Gegenstand dieses Kapitels sind die soziologischen Dimensionen und Implikationen literarischer Formen. Geformte Sprache gibt es in der Redekunst und der Dichtkunst. Von dieser antiken Unterscheidung ausgehend, skizzieren wir die Auseinandersetzung mit Formfragen bis zur Problematisierung literarischer Formgestaltung in der Moderne. Danach fragen wir genauer nach der Form als gattungsmäßig unterschiedlich verfasster literarischer Redeweise und ihrer poetologischen und sozialen Bedeutung. Wir behandeln ästhetische Funktion und ästhetische Norm als zwei zentrale Dimensionen der Soziologie literarischer Formen und zeigen, wie die Dynamik der ästhetischen Funktion von Normen geregelt und durch Normabweichungen wiederum formbildend werden kann. Wie sich der ästhetische Wert von Literatur als objektives soziales Faktum in der Spannung zu außerästhetischen, gesellschaftlich bedeutsamen Phänomenen bestimmen lässt, ist Gegenstand des anschließenden Abschnitts. Hier geht es um die in literarischen Werken angesiedelten Beziehungen zu Idealen/Werten, zu nicht-literarischen Diskursen und Gebieten des Wissens. Wie man eine Soziologie literarischer Formen unter den Aspekten von Norm, Funktion und Wert betreiben könnte, wird am Beispiel von Elfriede Jelineks Theaterstück Bambiland gezeigt.

5.1 Entstehung und Grundlagen

Literatursoziologie kommt nicht aus ohne die Frage nach der sozialen Bedeutung literarischer Formen, denn es ist ein wesentliches Kennzeichen aller Literatur, dass es sich um geformte Sprache handelt, die sich vom alltäglichen Sprechen unterscheidet. Diese Besonderheit teilt sie in Europa seit der Antike mit der Rhetorik, das heißt der Kunst, die Sprache so zu formen, dass sie eine überzeugende Wirkung entfaltet. In den erhaltenen Schriften des Aristoteles wird die Verwandtschaft zwischen Dichtung und Redekunst hervorgehoben, nicht nur, weil dessen Schrift über die Rhetorik der über die Ästhetik am nächsten steht, sondern auch durch explizite Querverweise, die in beiden Werken zu finden sind (Fuhrmann 2003, S. 7 ff.). Die Wechselbeziehungen verdanken sich den Gebieten, in die sich beide Disziplinen teilen: der kunstvollen Sprache, dem Stil, den Weisen der Argumentation, dem kompositorischen Aufbau, der Gedankenführung, der Verwendung rhetorischer Figuren und Tropen mit ihrer mehr oder weniger standardisierten Abweichung vom gewöhnlichen Sprachgebrauch, der Befriedigung des ästhetischen Bedürfnisses, den klanglich-rhythmischen Mitteln. Der Redner allerdings findet seinen Gegenstand – politische Ereignisse, Entscheidungssituationen oder Festlichkeiten – in der Wirklichkeit vor, während der Dichter neben dieser Wirklichkeit eine andere, fiktive Welt erfindet. Wollte man das Charakteristische von Literatur aber allein in dieser ihrer Fiktionalität verdichtet sehen, wäre die Dichtung um eben jene wesentliche Dimension der geformten Sprache gebracht, die sie mit der Rhetorik verbindet.

Die von der Systematisierung der Formen der Sprache getragene Verwandtschaft zwischen Rhetorik und Dichtkunst hat bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts eine normativ orientierte Poetik getragen; danach treten Dichtung und Rhetorik zunehmend auseinander. Mit dem Aufstieg der bürgerlichen Gesellschaft schert die Poetik aus ihrer Verbindung mit Rhetorik aus, Formfragen werden zu einer Angelegenheit der Künste und in der Ästhetik abgehandelt, die sich von einer „bloßen“ Rhetorik absetzt. Prominent ausgearbeitet findet sich die Verschiebung der Formfrage bei Hegel, der die tableauartige Systematik geformter Sprache in eine historische Dynamik von Kunstformen transformiert. Wenn Hegel die „Idee des Schönen als Ideal der Kunst“ bestimmt, so gilt dies zuerst nicht für das einzelne Kunstwerk, sondern für das Gesamt der Kunstgattungen und ihre unterschiedlichen Formen, wie sie sich geschichtlich entwickelt haben. Es sind diese besonderen Formen der Künste als historische Spielarten des Ideals der Kunst, die Hegel zum Gegenstand seiner Ästhetik von der klassischen bis zur romantischen Kunstform und der Auffaltung eines Systems der einzelnen Kunstgattungen in ihrer jeweils besonderen Formgestalt macht.

Bei dieser Selbstverständlichkeit, mit der „Form“ zunächst in der poetisch-rhetorischen Tradition und dann in der philosophisch-ästhetischen Reflexion eine Rolle spielt, bleibt es nicht. Um 1900 kommt es zu einer zuvor so nicht gekannten Problematisierung von Form in den Literaturen und Literaturtheorien der Zeit, weil die Erfahrungslagen, die die Moderne mit sich bringt, den Abschied vom traditionellen Erzählen und Dichten provozieren und eine neue Sprache mit neuen Ausdrucksformen erfordern. Dass Form zum Problem wird, fällt mit der Krise der bürgerlichen Gesellschaft zusammen, die entdeckt, dass sie nicht nur eine bürgerliche, sondern zugleich auch eine Massengesellschaft ist. Ob es sich im Konzert der vielfältigen Ismen um die avantgardistische Destruktion der Form, um die poetische Läuterung zu den kristallinen Formen literarischen Ausdrucks eines l’art pour l’art etwa im Sinne Stefan Georges oder um das ekstatische Pathos expressionistischer Visionsliteratur handelt – gemeinsam ist ihnen die Problematisierung der Form, in die das literarische Sprechen gebracht werden soll, weshalb denn auch das Problem der Form und der Aufstieg der Sprache zum prominenten Reflexionsgegenstand zusammengehören (Zima 1980; Koopmann 1997; Karpenstein-Eßbach 2013a, b, S. 17–53). Ein Übriges zur Problematisierung der Form leisten der Abschied von der idealistischen Ästhetik, die ausbrechende Konkurrenz zwischen Literatur und technischen Medien (Kap. 9) und die nicht zuletzt damit im Zusammenhang stehende Entdifferenzierung und Neukonturierung der literarischen Gattungen, die für Hegel noch zu den Formen des Kunstschönen gehörten.

So sehr Formfragen insbesondere im Gebiet der Literatur beziehungsweise Literaturtheorie ihre Konjunktur um 1900 gewinnen – auch die Soziologie ist von ihnen nicht unberührt geblieben. Hierher gehört vor allem Georg Simmel mit seiner Soziologischen Ästhetik oder seinen kleinen Schriften etwa über Stefan George oder „Rodins Plastik und die Geistesrichtung der Gegenwart“, in denen die ästhetischen Formen künstlerischer Gebilde, zum Beispiel das Prinzip der symmetrischen Anordnung, parallelisiert werden mit der Struktur einer Gesellschaft und ihren sozialen Idealen, sodass eine psychologische Gemeinsamkeit zwischen diesen beiden Formen eine kulturdiagnostische Bedeutung gewinnt. Weniger kulturphilosophisch denn mehr literatursoziologisch orientiert ist der Komplex Form für den frühen Georg Lukács mit seiner Theorie des Romans und später, an Lukács anknüpfend, für Lucien Goldmann in seiner Soziologie des modernen Romans relevant geworden.

