Zusammenfassung
Am Beispiel des erzwungenen vorzeitigen Rückzugs aus der Arbeitswelt wird gezeigt, wie das Steuerungssystem von politischen Kräften im Verbund mit korporatistischen Strukturen versagt. Davon betroffen ist eine wachsende Zahl älterer Erwerbspersonen, die einmal arbeitslos geworden stellenlos bleiben, obwohl sie erwerbsfähig sind, über genügend Bildungskapital verfügen und sich an Arbeit orientieren. Die Gründe für den vorzeitigen Rückzug liegen in institutionellen Schließungsprozessen und strukturellen Veränderungen des Arbeitsmarkts, welche zu Chancenungleichheit führen. Da neuerdings weder Alter noch gute Bildung vor Arbeitslosigkeit schützen und älteren Erwerbspersonen der Rückzug über eine sozialversicherungsrechtliche Absicherung systematisch versperrt wird, verbleiben sie bis zu ihrer Pensionierung – und oft darüber hinaus – außerhalb von gesicherten Arbeitsverhältnissen in einer instabilen, prekären Lage. Trotzdem fokussieren staatliche und sozialpartnerschaftliche Akteure hauptsächlich auf das Individuum als alleinverantwortlich für seine Erwerbsfähigkeit und Reintegration, während der institutionelle Wandel und die strukturellen Veränderungen des Arbeitsmarkts weitgehend unbeachtet bleiben. Der Mangel an Problembewusstsein im Verbund mit divergierenden Interessen verstellt den Blick auf die neue Risikolage und führt dazu, dass der Staat der Verarmung von Teilen der Mittelschicht an der Grenze zur Pensionierung Vorschub leistet.
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- 1.
Zahlreiche Reportagen weisen in Porträts von Betroffenen auf die zunehmende Prekarisierung in der Arbeitswelt, problematische Arbeitsbedingungen sowie mangelnde soziale Verantwortung von Arbeitgebenden hin.
- 2.
Registrierte Arbeitslose umfassen alle bei einem regionalen Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) gemeldeten Personen, die keine Stelle haben und sofort vermittelbar sind.
- 3.
Vgl. Credit Suisse (2017) https://www.gfsbern.ch/de-ch/Detail/cs-sorgenbarometer-2017-altersvorsorge-wird-zur-topsorge. Zugegriffen: 17. August 2018.
- 4.
Während Sheldon (2010) die Arbeitslosigkeit in der Schweiz zwischen 1974–2010 noch einer Phase zuordnete, legt es eine differenzierte Betrachtung nahe, die Zeit von 1974–2017 in vier Phasen aufzugliedern.
- 5.
Alle Zahlen beziehen sich auf die veröffentlichte Arbeitslosenstatistik des Staatssekretariats für Wirtschaft. Für die Zeit vor 1977 geht Weber (2001) von einer Unterschätzung der Arbeitslosigkeit aus, weil zuvor keine obligatorische Arbeitslosenversicherung bestand.
- 6.
- 7.
Die Konferenzen der Kantonalen Volkswirtschafts- und Sozialdirektor_innen empfahlen 2001 eine interinstitutionelle Zusammenarbeit (IIZ) aufzubauen. Durch koordinierte Anstrengungen aller involvierter Institutionen sollte das bestehende Optimierungs- und Koordinationspotenzial der Vollzugstellen genutzt werden mit dem Ziel, den wirtschaftlichen und sozialen Ausschluss einer stetig wachsenden Zahl Menschen durch eine rasche und nachhaltige Reintegration in den ersten Arbeitsmarkt zu verhindern. In der Folge wurde zwischen 2001 und 2005 eine Reihe kantonaler Projekte und Aktivitäten zur Verbesserung der interinstitutionellen Zusammenarbeit initiiert. Auf nationaler Ebene wurden Verbände aktiv und unter Beteiligung der Kantonsregierungen und der Vollzugsorgane der verschiedenen Versicherungen werden die Maßnahmen regelmäßig überprüft (vgl. http://www.iiz.ch/dynasite.cfm?dsmid=104721. Zugegriffen: 22. August 2018).
