Frage des Ermessensspielraums der Verwaltung bei der Interpretation der Formel „nach dem Stand von Wissenschaft und Technik“ und bei der richterlichen Überprüfung solcher Verwaltungsentscheidungen ein Problem, das im Recht diskutiert und geklärt werden muss und nicht automatisch aus Unsicherheiten im wissenschaftlichen Wissen folgt (Schulte 2004).

  12. 12.

    Das bezieht sich auf ein Präzedenzurteil des US Supreme Court zu dem bereits erwähnten Fall „Daubert vs. Merrell Dow Pharmaceuticals“. Hier werden vier Kriterien für Wissenschaftlichkeit genannt: 1. Falsifizierbarkeit, 2. Peer Review und Publikation, 3. Fehlerquote, 4. allgemeine Akzeptanz. Es fällt auch auf, dass das Recht noch für diese Kriterien – also für die Definition eines fremden Funktionssystems oder eines fremden Sinnprozessierungsmodus – seine eigenen „standard operating procedures“ als Orientierungsgröße zu nehmen scheint: Es erkannt an, dass wissenschaftliches Wissen in den Ergebnissen kontrovers sein kann, aber es hält an der Vorstellung fest, es gebe richtige Verfahren, Procederes, Methoden, um zu verlässlichen Ergebnissen zu kommen (Solomon/Hackett 1996: 152). Hierin spiegelt sich die lange Beschäftigung des Rechts mit prozeduralen Fragen wider.

  13. 13.

    Dies gilt bereits für explizit geöffnete und ent-professionalisierte Verfahrenselemente vom Typ „Öffentlichkeitsbeteiligung“. Öffentlichkeitsbeteiligung ist deshalb kein Heilmittel gegen die informative Geschlossenheit des Rechts, vielmehr kann das Rechtssystem u. U. gerade darauf mit verstärker Schließung reagieren: „Democratization […] occurs as politicization of the legal field, a politicization to which the law reacts with closure.“(Bora 2010: 10).

  14. 14.

    Finanzwissenschaftliche Innovationen scheinen hier in gewissem Maß eine Ausnahme zu sein. Das Publikwerden einer Innovation kann hier unter Umständen auch für Anwendungsinteressen förderlich sein, weil sie in einem performativ konstituierten Handlungsfeld nach Art einer selbsterfüllenden Prophezeiung wirken kann, sodass der geldwerte Nutzen einer Innovation mit ihrer Publikation und allgemeinen Bekanntheit steigt. Dies ist für die neoklassische Theorie der Optionspreisbildung durch Donald MacKenzie gezeigt worden (MacKenzie/Millo 2003; MacKenzie 2005a, 2006). Aber auch bei sonstigen finanztechnischen „Entdeckungen“ und „Theorien“ kann es für die Entdecker gut sein, wenn auch andere Akteure im Feld sie kennen und nach ihnen handeln – bei Arbitrage deswegen, weil Arbitrageure auf das Verschwinden von Anomalien, d. h. unerwartbaren Kursabweichungen setzen und diese umso schneller verschwinden, je mehr andere Akteure dasselbe erwarten und auf dasselbe setzen (Beunza/Hardie/MacKenzie 2006).

  15. 15.

    Ritualisierungen beobachtet Georg Krücken (2003: 239): „[D]ie öffentliche Figur des wissenschaftlichen Experten, der zunehmend massenmediale Diskussionsrunden, Wissensshows und Beratungssendungen bevölkert, […] [deutet] gerade nicht auf sich auflösende Grenzen […] hin. Im Gegenteil: Autorität kraft Wissen, Sicherheit der Expertenmeinung und die damit einhergehende Notwendigkeit klarer Grenzen zur uninformierten Laienöffentlichkeit werden hier als modernes Ritual aufgeführt“.

  16. 16.

    Wittgenstein entwickelt diesen Begriff anhand der Frage, was ein Spiel ist. Es lässt sich kein Einzelkriterium finden, das ein Spiel als Spiel identifiziert. Jedes Merkmal, das man nennen könnte – etwa: ein Spiel hat Regeln; ein Spiel hat Gewinner und Verlierer; ein Spiel wird in nicht-ernsthafter, spielerischer Haltung betrieben; usw. –, führt zwar auf viele Fälle von Spielen, die dieses Merkmal haben, aber auch auf einige, die es nicht haben und trotzdem dem allgemeinen Sprachgebrauch nach Spiele sind.

  17. 17.