Für Goldmann ist der Roman die epische Gattung, die „durch den unüberwindlichen Bruch zwischen Held und Umwelt charakterisiert ist“ (Goldmann 1970, S. 18). Wir haben es mit einem „problematischen Helden“ zu tun, der in einer ebenfalls problematischen Umwelt auf der Suche nach „authentischen Werten“ ist – eine Suche allerdings, in der sich die „Degradation“, die Entwertung jener authentischen Werte erweist. Wenn hier von Wert die Rede ist, so ist damit nicht der „ästhetische Wert“ eines Werkes (worum es weiter unten geht) oder ein einzelner Wert wie Frieden oder Gerechtigkeit gemeint, sondern ein wesentlicher Wert in der Hinsicht, dass er anerkanntermaßen Weltbezüge und Handlungsziele überhaupt orientieren kann. Dass die Wesentlichkeit eines Wertes – nicht irgendeines speziellen Wertes –, sondern der Wert des Wertes selbst infrage steht, begründet für Goldmann die Spezifik der modernen Romanform, in der die basale ökonomische Struktur von Marktgesellschaften mit der Dominanz des Werte vergleichgültigenden Tauschwertes über den Gebrauchswert mit seinem besonderen qualitativen Charakter erkennbar wird. Es handelt sich also nicht darum, dass eine bestimmte gesellschaftlich verankerte Werteordnung – zum Beispiel die der mittelalterlichen Welt – von einer anderen – zum Beispiel der der Renaissance – abgelöst wird, die dann wiederum eine gewisse Stabilität erreicht, sondern um eine strukturelle Rangminderung qualitativer Werte überhaupt. Goldmann schreibt: „Zwischen der Struktur der Romanform (…) und der Struktur des Warentausches in der liberalen Marktwirtschaft, so wie sie von den klassischen Nationalökonomen beschrieben wurde, (besteht) eine strenge Homologie“ (Goldmann 1970, S. 26). Man könne sogar sagen, diese Entsprechung sei „so streng, daß man von einer einzigen Struktur sprechen könnte, die sich auf zwei verschiedenen Ebenen ausdrückt“ (S. 28). Angesichts dieser Verklebung von Roman- und Gesellschaftsform weist Goldmann literatursoziologische Auffassungen zurück, wonach sich dieser Zusammenhang noch im „Kollektivbewußtsein“ einer bestimmten Klasse, Schicht oder Gruppe Ausdruck verschaffe. Anders gesagt: die Fragen „Ist es das wert?“ und „Ist das etwas wert?“ stellen die Marktteilnehmer und die problematischen Helden des Romans gleichermaßen und teilen damit ein Suchen nach Werten, in das Entwertung immer schon eingeschrieben ist. Dazu gehört für den kritischen und undogmatischen Literatursoziologen Goldmann das eigentümliche Phänomen, dass diese Romanform als literarische Inkorporation von Wertungen und Entwertungen „in ihrem Wesen kritisch und oppositionell“ ist (S. 36), während sie sich zugleich – ohne uns einen positiven Helden geben zu können – genau dieser Gesellschaftsform verdankt.

Ähnlich wie bei Simmel liegt auch für Lukács und Goldmann der Fokus auf Strukturhomologien zwischen der Verfasstheit einer Gesellschaft und der ihrer Literatur, die in deren beider Form fundiert sind. Lukács wie Goldmann beschränken sich dabei allerdings ausschließlich auf den Roman, der eine besondere Affinität zu diesem Modus der Problematisierung der Form zu haben scheint, weil diese epische Gattung besonders dadurch charakterisiert ist, dass sie vom Verhältnis des Romanhelden zu seiner Umwelt, von der Gemeinschaft zwischen beiden genauso wie dem Bruch zwischen ihnen erzählt – man könnte auch sagen: das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft ist die tragende Problemzone der Romanform. Die Weise, auf die die Problematisierung der Form hier Eingang in das literatursoziologische Denken gefunden hat, lebt von ihrer gesellschaftstheoretischen Unterfütterung, das heißt von der Zentrierung um Analogien zwischen Form der Gesellschaft und Form der Literatur.

Von diesen kulturphilosophisch und gesellschaftstheoretisch fundierten Behandlungen der Formproblematik ist eine andere Frage zu unterscheiden: die nach der sozialen Bedeutung der literarischen Formen selbst, die in ihren ästhetischen Dimensionen in den Werken zum Tragen kommt – eine Frage also nach den literarisch internen gesellschaftlich bedeutsamen Aspekten geformter Sprache. Hierzu ist nun bemerkenswerter Weise in der Literatursoziologie bislang kaum etwas zu finden. Aus der Wüste der kargen Überlegungen hierzu ragen die Arbeiten des tschechischen Strukturalisten Jan Mukařovský heraus. So sehr Mukařovský die ästhetischen Dimensionen von Literatur (und Kunst) ins Zentrum rückt, so wenig insistiert er auf einer Autonomie der Künste. Ausgehend davon, dass ästhetische Erscheinungen selbst soziale Tatsachen sind, wird ein literatursoziologischer Blick auf die Formgestalten der Literatur möglich, der dann auch bei ihren Relationen zu außerästhetischen Bereichen ankommt.

5.2 Form, Funktion, Norm

Literarische Redeweisen differenzieren sich durch Formgebung, sie haben eine ästhetische Funktion, und sie sind Regeln und Normen unterworfen, an denen sich die Anordnung ihrer Elemente orientiert. Um literarische Redeweisen voneinander zu unterscheiden, kennt die Literaturwissenschaft den Begriff der Gattungen, also Lyrik, Dramatik und Epik. Zwar wird dieser Begriff wie vieles andere auch in der Literaturwissenschaft immer wieder infrage gestellt, sei es, weil Gattungslehren wegen einer ihnen innewohnenden Normativität zweifelhaft erscheinen; sei es, weil die empirische Vielfalt der Erscheinungsformen von Literatur eine solche Systematik ohnehin konterkariert; sei es, weil der Literaturbegriff von Orientierungen auf „Text“ oder „Kommunikation“ umgestellt wird. Doch das ändert nichts daran, dass selbst ein ungeübter Leser spontan in der Lage ist zu erkennen, ob es sich bei einer literarischen Redeweise um eine lyrische, dramatische oder epische handelt. Klaus Weimar hat in seiner Enzyklopädie der Literaturwissenschaft (1993) die Kennzeichen der gattungsmäßig verfassten Formen der Literatur auf eine intellektuell vergnüglich zu lesende Weise dargelegt. Die verschiedenen literarischen Gattungen haben eine poetologische und eine soziale Bedeutung. Beides ist miteinander verflochten.

