Zusammenfassung
Ausgehend von der Beobachtung, dass die Theorie und Empirie der Wohlfahrtsstaats- und Sozialpolitikforschung auf die Praxis der Sozialpolitik keinerlei Einfluss zu haben scheint, wird hier auf der Grundlage von Max Webers Nachweis einer systematischen Verbindung der Soziologie mit Sozialpolitik vorgeschlagen, Wertideen und einem rationalistischen Gesellschaftsverständnis wieder mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Für sein Verständnis der modernen Gesellschaft als autonom gestalteter Ordnung orientierte sich Weber an Friedrich Nietzsche und Karl Marx. Sinn und Zweck seiner Soziologie ist letztlich die Aufklärung der Bürger über die Eigenart ihrer sozialen Ordnung, um sie in die Lage zu versetzen, auf der Basis wissenschaftlicher Kenntnisse die gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Existenz gestalten zu können.
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Notes
- 1.
Max Weber zu einem Studenten nach einer Diskussion mit Oswald Spengler im Februar 1920 (Baumgarten 1964, S. 554 f.).
- 2.
Der Gesellschafts-Wissenschaft könnten keine Ideal entnommen werden, als fester Maßstab für Ordnungen und Institutionen – „Wir sind Experimente“ schreibt Nietzsche auch in der Morgenröthe (1881/1999f, [Nr. 453]). Und der Soziologie seiner Zeit, mit ihrem Anspruch, eine positive oder Erfahrungswissenschaft zu sein, wirft Nietzsche vor, „dass sie nur das Verfalls-Gebilde der Societät aus Erfahrung kennt und unvermeidlich die eigenen Verfalls-Instinkte als Norm des soziologischen Urteils nimmt“ (1956, S. 786).
- 3.
Für Weber geht es bei seiner Beschäftigung mit „Wertungen“ nicht um ein billiges und letztlich unverantwortliches bloßes Reden, sondern um etwas, was ein Handeln vorbereitet. Mit „Wertung“ meint er ein „praktisches Bewerten einer durch unser Handeln beeinflussbare Erscheinung als verwerflich oder billigenswert“ (Weber 1982c [1917], S. 489 – eine Hervorh., ER).
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- 5.
Vgl. Slobodian (2018) für die die ideenpolitische Rekonstruktion des Weiterwirkens dieser Idee bei der Gestaltung der Globalisierung seit 1989.
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Nietzsche kann dem Sozialismus auch eine wichtige gesellschaftspolitische Funktion zuschreiben. Im Herbst 1877 notiert er: „Das Beste, was der Socialismus mit sich bringt, ist die Erregung, die er den weitesten Kreisen mittheilt: er unterhält die Menschen und bringt in die niedersten Schichten eine Art von praktisch-philosophischem Gespräch. Insofern ist er eine Kraftquelle des Geistes“ (Nietzsche 1999 [1875–79], S. 483 [25, 1]).
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Mit diesen drei Reaktionsweisen auf die Gegenwart hat Nietzsche Hirschmans berühmte Differenzierung von „Exit“, „Voice“ und „Loyality“ vorweggenommen (Hirschman 1970).
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Für Weber ist „[e]ine wesentliche Komponente der ‚Rationalisierung‘ des Handeln […] der Ersatz der inneren Einfügung in eingelebte Sitte durch die planmäßige Anpassung an Interessenlagen“ (1980d [1921a], S. 15). Für das Verständnis dieses Satzes ist der Hinweis wichtig, dass Weber mit „Interessenlage“ sowohl „materielle“ wie auch „ideelle“ Interessen meint. In der Einleitung zur „Wirtschaftsethik der Weltreligionen“ hat Weber die berühmte Feststellung getroffen: „Interessen (materielle und ideelle), nicht: Ideen, beherrschen unmittelbar das Handeln der Menschen. Aber: die ‚Weltbilder‘, welche durch ‚Ideen‘ geschaffen wurden, haben sehr oft als Weichensteller die Bahnen bestimmt, in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegte“ (1980e [1921b], S. 252).
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- 11.
Als Beispiel für die vollständige Ausschaltung von allem, was nach persönlich-idealistischen Motiven in der Gestaltung einer neuen Sozialpolitik aussieht, kann die sich als „Denkschrift“ verstehende Publikation von Busemeyer et al. (2013) gelten. Dieses Buch versammelt alles, was in der bundesdeutschen Sozialpolitikforschung Rang und Namen hat, und gibt in 15 nicht namentlich verantworteten Kapiteln einen Überblick zu „vielversprechenden Forschungsthemen und Analyseperspektiven“ (S. 10). In welchem Zusammenhang die „Forschung“ zu der im Titel der „Denkschrift“ stehende „Wohlfahrtsstaatspolitik im 21. Jahrhundert“ aussieht, wird nicht ersichtlich.
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Bereits in seiner Freiburger Antrittsvorlesung hatte sich Weber gegen einen an Darwin orientierten „Naturalismus“ in der Nationalökonomie gewandt: „Ein Fehler der meisten, von naturwissenschaftlicher Seite gelieferten Beiträge zur Beleuchtung der Fragen unserer Wissenschaft [der Nationalökonomie] liegt in dem verfehlten Ehrgeiz, vor allen Dingen den Sozialismus ‚widerlegen‘ zu wollen. Im Eifer dieses Zweckes wird aus der vermeintlich ‚naturwissenschaftlichen Theorie‘ der Gesellschaftsordnung unwillkürlich eine Apologie derselben“ (1980a [1895], S. 9).
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Für eine Zusammenstellung der verschiedenen Ansätze und Begründungen eines Bedingungslosen Grundeinkommens vgl. Kovce (2017). Für stärker soziologisch orientierte Darstellungen vgl. Lessenich (2009) und Spannagel (2015), für die marktliberale Gegenposition Ernste (2008). Für eine historische Fallstudie der Fast-Verwirklichung eines „Garantierten“ Grundeinkommens in den USA vgl. Steensland (2008). Die fast schon apokalyptische Zeichnung der Folgen der industriewirtschaftlichen Automatisierung und Roboterisierung für den Arbeitsmarkt gibt dem Bedingungslosen Grundeinkommen den Anschein einer alternativlosen Lösung der Probleme umfassender „Freisetzungen“ von Arbeit (Harari 2018).
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Nietzsche war im Übrigen nicht der Meinung, dass der Sozialismus etwas an der „Sicherheit-durch-Arbeit-Gesellschaft“ ändern würde: „In den Ländern der gebändigten Menschen giebt es immer noch genug von den rückständigen und ungebändigten: augenblicklich sammeln sie sich in den socialistischen Lagern mehr als irgendwo anders. Sollte es dazu kommen, dass diese einmal Gesetze geben, so kann man darauf rechnen, dass sie sich an eine eiserne Kette legen und furchtbare Disciplin üben werden: – sie kennen sich! Und sie werden diese Gesetze aushalten, im Bewusstsein, dass sie selber dieselben gegeben haben […]“ (Nietzsche 1999f [1881], S. 159 f. [Nr. 184]).
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