    Auch diese Unterscheidung von Klarheit vs. Interpretationsoffenheit ist natürlich nicht im Sinn eines eindeutigen Testkriteriums zu verstehen und würde sonst an Collins’ und Evans’ Betonung von Familienähnlichkeit gerade vorbeigehen. Auch dies ist eine „weiche“ Unterscheidung – und immer, wenn man eine „weiche“ Qualität zu hart und zu scharf zu fassen versucht, wird es falsch. Auch wissenschaftliche Texte sind ja manchmal uneindeutig und interpretierbar, auch sie können durchaus anders gelesen und gewendet werden, als sie vom Autor gemeint waren – wie man ja beispielsweise einen Re-Read von Parsons mit Foucault anfertigen kann, oder einen Re-Read von Jasanoff mit Luhmann, und damit zu punkten versuchen kann. Es handelt sich aber deshalb noch nicht um Kunst, denn auch solche kreativen Re-Interpretationen funktionieren nur, wenn sie sich auf ein hinreichend klares Verständnis des interpretierten Autors stützen, und ergeben andernfalls nur Unsinn. Wie immer bei „weichen“ Identitäten muss die Zugehörigkeitsprüfung mit Sinn und Verstand, mit Augenmaß und Situationssensibilität durchgeführt werden, nicht im Stil eines Abhakens von Testkriterien.

  18. 18.

    Man kann auch formulieren, Regulierung sei mehr negativ als positiv bestimmt: Es sei nicht so, dass durch Regulierung eine bestimmte, erwünschte Struktur implementiert oder erzwungen werde, vielmehr werde eine bestimmte unerwünschte Struktur verboten, ohne festzulegen, wodurch sie ersetzt werde; letzteres kristallisiere sich dann durch Kreativität, Eigeninitiative und Durchsetzungsgeschick vonseiten der Marktteilnehmer heraus (Dobbin/Dowd 2000).

  19. 19.

    Hier lag und liegt ein gern gegangener Weg, um Preise in die Höhe zu treiben und Profite zu steigern. Siehe schon Adam Smith, der in einer vielzitierten Passage feststellt: „People of the same trade seldom meet together, even for merriment and diversion, but the conversation ends in a conspiracy against the public, or in some contrivance to raise prices.“ (Smith 1776: 105 f.).

  20. 20.

    Grundlage dafür ist die Theorie des Unternehmens als „Nexus von Verträgen“, in dem die Eigentümer als obersten Prinzipale sind und die Manager ihre Agenten sind (Jensen/Meckling 1976; Fama/Jensen 1983a, 1983b). Es kommt hier also ein weiteres Dreieck ins Spiel, mit einer wirtschaftswissenschaftlichen Theorie als drittem Faktor.

  21. 21.

    Schattenbanken, wie etwa Geldmarktfonds, bieten ihren Kunden bankähnliche Geldanlage- und Finanzierungsinstrumente an, sie sind jedoch technisch gesehen keine Banken und unterliegen nicht der Bankregulierung (Ricks 2016). Im erwähnten US-amerikanischen Fall konnten Geldmarktfonds, da die Zinsdeckelung für sie nicht galt, Banken in der Konkurrenz um Einlegergelder ausstechen (Krippner 2011).

  22. 22.

    Eigenkapitalquoten werden relativ zur Bilanzsumme der Bank berechnet. Banken entwickelten deshalb eine Vorliebe für bilanzunwirksame Geschäfte: Sie entwickelten oder perfektionierten Techniken, um Kredite und Kreditrisiken aus ihren Büchern zu entfernen, etwa Verbriefungstechniken, und engagierten sich in diversen hoch gehebelten Derivategeschäften. Strulik formuliert: Eigenkapitalquoten „bedeutete[n] […] aus der ‘Perspektive’ und in der ‘Sprache’ der Banken doch vor allem auch, daß die Kosten für Eigenkapital in Zukunft steigen würden […] [so dass] die bilanzunwirksamen Finanzinnovationen eine größere Bedeutung im Rahmen des bankinternen Ertragsmanagements gewannen“ (Strulik 2000: 176).

  23. 23.

    Diese Einseitigkeit teilt Zelizer mit einem Großteil der Wirtschaftssoziologie, die – in einer Art anti-marxistischem Grundimpuls – nicht symmetrisch ist in ihrem Blick auf die Gesellschaftsbezüge der Wirtschaft. Dies fällt speziell im Kontrast zur Wissenschaftssoziologie auf: Während dort gern wechselseitige Verflechtungsverhältnisse herausgearbeitet werden (nach dem Muster „Politisierung der Wissenschaft und Verwissenschaftlichung der Politik“), dominiert in der Wirtschaftssoziologie stets die eine Richtung: die Abhängigkeit der Wirtschaft oder des Marktes von anderen, „sozialen“ Faktoren. Die der klassischen marxistischen Basis/Überbau-These entsprechende Gegenrichtung: die Abhängigkeit aller möglichen sonstigen gesellschaftlichen Größen von der Wirtschaft, hat keineswegs dasselbe Gewicht für das Selbstverständnis und das Erkenntnisinteresse der Wirtschaftssoziologie. In der Sprache von Hirschman entspricht das einer Semantik der Wirtschaft als „schwach“, im Unterschied zu Semantiken von Wirtschaft als „stark“, sei’s im guten, sei’s im schlechten Sinn: als „doux commerce“, der die Menschen zivilisiert, oder als „böser Kapitalismus“, der sie dem Geld- und Profitmotiv unterwirft (Hirschman 1982; Fourcade/Healy 2007). Es gibt allenfalls zarte Ansätze zu Wechselseitigkeit, etwa wenn Fligstein (1996) Markt und Staat als Zwillingsinstitutionen beschreibt und nicht nur die Bedeutung des Staates für die Konstitution von Märkten betont, sondern auch umgekehrt, oder wenn darauf hingewiesen wird, dass die jüngsten globalen Finanzkrisen die fundamentale Abhängigkeit des Staates von Kapitalmärkten gezeigt hätten (Du Gay/Millo/Tuck 2012). Dergleichen ist aber, verglichen mit der Breite und Tiefe von Überlegungen in der anderen Richtung, kaum mehr als ein Tropfen auf einem heißen Stein.