Gattungsmäßig verfasste Formen lassen sich poetologisch voneinander abgrenzen, denn sie stiften qua Form eine ihnen eigene Kohärenz, indem sie bestimmte andere Möglichkeiten zugleich ausschließen. So ist bei einem Drama nicht zu erwarten, dass sein Verfasser mit eigener Figurenrede auftritt, um anzukündigen, dass in der nächsten Szene Luise auf Ferdinand treffen wird, oder um deren Begegnung zu kommentieren; das wäre nur möglich, wenn die Rede des Verfassers ihr Statut als Teil des Fiktionsraumes des Dramas erhalten würde. In der Prosa hingegen ist es ganz und gar nicht ungewöhnlich, dass der Verfasser eines Romans als kommentierender Erzähler interveniert – was zum Beispiel Lawrence Sterne oder Jean Paul bis zur hohen Kunst betrieben haben. Ebenso wenig überrascht es uns, wenn auf dem Titelblatt eines Buches steht, dass ein Martin Walser den Roman Gallistls Krankheit geschrieben hat, im Buch selbst aber ein Herr Gallistl behauptet, es zu schreiben – wovon normalerweise nur eines stimmen kann; im Falle des Romans stimmt aber beides (siehe Weimer 1993, S. 78). Ein letztes Beispiel: wie kommt es, dass wir Dramen (sieht man vom radikalen Dokumentardrama ab) nicht lesen wie das Protokoll von Aussagen während einer Gerichtsverhandlung? Hätte ein Protokollant das von ihm Protokollierte mit „Minna von Barnhelm. Ein Lustspiel in fünf Aufzügen“ überschrieben oder Regieanweisungen eingearbeitet, so würden wir ihn bestenfalls für einen Schelm halten; anders als der Protokollant ist der Verfasser des Lustspiels aber nicht in der Weise eines Autors ein Beteiligter, sondern hat die Reden der dramatis personae gestiftet.

Erst gattungsmäßig verfasste Redeweisen geben der Literatur – ungeachtet ihrer historischen Veränderungen – eine spezifische, abgrenzbare Formgestalt und sorgen für ein semantisches Potenzial der Form, das aus den Logiken der internen Selbstreferenz der poetischen Sprache resultiert. Dass wir zum Beispiel die Diskrepanz zwischen Autor- und Erzählernamen nicht als einen unmöglichen Widerspruch denunzieren, der in der wirklichen Welt eben ganz und gar unsinnig wäre, liegt daran, dass die gattungsmäßigen Kunstformen der literarischen Rede mit den Logiken der wirklichen Welt gar nichts zu tun haben. Dies ist der Grund dafür, dass die geformte, sich der Alltagssprache entwindende Rede eine besondere Überschüssigkeit gewährt. Unter dem Schutzmantel der Gattungen werden Dinge sagbar, die gewöhnlich schwer oder kaum zu sagen sind. Literarische Formen sind die Bedingung der Möglichkeit, auf poetische Weise das Gebiet des Sagbaren zu erweitern. Nähmen wir Aischylos’ Orestie als Aussageprotokoll, so wäre die Reaktion einer moralischen Entrüstung ebenso schnell bei der Hand wie bei Gottfried Benn die Empörung über fehlendes ärztliches Einfühlungsvermögen im Fall seiner Morgue-Gedichte über körperlichen Verfall, Krankheit und Tod. Von dieser Seite her gesehen, eignet der formgebundenen literarischen Redeweise eine Dimension, die zwar nicht weltlos schlechthin ist, aber aus der und über die wirkliche Welt und die Aussageordnungen, die sie direkt betreffen, hinausführt und deren Logik enthebt. Auf die literatursoziologische Bedeutung dieser Eigentümlichkeit wird im Zusammenhang mit der Frage nach dem Wert von Literatur zurückzukommen sein.

Über die internen Regularien literarischer Redeweisen hinaus haben deren Formen eine weitere soziale Bedeutung. Unbeschadet ihrer gewissen Welt- beziehungsweise Wirklichkeitsenthobenheit sind sie situationsbedingt. Um sich das klar zu machen, ist es nötig, die Selbstverständlichkeit, mit der uns Literatur als gedruckte vorliegt, ein Stück weit zu distanzieren, weil die Vertextung von Literatur qua Buchdruck die soziale Bedeutung formgebundenen Sprechens überdeckt. So unabsehbar die Anzahl möglicher sprachlicher Situationen auch sein mag, so sehr lassen sich doch einige typische Situationen fassen, zum Beispiel das Gespräch, die Belehrung, der Streit, die Klage, die Lobrede, der Aufschrei, das Gebet, die Zwiesprache mit sich, die Spottrede u. a. m. Man kann literarische Gattungen als Kristallisationsformen solch typischer Situationen begreifen, die, im Unterschied zum alltäglichen Sprachgebrauch, stilisiert und, von der Einmaligkeit eines konkreten Augenblicks abgelöst, wiederholbar sind. Wie sehr Gattung und Situation zusammenhängen, dürfte im Fall des Theaters besonders deutlich sein; wir wären enttäuscht, wenn uns dort ein Roman oder Gedichte vorgelesen würden, denn zum Theater gehört die öffentlich gemachte Rede des Konflikts zwischen Akteuren. Wer in der Straßenbahn die Lieder seiner Lieblingsband mit dem Knopf im Ohr hört, zehrt unerkannt von der Intimität des Lyrischen in einer anonymen öffentlichen Situation; wer hingegen in einen Protestsong einstimmt weiß, dass im Einklang der eigenen Stimme mit anderen die vielen Ichs einen Konflikt aus den eigenen Reihen heraushalten können und keiner allein bleibt. Alle diese Formen, von den einfachen bis hin zu den komplizierten, sorgen für eine ästhetische Differenzierung bestimmter sprachlicher Haltungen und Verhaltensweisen. Diese soziale Bedeutung ästhetischer Differenzierung qua Form ist zu unterscheiden von dem Gedanken, wonach ästhetische Differenzierung etwas ist, das sich vornehmlich, wie in der Literatursoziologie Bourdieus, dem Kampf um Macht und Anerkennung im „Feld“ der Literatur oder Klassenzugehörigkeiten verdanken würde.