- 8.
Der jährliche Zuwachs an Aussteuerungen beträgt nach revisionsbedingten Ausschlägen um 2011 im Mittel 4,5 %. Im April 2011 trat die 4. AVIG-Revision in Kraft, welche die Dauer der Bezugsmöglichkeit begrenzte und die Anspruchsvoraussetzungen erhöhte.
- 9.
Die Arbeitslosenstatistik erfasst nur die bei einer regionalen Arbeitsvermittlung registrierten Arbeitslosen (und Stellensuchenden). Sobald eine Person ausgesteuert wird, ist sie ab dem Zeitpunkt der Abmeldung nicht mehr in der Arbeitslosenstatistik des SECO enthalten. Da die Abmeldung formlos erfolgt und die monetären Leistungen eingestellt werden, bleiben die wenigsten Personen nach der Aussteuerung registriert. Im Mai 2018 haben 18 % der Ausgesteuerten sich dafür entschieden, weiterhin registriert zu bleiben (SECO 2018c, S. 25).
- 10.
Zwei Anläufe benötigte die 4. Revision, die an der Einführung eines vereinfachten Rentenmodells scheiterte. Ebenfalls erlitt der zweite Teil der 6. IV-Revision Schiffbruch, sodass der aktuelle Stand des Bundesgesetzes über die IV dem Stand der Vorlage 6a entspricht, die 2012 in Kraft trat.
- 11.
Das Bundesamt für Sozialversicherungen begleitet die IV-Revisionen und evaluiert die ergriffenen Maßnahmen. Mittlerweile liegen zwei Syntheseberichte zu den IV-Forschungsprogrammen und zahlreiche Studien vor (siehe https://www.bsv.admin.ch/bsv/de/home/publikationen-und-service/forschung/forschungsbereiche/forschungsprogramme-zur-invalidenversicherung--fop-iv-.html. Zugegriffen: 26. August 2018).
- 12.
Das Freizügigkeitsabkommen der Schweiz mit der EU/EFTA gewährt Personen aus diesem Raum seit dem Jahr 2002 erleichterten Zugang zum schweizerischen Arbeitsmarkt. Seit 2007 gilt die volle Freizügigkeit für EU15. Seither wurde die Freizügigkeit sukzessive auf weitere Mitgliedstaaten der EU ausgedehnt.
- 13.
Berücksichtigt wurden alternativ sämtliche Herkunftsländer, alle Nachbarländer, zu denen Deutschland, Frankreich, Italien, Österreich und das Fürstentum Liechtenstein zählen, sowie die Haupteinwanderungsländer Spanien und Portugal.
- 14.
Verwendet werden Arbeitslosenzahl und -quote, Jugendarbeitslosenzahl und -quote, Arbeitslosenzahl und -quote 50+ sowie Anzahl Langzeitarbeitslose und Stellensuchende und die Zahl der gemeldeten offenen Stellen.
- 15.
Da bereits die heutigen über 50-Jährigen von der Bildungsexpansion profitiert haben, ist ein generelles Bildungsdefizit der Älteren von der Hand zu weisen. Die generationenbedingte Benachteiligung auf dem Arbeitsmarkt verschiebt sich daher laufend mehr ins ordentliche Pensionsalter hinein und kann somit nicht als Alterseffekt behandelt werden.
- 16.
Einarbeitungszuschüsse oder Pendler- und Wochenaufenthaltsbeiträge sind für gutqualifizierte – und meist mobile – Personen kaum von Belang. Ebenso wenig taugen Beschäftigungsprogramme für Berufserfahrene zur Reintegration, solange sie nicht zur Ausweitung des Anspruchs führen. Ein Teil der Maßnahmen greift zudem nicht, weil sich die Bedingungen für den Leistungsbezug durch die institutionellen Änderungen der 2011 in Kraft gesetzten Revision verschärft haben und die Bezugsdauer von Arbeitslosenentschädigung gekürzt wurde, sodass die Rahmenfrist von zwei Jahren nicht mehr überschritten werden darf (vgl. SECO 2018b, S. 5 f.).