  24. 24.

    Dies wird insbesondere in der Wissenschaftssoziologie manchmal mit einer gewissen Irritation notiert: Die Gesellschaft hört nicht auf, zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft zu unterscheiden, obwohl doch die Wissenschaftssoziologie gezeigt hat, dass es keine verlässlichen und sachlich gerechtfertigten Grenzen dazwischen gibt. „[T]he traditional boundaries between experts and nonexperts remain strong in the wider society even though they have been shown to be permeable by STS“ (Evans/Collins 2008: 610). – „Continuing debates over the possibility or desirability of demarcating science from non-science are, in one sense, ironic. Even as sociologists and philosophers argue over the uniqueness of science among intellectual activities, demarcation is routinely accomplished in practical, everyday settings“ (Gieryn 1983: 781).

  25. 25.

    Die Ablehnung repräsentationalistischen Denkens kann dann auch auf das Politikverständnis und Demokratieverständnis übertragen werden: Das Problem der Repräsentation von Wählerinteressen durch Abgeordnete oder Parteien wird mit dem Problem der Abbildung der Welt in wissenschaftlichen Theorien analogisiert, und Politiktheoretiker, die für repräsentative Demokratie eintreten, müssen sich gegen den Vorwurf eines naiven Repräsentationalismus zur Wehr setzen (Moore 2010).

  26. 26.

    Ein anderes Grenzobjekt kann etwa „Unsicherheit“ sein. Dieses Konzept ist im Kontext der Klimawandelproblematik wichtig, wo die Unsicherheit von Forschungsergebnissen angesprochen werden kann in einer Weise, die zu politischen Entscheidungskontexten hin anschlussfähig ist (Shackley/Wynne 1996).

  27. 27.

    Als Idealergebnis für einen großen Spieler kann es gelten, wenn seine dominante Marktposition von staatlicher Seite als „natürliches Monopol“ akzeptiert und ratifiziert wird, wie es etwa in Wasser- und Strommärkten, Eisenbahn- und Flugverkehrsmärkten der Fall sein kann (Dobbin/Dowd 2000; Avent-Holt 2012) – dann ist der regulatorische Schutz seiner Marktposition mit einem Autonomiestempel – der Anerkennung als „natürliches“ Ergebnis freien Marktoperierens – verbunden. Auch auf Finanzmärkten gibt es interessante Kombinationen aus dem Lob des freien Marktes und der Etablierung von Monopolen, etwa wenn Börsenhändler nach innen harte Konkurrenz beim Kauf und Verkauf von Wertpapieren pflegen, gleichzeitig aber fixe Kommissionen von Dritten verlangen, die Kauf- und Verkaufaufträge über sie abwickeln – wenn die Börse sich mithin als Kartell von Börsenhändlern gegenüber Nicht-Börsenmitgliedern konstituiert (Abolafia 1996: 55 f.; MacKenzie 2006: 166 ff.). Man kann auch sagen: Es herrscht dann freie Konkurrenz nur auf dem Markt für Wertpapiere, nicht aber auf dem Markt für Finanzdienstleistungen – zwei Märkte, die im Zuge von Abgrenzungs- und Definitionsprozessen erst aufgedröselt und voneinander getrennt werden mussten.

  28. 28.

    Und selbst wenn die Idee des perfekten Marktes nach neoklassischem Idealmodell – mit Walras’schem Auktionator, der Angebot und Nachfrage gegeneinander abgleicht – als Blaupause für die Einrichtung eines realen Marktes und Marktgebäudes dient, hier eines südfranzösischen Erdbeerauktionshauses, wird das Arrangement durch die beteiligen Akteure sofort wieder auf eigene Vor- oder Nachteile hin durchleuchtet und gedreht. Der Markt operiert in der Praxis nicht so, wie er es dem Modell nach sollte, vielmehr gibt es Absprachen und andere Abweichungen vonseiten sowohl der Anbieter, der Erdbeerbauern, als auch der Nachfrager, der Großhändler (Garcia-Parpet 2007).

  29. 29.

    Im ersten Fall geht es dann noch nicht um Marktbildung, sondern „nur“ um die monetäre Bewertung von ökologischen Schätzen oder Schäden. Diese Bewertung findet nicht auf Märkten, sondern etwa in Gerichtsverfahren statt, wo über zu zahlende Entschädigungen entschieden wird. Der Wert eines zerstörten Biotops kann dabei sehr unterschiedlich beziffert werden, in Abhängigkeit etwa von der Frage, ob Rechtsansprüche im Rahmen des Wirtschaftsrechts oder des Seerechts geltend gemacht werden, oder in Abhängigkeit von der Frage, ob Natur traditionell als Kollektivgut und gemeinsam zu nutzende Ressource verstanden wird oder aber als Wildnis und anzueignendes Eigentum (Thévenot/Moody/Lafaye 2000; Fourcade 2011).