Nun haben formgebundene Redeweisen nicht unbedingt nur eine ästhetische Dimension, wie zum Beispiel das Gebet oder der Protestsong zeigen, die auch noch religiösen oder politischen Zwecken dienen. Hier hilft der Begriff der ästhetischen Funktion der Literatursoziologie Jan Mukařovskýs weiter. Wenn Mukařovský von „ästhetischer Funktion“ spricht, dann bezieht sich dies nicht auf die Funktion von Literatur in einer oder für eine Gesellschaft (siehe Kap. 8), sondern auf ein Element im Gebiet des Ästhetischen im Unterschied zum Nicht-Ästhetischen. Ästhetische Funktion in diesem Sinn ist für weite Gebiete im Leben des einzelnen und der Gesellschaft relevant, denn ein „beliebiger Gegenstand und ein beliebiges Geschehen können Träger der ästhetischen Funktion werden“ (Mukařovský 1970, S. 12). Das mag ein Gefäß sein, das gar nichts mehr enthält, nun aber die Wohnung schmückt; es mag eine gelungene Formulierung im Kontext einer Mitteilung sein, die als schön empfunden wird. Wenn etwas eine ästhetische Funktion erhält, dann nicht, weil das Moment des Ästhetischen eine reale Eigenschaft des Gegenstandes wäre, sondern deshalb, weil etwas in einem bestimmten sozialen Kontext mit einer solchen Funktion ausgestattet wird. Es gibt für Mukařovský keine Fundierung der ästhetischen Funktion in der Ontologie des Gegenstandes und „keine feste Grenze zwischen dem ästhetischen und dem außerästhetischen Bereich“ (Mukařovský 1970, S. 12); der Bereich des Ästhetischen, in dem etwas eine ästhetische Funktion erhält, ist deshalb viel weiter als das Gebiet der Kunst.

Zwei Momente sind im Blick auf die ästhetische Funktion wichtig: zum einen die Austauschbeziehungen zwischen dem ästhetischen und dem außerästhetischen Bereich; zum anderen das relative Gewicht der ästhetischen Funktion gegenüber den anderen Funktionen. Zwei Beispiele mögen das illustrieren. Wenn Zeitungsmeldungen in ein Drama aufgenommen werden – wie das häufiger zum Beispiel in Elfriede Jelineks Stücken zu finden ist – dann wird die außerästhetische Funktion der Nachricht als Information in einen Bestandteil der ästhetischen Funktion verwandelt; es handelt sich hier um die Ästhetisierung von etwas Außerästhetischem. Umgekehrt im Fall des Reimes „Haribo macht Kinder froh/Und Erwachsne ebenso“. Es ist spontan evident, dass eine ästhetische Funktion vorliegt; hier dient sie dem Zweck der Werbung. Wir haben es mit einer Instrumentalisierung der ästhetischen Funktion, das heißt des wohlklingenden Reimes, zu tun, die eine zweitrangige Stellung im Vergleich zum Werbezweck innehat, während im Fall des ersten Beispiels die ästhetische Funktion dominant wird gegenüber dem primären außerästhetischen Zweck einer Nachrichtenübermittlung. Nebenbei sei darauf hingewiesen, dass die verschiedenen Umgangsweisen mit der ästhetischen Funktion auch eine eminent politische Dimension haben. Walter Benjamin vermerkt am Ende seiner Abhandlung Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, dass der Faschismus – und man darf wohl andere Spielarten des Totalitarismus hinzunehmen – eine „Ästhetisierung der Politik“, das heißt die Instrumentalisierung des Ästhetischen für andere Zwecke betreibe; ihr sei eine „Politisierung der Kunst“, das heißt die Hereinnahme außerästhetischer Phänomene, wie es die Politik ist, in die Kunst und deren Überformung entgegenzuhalten (Benjamin 1974, Bd. I.2).

So weit das Gebiet der möglichen ästhetischen Funktion einer Sache auch ist – um ein Kunstwerk handelt es sich dann, wenn „die ästhetische Funktion die dominierende ist“ (Mukařovský 1970, S. 18). Als „Faktor des gesellschaftlichen Zusammenlebens“ liegt ihre soziale Bedeutung in der „Fähigkeit der Isolierung des von der ästhetischen Funktion berührten Gegenstandes“, darin, „eine maximale Konzentration der Aufmerksamkeit auf einen gegebenen Gegenstand“ zu lenken (S. 32 f.). Mit der Dominanz der ästhetischen Funktion ist aber noch nichts über den ästhetischen Wert eines Werkes gesagt, denn auch Werke, die wir als misslungen oder kitschig beurteilen, gehören in das Gebiet der Kunst, in der es eben gute und schlechte Literatur gibt (siehe Kap. 6). Die ästhetische Funktion hat zudem die irritierende Eigenschaft, dass sie ihre Kraft zur „Isolierung“ auf Dinge richten kann, die im Gebiet der Literatur als Kunst noch gar nicht vorgekommen sind, wenn zum Beispiel ein Dichter des „Sturm und Drang“ namens Schiller Räuber schon im Titel seines formsprengenden Stückes zu prominenten Akteuren macht. Insofern sorgt die Kraft der ästhetischen Funktion für eine eigene Dynamik, die die Grenzen von Literatur als Kunst verschiebt und die Aufmerksamkeit eines gesellschaftlichen Kollektivs auf Neues richtet.

Um diese Dynamik der ästhetischen Funktion irgendwie zu regeln, existieren in Gesellschaften ästhetische Normen. Sie sind „unabhängig vom Willen des Individuums und von seinem subjektiven Entschluß“, vielmehr eine „Gegebenheit des sogenannten kollektiven Bewußtseins“ (Mukařovský 1970, S. 37). Normen sagen, wie etwas gemacht werden soll, zum Beispiel ein Sonett, eine Komödie oder eine Kurzgeschichte, und sie signalisieren die Dominanz der ästhetischen Funktion. Aber bekanntlich ändern sich ästhetische Normen, was nicht kurzerhand mit einer „Entwicklung“ von Literatur (und Kunst) zu erklären ist, sondern was stattdessen zur Dynamik des Ästhetischen selbst gehört. Werden Normen zu strikt eingehalten, droht das literarische Werk ins Klischee abzudriften und dem Leser möglicherweise das Gefühl der Langeweile angesichts von Stereotypisierungen. Gerade „der Bruch der ästhetischen Norm (ist) eines der hauptsächlichsten Mittel der Wirkung“, und sie verstärkt sich, wenn durch Normabweichung „das ästhetische Wohlgefallen mit Mißbehagen gemischt“ ist (S. 45 f.). Um solche Wirkungen zu steigern, kann der Normbruch bis hin zur provokanten Vereinnahmung des Geschmacklosen und Hässlichen reichen – Strategien, die sich unter den Bedingungen der Konkurrenzlage zwischen Literatur und Medien noch einmal verstärkt haben. Solche Normbrüche stoßen dann wiederum neue Normbildungen an.

Das literatursoziologisch interessante Gebiet, in dem sich diese Prozesse abspielen, ist die „Kunst, die wir in Ermangelung eines besseren Begriffs die ‚hohe‘ nennen. Es ist die Kunst, deren Träger die herrschende Gesellschaftsschicht ist“ (S. 50), weil in der „kulturell tonangebenden Schicht“ die ästhetische Norm am ehesten ihre Autonomie erlangen kann und die normgebundene Erwartungshaltung, die sich am etablierten Kanon und seinen Konventionen orientiert, zurücktritt. Ein eindrückliches Beispiel hierfür sind die Beobachtungen, die bei der Aufführung dadaistischer Lautgedichte in verschiedenen Teilen der Welt gemacht wurden – zu ergänzen um einen bemerkenswerten Befund. Ästhetisch genießbar war der Bruch mit der ästhetischen Norm konventioneller Lyrik zum einen für Spezialisten und künstlerisch besonders Interessierte, zum anderen aber auch für ausnehmend naive Menschen bis hin zu geistig Behinderten, während die an konventionelle literarische Standards Gewöhnten nichts mit den Aufführungen anfangen konnten (Fröhlich 1982, S. 25).