- 17.
Aufgrund der Revision verschiebt sich die Aussagekraft einzelner Kennzahlen (z. B. Langzeitarbeitslosigkeit). Sie sind deshalb nicht geeignet, über den Zeitpunkt der institutionellen Veränderung hinweg miteinander verglichen zu werden.
- 18.
Der einzige nachhaltige Wirkungsfaktor, der auf die Vermeidung von Wiedereintritten erneuter Arbeitslosigkeit zielt, greift im Falle der Aussteuerung nicht, da sich diese Personen keine neue Rahmenfrist mehr erschaffen können, solange sie erwerbslos bleiben. Zudem werden Ausgesteuerte in der Regel nicht mehr statistisch erfasst.
- 19.
Vgl. https://www.seco.admin.ch/seco/de/home/seco/nsb-news.msg-id-70584.html. Zugegriffen: 3. September 2018.
- 20.
Im Frühjahr 2018 boykottierten die Betroffenenverbände eine sogenannte „Aussprache“ mit dem Wirtschaftsminister wegen fehlender Teilnahmemöglichkeiten.
- 21.
Vgl. https://www.seco.admin.ch/seco/de/home/Arbeit/Fachkraefteinitiative.html. Zugegriffen: 3. September 2018.
- 22.
Vgl. https://www.fachkraefte-schweiz.ch/de/. Zugegriffen: 3. September 2018.
- 23.
Trotz der begrenzten Aussagekraft des zweiten Monitoring-Berichts (Bundesrat 2017) wurde die Behebung des Fachkräftemangels zwischenzeitlich als politische Aufgabe etabliert und in die ordentliche Politik des Bundes überführt.
- 24.
Arbeitgeberverband https://www.arbeitgeber.ch/ueber-uns/geschichte/. Zugegriffen: 14. September 2018.
- 25.
https://www.arbeitgeber.ch/bildung/fachkraeftemangel-demografie-bleibt-die-grosse-herausforderung/. Zugegriffen: 6. November 2018.
- 26.
Dabei wird die einsetzende Verrentung der Babyboomergeneration betont, ohne gleichzeitig auf die stark besetzten Altersgruppen der 50-jährigen und älteren Erwerbspersonen auf dem Arbeitsmarkt bis 2035 hinzuweisen.
- 27.
Vgl. https://www.arbeitgeber.ch/bildung/fachkraeftemangel-demografie-bleibt-die-grosse-herausforderung/. Zugegriffen: 14. September 2018.
- 28.
Neben den Grenzgänger_innen sind auch Wochenpendler_innen gemeint, die per Fernverbindung zu Lande und zu Luft zwischen Arbeitsort und den persönlichen Nahbeziehungen pendeln.
- 29.
Gemäß der Internationalen Arbeitsorganisation ILO ist eine Person erwerbstätig, sobald sie mindestens eine Stunde pro Woche erwerbstätig ist. An dieser Definition richtet sich die Schweizerische Arbeitskräfteerhebung SAKE aus.
- 30.
Da Kapitalien aus der beruflichen Vorsorge sowie dem individuellen Alterssparen (3. Säule) einige Jahre vor der Pensionierung verfügbar sind, wird das Alterskapital zweckentfremdet, indem es dem aktuellen Lebensbedarf zugeschlagen wird.
- 31.
Für die Untersuchung wurden Administrativdaten der IV, ALV und der Sozialhilfe verknüpft (vgl. Fluder et al. 2014).
- 32.
Quelle: Sozialhilfestatistik 2011–2016 (BFS 2016).
- 33.
Der Bezug von Ergänzungsleistungen soll gekürzt werden, wenn das Vermögen zu rasch abgebaut wird. Da ältere Ausgesteuerte keine Wahl ihrer Finanzierung haben, trifft sie die Regelung im Alter besonders hart.
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