  30. 30.

    Aber auch profanere Formen geistigen Eigentums wie Formeln, Algorithmen und Aktienindizes können komplizierte Fragen mit Blick auf die Exklusivität von Eigentum und die Möglichkeit marktlicher Verwertung aufwerfen. So stellt sich etwa die Frage, ob der Dow Jones, der wichtigste Aktienindex der New Yorker Börse, dieser Börse „gehört“, sodass die aktuellen Preisdaten deren Privateigentum sind und für externe Bekanntgabe und Verwendung gesperrt werden dürfen, oder ob diese Daten öffentlich verfügbares Wissen sind, das auch an anderen Orten – anderen Börsen oder börsenähnlichen Handelsplätzen – als Grundlage für den Handel mit Aktienoptionen und Aktienfutures benutzt werden darf (Abolafia 1996: 56 ff.; MacKenzie 2006: 170 ff.). In diesem Zusammenhang wird der interessante Fall eines Teilnehmers berichtet, der sich durch Zahlung eines Preises für ein vordem öffentlich verfügbares Gut die exklusiven Nutzungsrechte dafür sicherte: Der Chef der Chicagoer Terminbörse wollte Futures auf den Börsenindex S&P 500 anbieten und fragte bei Standard & Poors an, ob er dies gegen Zahlung einer Gebühr dürfe. Der Präsident von S&P fragte ungläubig zurück: „You want to pay me for something we’re giving away for free?“. Im Endeffekt war dies jedoch ein guter Deal, da er sich damit für längere Zeit das exklusive Recht sicherte, Futures auf diesen wichtigen Index zu handeln (MacKenzie 2006: 170 ff.).

  31. 31.

    Alle sozialen Ordnungsinstrumente gründen letztlich in der Notwendigkeit der Komplexitätsreduktion. Der Letztgrund der Geltung von Normen ist nicht deren Richtigkeit oder Begründetheit, sondern die Unmöglichkeit, fallweise und momenthaft die Erwartungen und Erwartungserwartungen der Beteiligten aufeinander abzustimmen (Luhmann 1972: 38 f.). Der Letztgrund des Erweises von Vertrauen ist nicht die Vertrauenswürdigkeit des Adressaten, sondern die Unmöglichkeit, mit einer offenen, möglichkeitsreichen Zukunft anders als im Modus des ungerechtfertigten Überziehens von Informationen zurechtzukommen (Luhmann 1989: 26 ff.).

  32. 32.

    Härte heißt: Man kann mit ihnen zusammenstoßen und sich daran wehtun. Ein Beispiel dafür wäre die oben angesprochene Situation, dass Wissenschaftssoziologen sich als Zeugen oder Experten in einem Gerichtsverfahren wiederfinden und dann den strukturellen und situativen Zwängen des Rechtssystems ausgesetzt sind (Lynch/Cole 2005). Die operative Härte der Grenze zu den Massenmedien kann jeder Wissenschaftler leicht dadurch am eigenen Leib erfahren, dass er sich zu einem Radio- oder Fernsehinterview bereit erklärt und sich dem Zwang des minutengetakteten Sprechens unterwirft.

  33. 33.

    „In gewissem Sinne beruht demnach alle Struktur auf Täuschung – auf Täuschung über die wahre Komplexität der Welt“, schreibt Luhmann (1970d: 120). (Vgl. Luhmann 1984: 390 f.; vgl. auch Knight 1921: 205 ff.).

  34. 34.

    Luhmann illustriert dies am Beispiel von Grenzen der Gesellschaft im Ganzen. Gesellschaft ist alles, was Kommunikation ist; aber dafür ist es nicht notwendig, dass in einem absoluten Sinn und für einen Außenbeobachten fraglos eindeutig festgelegt ist, was nun Kommunikation ist und was nicht – ob das Bellen von Hunden, der Flug von Vögeln, das Augenverdrehen von Komapatienten oder misslaunigen Familienmitgliedern darunter fällt oder nicht. Vielmehr genügt es, wenn diese Fragen in der Kommunikation selbst geklärt werden können – wenn „das Gesellschaftssystem […] durch Kommunikation entscheiden kann, ob etwas Kommunikation ist oder nicht“ (Luhmann 1984: 54).

  35. 35.

    Im Wechselverhältnis verschiedener Seiten fallen (Selbst-)Beschränkung und Freisetzung zusammen: „Freiräume entstehen zunächst durch die Tendenz zur Selbstrestriktion, die dem Prozeß der Ausdifferenzierung eines jeden der gesellschaftlichen Funktionssysteme […] eigen ist. Selbstrestriktion heißt, daß zunehmend die Umwelt nur noch in sehr spezifischen, durch den Bezug auf die eigene Funktion bestimmten Hinsichten interessiert und damit Indifferenz die Regel wird. Diese Indifferenz wird andernorts als Freiheit erfahren und als Gelegenheit zur Ausgrenzung der eigenen Funktion.“ (Stichweh 1984: 42).