Ästhetische Normen sind keine statischen Gebilde, nicht nur, weil sie sich in der Dialektik von Norm und Normbruch verändern und erneuern, sondern auch, weil sie eine unterschiedliche Stellung in verschiedenen sozio-kulturellen Milieus haben, in Beziehungsverhältnissen zur gesellschaftlichen Ordnung stehen und das Verhältnis zwischen ästhetischen und den anderen Normen in ihnen unterschiedlich gewichtet wird. Mukařovský zeigt dies am Beispiel des Folklore-Milieus, in dem ästhetische Normen gegenüber anderen Normen eine ausgeprägte Beharrungskraft haben, während zum Beispiel für die entstehende Stadtbevölkerung zum einen „die ästhetische Norm nach einer Vorherrschaft strebt“ (wie etwa im l’art pour l’art), aber zugleich auch „andere Funktionen und Normen dominieren, besonders die utilitaristischen, bisweilen auch emotionale“ (S. 69 f.), also Hilfe für das praktische Leben oder Modelle für das Gefühlsmanagement bereitstellen. Die ästhetische Norm, das „Regulativ der ästhetischen Funktion“, ist somit eine soziale Tatsache im doppelten Sinne: sie dynamisiert den literarischen Ausdruck; und sie manifestiert sich mit unterschiedlichem Gewicht in der Abhängigkeit von den sozialen Schichten und Kollektiven, die ihre Träger sind (siehe Abschn. 6.3). Über den ästhetischen Wert eines Kunstwerks hingegen ist weder im Rekurs auf die ästhetische Funktion noch auf die Erfüllung der Norm Auskunft zu erhalten.

5.3 Ästhetischer Wert im Spannungsgefüge außerästhetischer Phänomene: Ideale, Diskurse, Wissen

Verbreiteten doxologischen, auch wissenschaftlichen Überzeugungen zufolge ist das Urteil über den ästhetischen Wert eines literarischen Werks entweder abhängig vom subjektiven Geschmacksurteil oder von den institutionalisierten Prozeduren der Wertung und Kritik (siehe Abschn. 3.4). So relevant und unbestreitbar diese Wertungspraxen sind – in unserem Zusammenhang interessiert eine darüber hinausgehende Problematik, bei der es um die Frage danach geht, welche in einem Werk enthaltenen außerästhetischen Relationen für Aussagen über seinen Wert relevant sind. Hier unterscheiden wir zwischen der literarischen Wertung in der Fülle ihrer Erscheinungsweisen, wie sie Gegenstand einer empirischen Literatursoziologie ist (siehe Abschn. 3.3), und dem Wert der Literatur, wie er im Blick auf ein einzelnes Werk als solcher feststellbar ist. Wir sind also auf der Suche nach etwas im Werk, das jenseits des Subjektivismus des Geschmacks und jenseits institutionalisierter normativer Kodifizierungen liegt. Dieses „Etwas“ ist zu finden in drei Relationen von Literatur zu außerästhetischen Phänomenen: zu Idealen, Diskursen und Formationen des Wissens.

Mukařovský hat gezeigt, dass die Bestimmung des ästhetischen Werts als soziales Faktum über die ästhetische Funktion oder Norm nicht möglich ist, denn „der Bereich der ästhetischen Funktion ist weiter als der Bereich des ästhetischen Werts“, und „die Erfüllung der Norm (ist) keine notwendige Voraussetzung des ästhetischen Werts“ (Mukařovský 1970, S. 73). Das Problem des Werts ist davon unterschieden, und es lässt sich nicht durch den bloßen Hinweis auf die zweifellos vorhandenen historischen Umformungen ästhetischer Werte aus der Welt schaffen. Vielmehr geht es um die „Frage der Objektivität des ästhetischen Werts“ (S. 81) – und zwar nicht in einem metaphysischen oder ästhetik-theoretischen Sinn, sondern im Hinblick auf seinen sozialen Charakter. Dabei handelt es sich „nicht um eine Erforschung der Beziehung zwischen dem konkreten Kunstwerk und dem konkreten Kollektiv, also um eine Soziologie der Kunst, sondern um eine allgemeingültige Gesetzmäßigkeit, die die Beziehung zwischen dem Kunstwerk als ästhetischem Wert überhaupt und irgendeinem Kollektiv sowie irgendeinem Mitglied eines beliebigen Kollektivs charakterisiert“ (S. 84). Die erste Fragestellung, die unter dem Aspekt des Werts hier nicht interessiert, wäre zum Beispiel die der Cultural Studies (siehe Abschn. 8.3). Im Fall der zweiten führt der Weg über den Zeichencharakter der Kunst; an ihm haftet die besondere Relation, die Literatur zum Außerästhetischen unterhält und die schließlich den ästhetischen Wert begründet.

Gemeinhin stehen Zeichen für etwas anderes, auf das sie hinweisen, und haben die Funktion der Verständigung und Mitteilung. Es gibt athematische Künste, in denen diese Funktion weitgehend zurücktritt, zum Beispiel in der absoluten Malerei oder Musik, aber gerade für Literatur gilt, dass hier die Mitteilungsfunktion qua Sprache besonders zutage tritt. Allerdings verändert der Formcharakter der Literatur auch das Wesen der Mitteilung, weil qua Form die „ästhetische Funktion (…) über die mitteilende Funktion dominiert“ (S. 86). Während reine Mitteilungen unter dem Aspekt ihrer Wirklichkeitsreferenz aufgefasst werden, ist das im Fall von Literatur nicht so (es sei denn um den Preis der Verkennung von Literatur). Freilich ist die Welt der literarischen Fiktionen nicht einfach nur Fiktion, ist nicht frei von Verhältnissen zur Wirklichkeit. Die Widerspiegelung sozialer Realitäten im Kunstwerk ist damit jedoch nicht gemeint, sondern die Erfahrung eines Lesers, dass zum Beispiel ein Roman ihm eine Vielzahl von Wirklichkeiten vorstellt, die für ihn eine existenzielle, wesentliche Bedeutung haben können. Für den Leser ist es auch nicht wichtig, ob Kleists Protagonist Michael Kohlhaas einer war, der tatsächlich so oder so gehandelt hat, sondern dass es einer ist, dessen Gerechtigkeitseifer ihn zum Rebellen macht, der ganze Dörfer in Schutt und Asche legt. (Nebenbei: dies ist der Grund dafür, dass wir Inhaltsangaben von literarischen Werken nicht im Imperfekt, sondern im Präsens verfassen.) Der Kontakt, den ein literarisches Werk in diesem Sinne zur Wirklichkeit hat, besteht darin, dass es, statt Wirklichkeit qua Zeichen mitzuteilen, Einstellungen zur Welt und zur Wirklichkeit anzeigt. Dabei geht es um wesentliche Dinge: um Gerechtigkeit, Freiheit, Liebe, Tapferkeit, Rache, Sicherheit, Großmut, Güte, Gleichheit, Glück, Rebellion u. a. m. – also um Ideale und Idealverletzungen, die das Leben von Menschen in Gesellschaft und ihre Orientierungen an Werten auf wesentliche Weise betreffen.

