Zusammenfassung
Der Beitrag geht der Frage nach, unter welchen Bedingungen gemeinschaftliches Wohnen einen Beitrag zur Sozialintegration leistet und damit Teil einer umfassenden Sozialpolitik wird. Das Augenmerk zielt auf die qualitativen Aspekte der Wohnversorgung und die Beurteilung des Mehrwerts gemeinschaftlicher Siedlungsstrukturen für die Gesellschaft durch Freisetzung zivilgesellschaftlicher Ressourcen. Ausgehend von der historischen Entwicklung des Gemeinschaftsbegriffs wird seine Zweipoligkeit zwischen – meist ökonomisch begründetem – Zwang und zivilgesellschaftlichem Wille zur Vergemeinschaftung dargelegt. Beide Elemente finden sich in den beiden Hauptströmungen gemeinschaftlicher Wohnformen – der wohnreformerischen Genossenschaftsbewegung und sozialutopischen Wohnvorstellungen – wieder. Exemplarisch werden die Chancen und Grenzen gemeinschaftlichen Wohnens im Spannungsfeld von Autonomie und Autarkie an zwei zeitgenössischen Wohnsiedlungen aufgezeigt und ihr sozialpolitisches Potenzial diskutiert.
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Notes
- 1.
Vgl. das Konzept „Intimität auf Abstand“, das in den sechziger Jahren von Leopold Rosenmayr entwickelt wurde. Es bezieht sich auf die Beziehungen zwischen den Generationen im Alter, lässt sich jedoch auch auf andere Sozialgefüge anwenden und trifft den Kern des privaten Wohnens heute.
- 2.
Eine synoptische Darstellung zu geteiltem Wohnen findet sich bei Schmid (2017).
- 3.
Von den rund 6000 ABZ-Mitgliedern, welche die größte Wohnbaugenossenschaft in den 1920er Jahren in der Schweiz hatte, kam nur etwa jeder zehnte Haushalt in den Genuss einer Genossenschaftswohnung (vgl. Allgemeine Baugenossenschaft Zürich 2016). Die Idee zur Überwindung von Wohnungsnot war zu Beginn demnach viel bedeutsamer als die tatsächliche Linderung der Wohnungsnot durch die Wohnungsproduktion.
- 4.
Um 1950 verdoppelte sich die Zahl der neuerstellten Wohneinheiten von ca. 10.000 auf ca. 20.000 pro Jahr und schnellte bis 1973 auf jährlich über 60.000 Einheiten. Parallel zum wachsenden Bauboom verringerte sich jedoch der Anteil Wohnungen im gemeinnützigen Wohnungsbau von 37 % und sank auf unter 10 % (Historische Statistik der Schweiz HSSO 2012. Tab. R. 20a. https://hsso.ch/2012/r/20a und eigene Berechnung. Zugegriffen: 31.07.2018).
- 5.
Zum Beispiel haben „bewegte“ Frauen mit zahlreichen Projekten explizit „Frauenräume“ geschaffen (Sieck 2014).
- 6.
Z. B. Gründung der Wogeno 1981 und Kraftwerk 1 1995 in Zürich.
- 7.
Obschon der genossenschaftliche Wohnungsbau in den 2000er-Jahren wieder mehr Auftrieb erhielt, bleibt das Angebot der Genossenschaften weit unter der Nachfrage und beträgt gesamtschweizerisch knapp 3 %, wobei der Anteil Genossenschaftswohnungen in großen und mittelgroßen Städten deutlich höher ist und bis zu 15,5 % in Zürich beträgt (Quelle: Bundesamt für Statistik 2018 aus der Strukturerhebung und der Gebäude- und Wohnungsstatistik).
- 8.
Seit einigen Jahren versucht die Stadt Zürich mit einer gut dotierten Stiftung Stiftung PWG zur Erhaltung von preisgünstigen Wohn- und Gewerberäumen (https://www.pwg.ch/. Zugegriffen: 18.07.2018) gegen den überhitzten Wohnungsmarkt anzutreten. Die Subventionierung des genossenschaftlichen Wohnungsbaus ist ein weiterer Pfeiler in der kommunalen Wohnungspolitik.
- 9.
Seit 2009 kennt Frankreich ein entsprechendes Gesetz, hinkt aber in der Wohnversorgung ebenfalls hinterher. Vereinzelt sind jedoch kommunale Anstrengungen erfolgreich.
- 10.
HLM steht für habitation à loyer modéré – also für den sozialen Wohnungsbau, siehe Bourdieu (1997, S. 141 ff.).
- 11.
Ein berühmtes historisches Beispiel dafür ist die Gemeinschaft auf dem Monte Verità zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
- 12.
An der 2000-Watt-Gesellschaft richten sich die Mehrheit der Kantone in der Schweiz und einzelne Städte wie Basel und Zürich aus, um energiepolitische Aktivitäten zu bündeln. Zu den Eckwerten der 2000-Watt-Gesellschaft siehe http://www.2000watt.ch/die-2000-watt-gesellschaft/facts-figures/. Zugegriffen: 19.07.2018.
- 13.
Beide Siedlungen wurden in Publikationen, Ausstellungen und im Internet dokumentiert. Da sie je über eine eigene informative Website „mehr als wohnen“ (https://www.mehralswohnen.ch/. Zugegriffen: 19.07.2018) und „Die Kalkbreite – ein neues Stück Stadt“ (https://www.kalkbreite.net/projekt/konzept. Zugegriffen: 19. Juli 2018) verfügen, verzichte ich auf eine ausführliche Beschreibung und Bildmaterial.
- 14.
Da sich der Beitrag auf die sozialen Aspekte der Siedlungen konzentriert, wird weder auf architektonische und bauliche Aspekte (z. B. Wohnungstypen, Gemeinschaftsräume), noch auf energetische und andere technische Maßnahmen zur möglichst hohen Umweltgerechtigkeit eingegangen.
- 15.
Laut Reglement muss jedes Haus mindestens einmal im Jahr eine Versammlung der Hausgemeinschaft organisieren, deren Durchführung im Jahresbericht jeweils erwähnt wird.
- 16.
Alle Zahlen stammen aus dem Bericht zur Erstvermietung von Raumdaten 2015.
- 17.
- 18.
Vgl. Protokolle zur jährlichen Generalversammlung und Medienmitteilung vom 23.05.2018 https://www.mehralswohnen.ch/fileadmin/downloads/Medienmitteilungen/180523_mehr_als_wohnen_medienmitteilung_statistik.pdf. Zugegriffen: 19.07.2018.
- 19.
Grundsätzlich ist der Hofbereich, der gleichzeitig Erschließung zu privaten und kollektiv genutzten Räumen gemeinsamer Aufenthalts- und Begegnungsort ist und dem Quartier als öffentlicher Raum dient, für alle offen. „Fehlende“ architektonische oder ordnungsschaffende Abgrenzungen wurden durch informelle Grenzziehungen wie Kordeln, Pappschilder, die auf Privatheit hinweisen etc., ersetzt.
- 20.
(Vgl. https://www.mehralswohnen.ch/fileadmin/downloads/Wissenschaftliche_Begleitung/FHNW_fleXibles_Quartierwaehrung_Broschuere.pdf. Zugegriffen: 19. Juli 2018).
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Baumgartner, A.D. (2019). Zwischen Autonomie und Autarkie: Gemeinschaftliches Wohnen als sozialintegratives Potenzial. In: Baumgartner, A., Fux, B. (eds) Sozialstaat unter Zugzwang?. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-22444-8_6
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