  36. 36.

    An der Verbreitung der Kreuzworträtselvariante oder Erstsemestervariante ist Luhmann indes nicht ganz unschuldig, da er in der Tat deutlich mehr Wert auf das Ausbuchstabieren systeminterner Logiken und Prozesse gelegt hat als auf das Nachzeichnen von Zwischen-System-Beziehungen. Das ist zwar mehr eine Frage der Blicksteuerung als eine Frage des Prinzips, ist aber gemessen an der Zahl der verwendeten Buchseiten doch ein drastisches Ungleichgewicht. In „Die Wissenschaft der Gesellschaft“ beispielsweise hängt Luhmann zwar anwendungsbezogene Forschung – mithin Leistungsbeziehungen zwischen Wissenschaft und anderen Funktionssystemen – einerseits sehr hochrangig auf, er rangiert sie gewissermaßen als die eine Hälfte der Wissenschaft ein, neben Grundlagenforschung, die nicht minderwertig oder sekundär sei gegenüber dieser und auf dem Reputationsmarkt und in der Reflexionstheorie zu Unrecht abgewertet werde (640 ff.). Andererseits wird das aber nur verbal postuliert und ansonsten in dem Buch nicht eingelöst. Luhmann schreibt dazu etwa zwölf Seiten (in einem Buch mit 600 Seiten) und rezipiert keine wissenschaftssoziologische Forschung zur Problematik von Anwendungsforschung und Anwendungsfeldern. In der Sekundärliteratur kann dieses Ungleichgewicht allerdings korrigiert werden, indem „Wahrheit“ und „Nützlichkeit“ von Wissenschaft, oder Funktion und Leistung, gleichrangig nebeneinandergestellt werden (Kaldewey 2013).

  37. 37.

    Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass Randall Collins von ganz anderen gesellschaftstheoretischen Voraussetzungen aus zu einer recht ähnlichen Liste von Dingen kommt, die der Käuflichkeit entzogen sind. Nach Collins ist das kapitalistische System eine „Marktgesellschaft“, („omni-market society“), die prinzipiell alles zur Ware macht, abgesehen von Folgendem: Liebe/sexuelles Eigentum; Ämter und hoheitliche Befugnisse; Menschen/Sklaven. Collins interpretiert dies als eine Art dialektische Negationsnotwendigkeit: Es handle sich um die zentralen Güter der historisch vorhergehenden Gesellschaftsformen, die deshalb in der späteren Formen einen Sonderstatus hätten. „It is striking that in modern capitalism everything is commodified except the central commodities of the previous systems. The elaborate exchanges of sexual property, which constituted the center of kinship-exchange systems, now are taboo within our own market system. […] Slavery too, once the central commodity of a large-scale system of exchange, is now very strongly prohibited. […] Also taboo have become the typical forms of superordinate structure in agrarian-coercive politics: the venality of office, the sale of military commissions, tax farming, and the like. As if the Hegelian logic of negation applies, the main form of property of previous systems becomes negated and is superseded by a later form“ (Collins 1990: 132 f.). Im Vergleich dazu wirkt der schiere Verweis auf kulturelle Kontingenz und Faktorenvielfalt, wie er im wirtschaftssoziologischen Diskurs üblich ist, doch etwas dünn: „What can be owned? Different societies give different answers, but none permits everything to be owned. The inclusion of new objects or the exclusion of old ones is a process variably shaped by political, cultural, economic, and technological factors.“ (Carruthers/Ariovich 2004: 25).

  38. 38.

    Dies ist dieselbe Argumentationslogik, mit der der Neoinstitutionalismus der Stanforder Schule die Existenz einer Strukturebene namens „Weltkultur“ begründet: Wenn ausschließlich Akteure, Interessen und lokale Bedingungen am Werk wären, wäre eine sehr viel größere Diversität in den Strukturen von Staaten rund um den Globus zu erwarten und wäre die enorme Isomorphie, die an diesem Punkt zu beobachten ist, nicht zu erklären (Thomas et al. 1987; Meyer 2005).

  39. 39.

    Auch die Dualität dieser beiden Dokumentations- und Publikationssysteme – wissenschaftliche Publikationen vs. Patente – entwickelte sich erst mit der Zeit, während in früheren Phasen andere Möglichkeiten bestanden, den hier involvierten Zielkonflikt zwischen Veröffentlichung und Geheimhaltung, zwischen der „Kommunismus“norm der Wissenschaft und der Privateigentumsnorm der Wirtschaft zu lösen. So konnten im 17. und 18. Jahrhundert Forscher ihre Ergebnisse bei Wissenschaftsakademien dokumentieren lassen, um die Priorität ihrer Entdeckung zu etablieren, ohne sie aber zu veröffentlichen. „It was common at this period for the scientist to establish his priority, whilst keeping vital knowledge secret; this could be done by the deposition of sealed notes, or publication in code, or as an anagram. One example is the deposition by Lavoisier of a sealed note with the secretary of the French Academy in 1772. His early thoughts on the nature of combustion could thus gain priority without any advantage being yielded to the rival English“ (Barnes/Dolby, R. G. A. 1970: 15).