Um den ästhetischen Wert objektiv zu begründen, nimmt Mukařovský den Weg über diesen besonderen Zeichencharakter des literarischen Kunstwerks, um schließlich „eine eigenartige und unerwartete Feststellung“ zu machen: „Das Kunstwerk bietet sich letzten Endes als eine tatsächliche Ansammlung von außerästhetischen Werten dar und als nichts anderes als gerade diese Ansammlung.“ (S. 103) Das Kunstwerk kann – anders als der einzelne konkrete Mensch, der sich zu Wertentscheidungen genötigt sieht – eine Menge solcher außerästhetischer Werte aufnehmen, weil es eben nicht leben muss und eine Fülle möglicher Einstellungen zur Wirklichkeit anzeigen kann. Der ästhetische Wert eines Werks wird umso höher sein, „je zahlreicher das Bündel von außerästhetischen Werten ist, die das Gebilde an sich binden kann, und je mehr es ihm gelingt, ihr wechselseitiges Verhältnis zu dynamisieren“ (S. 106).

Dieser ästhetische Wert ist ein eminentes soziales Faktum. Gesellschaftliche Kollektive orientieren ihre Wertentscheidungen an Idealen und machen zugleich die Erfahrung, dass ihre Werte und Ideale umstritten sind und in Konflikt miteinander geraten. Die konfliktuöse Spannung zwischen einer Vielzahl von außerästhetischen Werten beziehungsweise Idealen im literarischen Werk kommuniziert mit der gesellschaftlichen Erfahrung solcher Wertkonflikte. Wegen des Zeichencharakters formgebundener Sprache kann ein Werk von ästhetischem Wert diese Konflikte aber auf eine andere Weise darstellen und ausarbeiten als sie sich in den nicht-literarischen Mitteilungsweisen moralischer Traktate, ethischer Anweisungen zur Lebensgestaltung, politischer Ideologien oder religiöser Gebote zeigen. Der schützenden Ummantelung durch gattungsmäßig verfasste Redeweisen durchaus vergleichbar, können über die besondere Beziehung des Werks auf die Wirklichkeit verschiedenste wertmäßige Einstellungen zur Welt durchgespielt werden. Ästhetischer Wert ist keine Angelegenheit eines Harmonieideals der Schönheit oder eine von moralischen Werthierarchien, sondern ist als ein soziales Faktum im außerästhetischen „Etwas“ gestalteter Wertantagonismen begründet.

Mit der Frage nach dem ästhetischen Wert von Literatur als Kunst sind die außerästhetischen Relationen, die innerhalb literarischer Werke angesiedelt sind, ins Blickfeld geraten. Diese Perspektive unterscheidet sich von einer über Gesellschaftstheorie vermittelten Relationierung von Literatur und Gesellschaft (vgl. Kap. 8). Über die von Mukařovský stark gemachte Beziehung von Literatur auf Werte und Ideale hinaus lassen sich noch andere Spielarten literaturinterner Bezüge zu außerliterarischen Phänomenen herstellen. Das sind zum einen Rede- und Diskursformen wie zum Beispiel Kollektivsymbole als Relationsgebiet, und zum anderen Gebiete des Wissens und seiner Ordnungen, die in Literatur verhandelt werden. In einer soziologischen Perspektive auf literarische Formen als ästhetische Gebilde geht es auch hier darum, welcher Art ihre Relationen zu außerästhetischen Phänomenen sind.

Man könnte sich in gewissem Sinne an die alte Nähe von Ästhetik und Rhetorik erinnert sehen, wenn Jürgen Link mit seiner „generativen Diskursanalyse“ den Schwerpunkt auf die Untersuchung der Rede- beziehungsweise Diskursformen von Literatur legt. Links ausgeprägt szientifische Verfahrensweise der Literatursoziologie als Diskursanalyse ist inspiriert von den Schriften Michel Foucaults und seinen Untersuchungen der Geschichte von Denksystemen und der Regeln, die ihren Diskursen eine bestimmte Kontur geben. Der Begriff Diskurs wird auf sehr unterschiedliche Weisen verwendet, die hier nicht im Einzelnen dargelegt werden sollen (s. Karpenstein-Eßbach 1995a, b). Aber eine knappe Skizze des Unterschieds zwischen dem Diskursbegriff Foucaults und dem von Link ist hilfreich, um die Linksche Weiterentwicklung des Foucaultschen Diskursbegriffs für die Untersuchung von Literatur zu verstehen. Für Foucault hat „Diskurs“ (discours) keinen empirischen Status in dem Sinne, dass er in einzelnen konkreten Aussagen tatsächlich vorliegen würde. Mit „Diskurs“ ist bei Foucault vielmehr ein verschiedenen Aussagen zugrunde liegendes Regelsystem bezeichnet, das solchen Aussagen eine Ordnung gibt, sodass sie als wahr gelten können. So untersucht Foucault in Die Ordnung der Dinge die Gegenstandsfelder Arbeit, Leben und Sprache unter der Frage, nach welchen Regeln das Wissen von ihnen eine epistemologische Ordnung erhält, die sich in wissenschaftlichen Disziplinen niederschlägt. „Diskurse“ in diesem Sinne sind wirksame, aber gleichsam verdeckte, abgedunkelte Spielregeln, die Ordnungen des Denkens und Wissens von Gegenstandsfeldern hervorbringen. Man könnte auch vom Unbewussten des Wissens und der Wissenschaften sprechen.

Literatur spielt bei einem so verstandenen Diskursbegriff kaum eine Rolle, und es gibt bei Foucault auch keinen „literarischen Diskurs“. Bei Link hingegen hat Diskurs einen empirischen Status in Gestalt verschiedener, gesellschaftlich praktizierter Redeformen, zu denen auch die Besonderheit eines literarischen Diskurses gehört. Im Blick auf diese empirischen Diskurse und deren generative Analyse „interessieren die Produktionsgesetze der Sinnbildung“ (Link 1983, S. 10). Link orientiert sich dabei nicht am „semantischen Leitfaden (durch hermeneutische Sinnbildung)“, weil Literatur – da sie alles zu ihrem Thema machen kann – „keine spezifische, nur ihr eigene materiale, thematische Substanz (besitzt)“ (S. 30). Auf der Ebene von Thematiken kann man nicht die Regeln finden, nach denen literarische Diskurse produziert werden. Stattdessen geht es Link um die Logik und Dynamik von Interferenzen zwischen verschiedenen Aussageweisen.

Link unterscheidet verschiedene Diskursformen voneinander, um dann schließlich die Literatur als Relationsgefüge solcher Diskursformen zu bestimmen. Zunächst sind das die „anonym und kollektiv produzierten ‚literarischen‘ Formen alltäglicher und praktischer Diskurse“, die als „elementare Literatur“ (S. 9) bezeichnet werden. Dabei handelt es sich nicht um Phänomene der Trivial- oder Populärliteratur, sondern um einfache Formen wie Legende, Märchen, Witz, aber auch um „Sprachgebärden“, „Diskursgesten“, wie sie im Wortspiel, in metaphorischen Verschiebungen und der Verwendung von Symbolen zu finden sind. Solche „literarischen Halbfabrikate“ finden sich beispielsweise in von Link zitierten Heiratsanzeigen: „Unverbrauchter, doch schon gereifter, kerniger ‚Rheinhessen‘ (sic) mit seelisch tiefem Charakter (…) sucht zur zweiten ‚Veredelung‘ einen blumigen, geistvollen Tropfen“ (S. 28). Hier kommen verschiedene diskursive und nicht-diskursive Praktiken zusammen: der Weinbau und -handel mit dem dazugehörigen Spezialdiskurs, die Charakter- beziehungsweise Selbstdarstellung, die Partnersuche, und zwar so, dass der eine Praktikenbereich den anderen so strukturiert, dass Sinn zustande kommt. Eben dies leisten elementar-literarische Redeweisen, wenn sie verschiedene Spezialdiskurse integrieren.

Eben dies leistet auch die Literatur als Kunst, von Link als „institutionalisierte Literatur“ bezeichnet, allerdings mit dem Unterschied, dass es hier keine praktischen Bezüge gibt, also zum Beispiel keine wirkliche Partnersuche eines wirklichen Menschen. Mit Mukařovský gesagt: der Zeichencharakter des literarischen Kunstwerks impliziert einen anderen Bezug auf Wirklichkeit; es handelt sich, so Link, um einen „neuen Typ von Bezügen zu anderen Praktiken“: „Institutionalisierte Literatur entsteht dann, wenn der Rahmen des praktischen Diskurses, der sämtliche elementare Literatur trägt, fortfällt und die pragmatische Verankerung ebenfalls durch ein literarisches (rein diskursives) Verfahren ersetzt wird“ (S. 30). Link fasst denn auch die institutionalisierte Literatur als gleichsam prominentes Spezialgebiet für einen „Interdiskurs“ auf, der, der elementaren Literatur vergleichbar, andere gesellschaftliche Praktiken in sich integriert. „Das spezifisch Literarische wäre also relationaler Art, es läge – mit Freud gesprochen – im ‚Verdichten‘ oder ‚Verschieben‘, oder – wie Jakobson formulierte – in den metaphorischen und metonymischen Verfahren im weitesten Sinne“ (S. 30).

Solche Verschiebungen, das Wandern von Metaphern und Symbolen finden sich besonders in dem, was Link als „Kollektivsymbole“ bezeichnet. Das sind verdichtete, modellartige Anschauungsbilder, die kollektiv verankert sind. Häufig stammen sie aus bestimmten gesellschaftlichen Praxisbereichen und entsprechenden Spezialdiskursen wie zum Beispiel das Schiff als Verkehrsmittel. Im Prozess metaphorischer Verschiebung kann es zum „Staatsschiff“ werden, etwas sein, mit dem man in den Hafen der Ehe einläuft oder Schiffbruch erleidet. Kollektivsymbole sind wesentliche Bestandteile elementar-literarischer Redeweisen, und „der institutionalisierte literarische Diskurs verarbeitet die disparat-flatternde Menge elementar-literarischer Parzellen, indem er (…) ihnen eine eigene literarische Kohärenz verleiht“ (S. 62). All die Bildfelder kollektiver Symbole, wie sie in Alltagsdiskursen zu finden sind und die Erfahrungen und Weltdeutungen von Kollektiven orientieren, ragen in Literatur hinein. Als Kunstform fällt Literatur aber aus dem Rahmen praktischer Diskurse (s. Heiratsannoncen) heraus; sie kann kurrente, zuweilen an Stereotypien heranreichende Kollektivsymbole zum Gegenstand einer Problematisierung machen, sodass im Kunstwerk etwas bislang nicht Gesagtes oder Sagbares gesagt und sagbar wird. Auch in Links generativer Diskursanalyse ist das literarische Kunstwerk qua Form ein Ort von Ansammlungen. Mukařovský hatte es unter dem Aspekt seines Werts als Ansammlung außerästhetischer Werte bestimmt, die die Einstellungen zur Welt betreffen; mit Link lässt es sich als Ansammlung von Redeweisen bestimmen, die kollektiv-symbolische Anschauungs- und Sinnschemata betreffen. Bei allen ansonsten auch vorhandenen Verschiedenheiten zwischen beiden gibt es eine wesentliche Gemeinsamkeit: was sich da im Innern der literarischen Werke, in ihren Redeweisen ansammelt, das sind Phänomene außerästhetischer Gebiete und Beziehungen zu ihnen.

Schließlich interessiert im Blick auf den ästhetischen Wert von Literatur ein drittes Spannungsgefüge literarischer Formen zu außerästhetischen Phänomenen: das Verhältnis von Literatur und Wissen, dem sich zunehmend nicht nur Literaturwissenschaftler, sondern auch Literatursoziologen zuwenden, was sich ein Stück weit auch dem Verständnis gegenwärtiger Gesellschaften als Wissensgesellschaft verdanken mag. Das Verhältnis von Literatur beziehungsweise Kunst und Wissen hatte schon Hegel beschäftigt, als er mit der romantischen Kunstform das Ende der Kunst und ihren Übergang in das Wissen, gekrönt von der Philosophie, kommen sah (Hegel 1970, Bd. 14, S. 231 ff.). Hegels hellsichtige Perspektive, wonach die modernen Künste in einer „unendlichen Herumbildung“ (S. 239) alles nur Mögliche zu ihrem Stoff und Gegenstand machen können, wenden wir um in eine literatursoziologische Perspektive auf die Beziehungen, die literarische Werke zu Gebieten des Wissens unterhalten. Dafür ist es nötig, die Rede von Wissen genauer zu fassen. Man könnte darunter allgemein Alltagswissen verstehen oder, ganz auf Literatur selbst bezogen, ein eigenes Wissen der Literatur, das sich, wegen seiner Einbettung in die Welt der Fiktion, von allem anderen Wissen unterscheidet. In der Soziologie literarischer Formen geht es um wissenschaftliches Wissen, wie es sich in einzelnen Disziplinen ausgearbeitet und konturiert findet, und darum, wie eben dieses Wissen im allgemeinen das Denken und die Auffassungen von den jeweiligen Gegenständen figuriert. So groß der Unterschied zwischen Literatur und Wissenschaft auch ist, weil diese mit der Unterscheidung von richtig und falsch operiert, jene aber nicht – was und wie etwas in literarischen Werken zum Gegenstand wird, kommuniziert auch mit den Logiken wissenschaftlicher Episteme (Dotzler et al. 2005). Wenn man dies in der Terminologie von Link formulieren will, so wäre Literatur als ein „Interdiskurs“ aufzufassen, in dem sich Themen und Elemente aus Spezialdiskursen der Wissenschaften versammelt finden. Weil Literatur aber nicht mit der Unterscheidung von richtig und falsch arbeitet, kann sie einen Umgang mit wissenschaftlichem Wissen pflegen, der dieses Wissen auch zur Deutungsressource gesellschaftlicher Erfahrungen macht. Denn das, was in den Wissenschaften hervorgebracht wird, hat beachtliche Folgen sowohl für den sozialen Lebenszusammenhang wie für unsere Welt- und Selbsterklärungen.