  40. 40.

    Zur Vielfalt der historisch bekannten Formen außerehelicher Sexualität gehören etwa die Hetären des antiken Griechenland, die Orgien des antiken Rom oder die Konkubinen des frühmodernen Europa Schenk (1987). In der Jetztzeit gibt zwar immer wieder Ansätze zur „Befreiung“ der Sexualität, etwa das Konzept der offenen Beziehung aus den 1970er Jahren oder heute diskutierte Äquivalente wie Polyamorie oder „friends with benefits“ (Leupold 1983; Hughes/Morrison/Asada, Kelli Jean K. 2005; Bisson/Levine 2006). Diese führen aber eher eine Nischenexistenz und kommen gegen das dominante Konzept von romantischer Liebe-cum-Sexualität nicht an. Eher ist umgekehrt zu beobachten, dass auch im Bereich homosexueller Liebe, wo wegen der Schatten- und Szenenexistenz freie, bindungslose Sexualität lange Zeit relativ verbreitet war, mit zunehmender Normalisierung und Legalisierung auch die üblichen Beziehungsmuster und Beziehungsverläufe sich einschleifen (Giddens 1992: 50 f.).

  41. 41.

    Böhme (2004) berichtet auch den interessanten Versuch, solche Prämissen auf der Ebene von Organisationen festzulegen und bindend zu machen. Die Fachhochschule Hamburg verabschiedete 1983 einen Beschluss, sich nicht an Forschung für militärische Zwecke zu beteiligen. Der Beschluss wurde indes für nichtig erklärt mit der Begründung, er verstoße gegen das Grundrecht der Freiheit von Forschung und Lehre und sei deshalb grundgesetzwidrig.

  42. 42.

    Stichweh (2003b) formuliert die These einer U-Förmigkeit der Öffentlichkeits-Offenheit von Wissenschaft. Während im 18. Jahrhundert eben noch keine scharfe Trennung zwischen wissenschaftlicher und allgemeiner Öffentlichkeit und keine scharfe Abgrenzung gegenüber Amateuren bestand, kam es im 19. Jahrhundert zu einer verstärkten Schließung, zu einer Praktizierung von Wissenschaft im „Elfenbeinturm“, durch zunehmende Esoterik und Unverständlichkeit nach außen. Im 20. Jahrhundert wird die Esoterik zwar nicht zurückgenommen, gleichzeitig findet man aber Bemühungen um Popularisierung auf vier Ebenen: 1) innerwissenschaftlich bzw. interdisziplinär, getrieben durch die immer schärfere Disziplinendifferenzierung; 2) pädagogisch, getrieben durch die Notwendigkeit, Studenten Inhalte nahezubringen; 3) politisch, gerichtet an Geldgeber und institutionelle Unterstützer; 4) allgemein, gegenüber einer abstrakt konstituierten Öffentlichkeit, etwa durch Wissenschaftsjournalismus und populärwissenschaftliche Bücher.

  43. 43.

    Bereits eine beiläufig gegebene Liste wichtiger Kopplungsphänomene folgende Punkte: Garantie von Eigentum; Erhebung von Steuern; Regulierung von Märkten; Umgang mit Verteilungsproblemen; Abschwächung von Konjunkturzyklen; Bereitstellung von Infrastruktur; staatliche Segmentierung von Geld in Währungen; Geldpolitik (Turner 2004: 235 f.).

  44. 44.

    So sagt auch Luhmann über die staatliche Absicherung wirtschaftlicher Risiken, etwa in Form von Arbeitslosenunterstützung oder Konjunkturförderprogrammen: „Politische Abdeckung spezifisch wirtschaftlicher Risiken ist nicht zu verwechseln mit älteren Formen einer undifferenzierten Verquickung von Politik und Wirtschaft. Politische und wirtschaftliche Fragen lassen sich trennen; sie werden in unterscheidbaren Sinnhorizonten perzipiert. Gerade darauf beruht ja der Reiz und die taktische Vorteilhaftigkeit einer Problemverschiebung zwischen beiden Bereichen. Politische Risikoübernahme setzt voraus, daß Wirtschaft ausdifferenziert und zu relativ hoher Systemautonomie gelangt ist und daß wirtschaftseigene Strukturen und Prozesse Risiken steigern und ihnen eine Form geben, die sie politisch greifbar machen.“ (Luhmann 1970f: 219).

  45. 45.

    Und auch für den Kolonialismus/Imperialismus stellt sich ja die Frage, ob er sich unter dem Strich ökonomisch überhaupt gelohnt hat oder ob er nicht in Wahrheit ein riesiges Verlustgeschäft war, das im Wesentlichen als politisches Großmacht- und Prestigeprojekt verstanden werden muss (Aron 1958; Münkler 2005; Steinmetz 2005).

  46. 46.

    Luhmann formuliert: „Die Systemtheorie […] geht davon aus, daß jedes System, das sich in einer sehr komplexen Welt erhalten will, eine Vielzahl von Problemen lösen muß, die nicht allesamt zugleich optimal bewältigt werden können. Jede Problemlösung hat vielmehr ‘dysfunktionale’ Rückwirkungen auf andere Systembedürfnisse. Einem funktional spezifisch angesetzten Teilsystem kann deshalb vom Gesamtsystem aus kein unbegrenztes Wuchern, ja zumeist nicht einmal ein optimales Sicheinbalancieren auf seine Umwelt erlaubt werden, weil dadurch andere Funktionen beeinträchtigt werden würden. Man muß, mit anderen Worten, das Konvergieren funktionaler Leistungen in einem System […] als Problem und nicht als Prämisse voraussetzen.“ (Luhmann 2010: 43).

  47. 47.

    Die Auflösung des Einheitsanspruches der mittelalterlichen Welt ist überhaupt ein Kennzeichen der entstehenden Moderne. Sie drückt sich in der religiös-politisch-militärischen Sphäre auch im Zerfall territorialen Einheitsvorstellungen aus. So wurde noch während des Dreißigjährigen Krieges Europa der Idee nach als einheitlicher Herrschaftsraum begriffen, der von einer Monarchie aus zu beherrschen wäre – einer „Generalmonarchie“ oder „Universalmonarchie“ –, und diese wahrgenommene Einheit Europas war ein wichtiger Grund für den Krieg, nämlich dafür, dass die einzelnen Monarchien aneinander gerieten (Burkhardt 2000).

  48. 48.

    Nach Stichweh beginnt dieser Kontrollanspruch im Feld der entstehenden wissenschaftlichen Disziplinen mit dem Ende des 17. Jahrhunderts zu erodieren. Seit dieser Zeit erscheinen theologische Argumente den Vertretern anderer Disziplinen nicht mehr als hilfreiche Führung und Sinngebung, sondern als Hineintragen externer, wissenschaftsfremder Gesichtspunkte. Kontrollversuche vonseiten der Theologie müssen seither […] „auf entschiedenen Widerspruch rechnen, der […] trotz gelegentlicher fundamentalistischer Episoden […] nicht mehr stillgestellt werden kann […] [so] daß die Theologie, die einst als letzter Einheitsgesichtspunkt menschlichen Wissens und Wollens überzeugte, vielfach primär als Auslöser von unerwünschtem Dissens gesehen wird“ (Stichweh 1984: 52).

  49. 49.

    Das Christentum hat diese Entwicklung in den vergangenen Jahrhunderten durchgemacht; für den Islam stellt sich derzeit die Frage, ob er es ebenso kann (Zielcke 2011). Immerhin lässt sich feststellen, dass sogar islamisch-fundamentalistische Bewegungen, auch wenn sie keinen säkularen Staat akzeptieren, so doch die Früchte der modernen Wissenschaft und Technologie gerne entgegennehmen, etwa Militärtechnologie und Telekommunikation. Sie sind insofern keineswegs reine Traditionalisten, sondern Ausdruck einer „halbierten Moderne“ (Lawrence 1989; Tibi 2002; Riesebrodt 2004).

  50. 50.

    Mit Richard Münch (1980) könnte man auch von der Sprengung von Summenkonstanzverhältnissen oder „Limitationalitäten“ im Verhältnis zwischen Teilsystemen sprechen. Er schreibt: „Interpenetration ist eine besondere Form der Beziehung zwischen Subsystemen […], durch welche die Grenzen der Entfaltung eines Subsystems überschritten werden, die sonst durch die Entfaltung anderer Subsysteme gesetzt würden. Die Interpenetration von Gemeinschaft und Wirtschaft ermöglicht die Ausdehnung der Solidarität und die Ausbreitung der ökonomischen Rationalität zugleich, ohne dass das eine zu Lasten des anderen ginge. Das Handeln kann in diesem Sinn zugleich moralischer, solidarischer und ökonomisch rationaler werden“. (ebd.: 38 f.).

  51. 51.

    Dasselbe gilt im Übrigen für Entschädigungszahlungen für erlittene Gesundheitsschäden, die ebenfalls enorme Höhe erreichen können – wieder gerade wegen der Inkommensurabilität, wegen des unersetzlichen Werts der Gesundheit, der dann doch in Kompensationssummen übersetzt wird.

  52. 52.

    Hier die Zusammenfassung in Zelizers Worten: „The pricing of the twentieth-century economically worthless child is thus a test case of the ‘sacralization effect’ of values as a counterpart to the ‘commercialization effect’ of money. It shows the reduction of the most precious and intangible values to their money equivalent, but it also demonstrates how economic rationality and the quantification process are themselves modified.“ (Zelizer 1985: 212).

  53. 53.

    Manche Beobachter, etwa die schottischen Aufklärer, hatten dies allerdings schon um 1800 gesagt. Ihre Auffassung (die eine heutige soziologische Analyse bestätigen würde) war, dass persönliche Freundschaften als nur auf Sympathie gegründete Beziehungen sich gerade als die andere Seite der Geldwirtschaft ausbilden könnten, weil diese zu einer scharfen Separierung der Typen persönlich/unpersönlich zwinge. Die Marktwirtschaft setze zwischenmenschliche Verhältnisse aus der traditionellen Alternative von Freund und Feind frei, mache eine neutrale Position des Gegenübers denkbar und schaffe damit erst den Freiraum für eine aus freien Stücken eingegangene, nur auf Sympathie basierte und von praktischen Notwendigkeiten befreite Beziehungen (Silver 1990).

  54. 54.

    In tauschtheoretischer Terminologie kann man auch sagen: Es gibt ökonomischen Tausch und es gibt sozialen Tausch; beides kann, wenn man so will, als nutzenorientiert und quid-pro-quo-orientiert dargestellt werden, es ist aber doch nicht dasselbe (Blau 1968; Priddat 2013). Dies gilt jedenfalls für Gesellschaften, die keine Mangelgesellschaften sind, während in letzteren Freundschaften oder „Beziehungen“ immer auch mit praktischen Unterstützungs- und Beschaffungsleistungen verwoben sind – mit fließenden Übergängen zu Korruption – und beides nicht klar voneinander zu trennen ist (Lomnitz 1988; Ledeneva 1997, 1998).

  55. 55.

    Diese Zwischen-System-Grenze ist oben unter dem Gesichtspunkt von engen Kopplungen oder Leistungsbeziehungen schon vorgekommen (Abschn. 2.6). Sie ist aber gleichzeitig auch eine Grenze mit großen Rivalitäts- und Kollisionspotenzialen, da es ja eine kritische Frage ist, wer in welchem Maß über die Verteilung von geschätzten Dingen, Gütern, Lebenschancen bestimmt. Vermutlich hat die besondere Problematizität gerade dieser Grenzstelle u. a. damit zu tun, dass hier diese beiden Modi von Zwischen-System-Beziehungen gleichzeitig involviert sind, in unübersichtlichen Misch- und Überlagerungsverhältnissen.

  56. 56.

    Polanyi schreibt: „The road to the free market was opened and kept open by an enormous increase in continuous, centrally organized and controlled interventionism. […] Just as, contrary to expectation, the invention of labor-saving machinery had not diminished but actually increased the uses of human labor, the introduction of free markets, far from doing away with the need for control, regulation, and intervention, enormously increased their range.“ (Polanyi 1944: 146 f.) Dieses Doppelwachstum überwindet die vorherrschende Wahrnehmung, als Zeitgenossen aus ersten, fehlgeschlagenen Experimenten mit Lohnzuschüssen für Arbeiter (in Großbritannien um 1800) geschlossen hätten, die Institution des Arbeitsmarktes und das Prinzip staatlicher Existenzsicherung seien prinzipiell inkompatibel (ebd.: 84 ff.). – Donald MacKenzie sagt in praktisch identischer Weise über amerikanische Finanzmärkte um das Jahr 2000, diese seien gleichzeitig mit die „freiesten“, nämlich am stärksten deregulierten, und die am stärksten regulierten Märkte, die er kenne: „It is tempting to think of states and markets as somehow opposed, and to conceive of the changes in the global financial system since the early 1970s as ‘deregulation’, the withdrawal of the state. This is a view that cannot survive serious study of the regulation of financial markets. The modern American financial markets are almost certainly the most highly regulated markets in history, if regulation is measured by volume (number of pages) of rules, probably also if measured by extent of surveillance, and possibly even by vigor of enforcement.“ (MacKenzie 2005b: 569).

  57. 57.

    „Polanyi writes that, when it comes to processes of commodification, ‘The rate of change is often of no less importance than the direction of change itself’ […]. In other words, the market is most destructive when it causes changes in society more quickly than society can re-embed the market in social relations.“ (Reich 2014: 1621).

  58. 58.

    Hierzu nur ein unmissverständliches Statement von Luhmann: „Die Theorie behandelt eine freischwebend konsolidierte Realität, ein sich selbst gründendes Unternehmen […] Sie kann die Haltbarkeit sozialer Ordnung weder auf Natur gründen noch auf apriori geltende Normen oder Werte.“ (Luhmann 1984: 173).

  59. 59.

    Luhmann schreibt hierzu (1990a: 66): „Oft geht man ungeprüft davon aus, daß höhere Selektivität im Sinne eines Ausschließens von mehr anderen Möglichkeiten höhere Willkür oder Beliebigkeit der Selektion bedeute. Das Gegenteil trifft zu. Je schärfer (informationsreicher) die Selektion, desto geringer die Beliebigkeit; denn desto unwahrscheinlicher wird die Chance, überhaupt noch stabile Formen zu finden. Man darf sich nicht durch die Gewohnheit täuschen lassen, Selektion als Handlung und damit als Effekt eines Willens zu denken. […] Komplexe Systeme sind […] immanent historische, durch ihre eigene Selektionsgeschichte konditionierte Systeme. Sie bewähren sich in dem Maße, als sie Freiheitsgrade für weitere Selektion seligieren.“

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Kuchler, B. (2019). Grenzen und Entgrenzungen. In: Die soziale Seite an Wirtschaft und Wissenschaft. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-23104-0_2

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