Es gibt einen breiten Facettenreichtum von Beziehungen zwischen Literatur und Wissen, der sich in verschiedenen literarischen Formen niederschlägt. Wir finden sie zunächst in der Popularisierung von Wissenschaft, also in Schriften, die sich rhetorisch-literarischer Mittel bedienen, um wissenschaftliche Sachverhalte einer nicht wissenschaftlich geschulten Leserschaft zu vermitteln, wie das zum Beispiel Wilhelm Bölsche in seinem umfangreichen und viel gelesenen Buch über Das Liebesleben in der Natur gemacht hat. Eine kleine Passage über den Ichthyosaurus sei hier zitiert:

Die Ichthyosaurier waren wenigstens zum Teil kolossale Tiere: bis zu zehn Metern Länge. Wenn ihre enorme senkrechte Schwanzflosse die Wellen peitschte im erotischen Sturm, so muß das kein schwächliches Schauspiel gewesen sein. Vielleicht haben die Männchen vorher erbitterte Kämpfe um den Besitz des Weibchens geführt, wie es heute noch unsere kleinen Zauneidechsen an grüner Frühlingshalde treiben, die sich gegenseitig zu regelrechtem Zweikampf stellen und nicht eher ruhen, bis möglichst einem der beiden Rivalen das zierliche Eidechsenschwänzchen abgebissen ist. Dort müssen das allerdings Kämpfe gewesen sein, bei denen das Meer wie vom biblischen Leviathan ‚siedete wie ein Topf‘ (Bölsche 1898, S. 83).

In diesem Fall wird die ästhetische Funktion von der pädagogischen Funktion der Wissensvermittlung dominiert und die literarisierte Redeweise hat einen wissenschaftlichen Wahrheitsanspruch. Anders verhält es sich bei Romanen, die zum Beispiel die Finanz- beziehungsweise Wirtschaftskrise der Gegenwart oder den Klimawandel zu ihrem Thema machen. Keine Leserin wird sie mit dem primären Ziel zur Hand nehmen, sich wissenschaftliche Aufklärung über Sachverhalte zu verschaffen, vielleicht aber dennoch gerade deshalb, weil sie die Sache interessiert oder ihr gar auf den Nägeln brennt. Was die Redeform des Romans hier insbesondere leistet, das ist eine Subjektivierung und Personalisierung eines wissenschaftlichen Wissens durch seine Perspektivierung in der Sicht von Protagonisten des Romans. Was Sache der Wissenschaft ist, wird hier in das Erleben gesellschaftlich relevanter Angelegenheiten durch Romanfiguren und ihre Aussagen transformiert. Fachwissen wird dann gleichsam mit einem gesellschaftlichen und wirklichkeitsbezogenen Erfahrungsanker subjektiver Art versehen. Solche Erfahrungsbindung muss aber nicht zwingend die Relation von Literatur und Wissen tragen, wie am Beispiel von Science-Fiction-Romanen deutlich wird. Häufig verfasst von Natur- und Technikwissenschaftlern, werden Zukunftsentwürfe aus wissenschaftlichem und technischem Wissen extrapoliert. Fiction in Verbindung mit Wissen begründet hier Prognostik, deren Realitätsgehalt sich nicht selten später herausgestellt hat (siehe Clarke 1984).

In diesen genannten Spielarten der Literatur-Wissen-Verbindung ist evident, dass sich Spezialwissen in den literarischen Werken findet und der Leser wie die Literatursoziologin recht mühelos darauf stoßen. Aber diese Evidenz ist nicht immer gegeben. Wahrscheinlich lassen sich sogar die meisten literarischen Werke lesen, ohne dass man an ein in ihnen angesammeltes Wissen denkt oder davon etwas merkt, weil sie als ästhetische Gebilde einen eigenständigen Formcharakter von Abgeschlossenheit haben und wir geneigt sind, sie auch als solche zu lesen. Einen anderen Komplexitätsgrad gewinnt die Literatur-Wissen-Relation zum Beispiel im Fall des Themas Krebs in der Literatur. Die Krankheit wird als Einzelschicksal literarisiert, und dies geschieht in Abhängigkeit von den Ergebnissen der wissenschaftlichen Erforschung dieser Krankheit (siehe Karpenstein-Eßbach 2006). Eben dies zeigt sich nicht in spontaner Evidenz am Werk selbst. Angesichts der unterschiedlichen Behandlung von Krebs in der Literatur kann man sich fragen, ob es sich überhaupt bei der Krankheit dieses Namens um eine Identität des Phänomens handelt. Tatsächlich unterliegt das Verständnis von dieser Krankheit außerästhetisch einem sich verändernden medizinischen Erklärungsgeschehen, das sich in der Krebs-Literatur wiederfinden lässt. So wird das Krankheitsparadigma der psycho-somatischen Krebserkrankung abgelöst von einem Verständnis, wonach es sich um eine Kommunikationspathologie und einen Kontrollverlust innerhalb zellulärer Prozesse handelt. Solchen Veränderungen in wissenschaftlichen Erklärungen und literarischen Deutungen von Objekten des Wissens kommt man nur auf die Spur, wenn man neben der Literatur auch wissenschaftliche Spezialdiskurse heranzieht. Der „Interdiskurs“ ist dann nicht von vornherein im literarischen Werk angesiedelt, vielmehr wird „Interdiskursivität“ erst hergestellt, indem sich eine literatursoziologische Untersuchung in das literarische Außen von Spezialdiskursen begibt. Niemand muss Gottfried Benns Rönne-Prosa mit dem Titel Gehirne mit der zeitgenössischen Phrenologie in Beziehung bringen – aber Literatursoziologen sollten dazu in der Lage sein, um zu untersuchen, was Literatur mit außerliterarischem Wissen und was dieses Wissen mit Literatur macht. Im Fall dieses letzten Beispiels für das vielfältige Spektrum dieser Relationen könnte man mit Literatur schließlich erfahren, „was es bedeutet, das Ich in das Hirn zu setzen“ (Breidbach 2004, S. 332).

Ideale, Diskurse und Wissen sind drei wesentliche Gebiete, auf denen sich Gesellschaften über sich selbst verständigen und sich ihre Orientierungen geben. Diese außerästhetischen Phänomene werden in literarischen Werken verhandelt und bearbeitet. Unter dem Schutzmantel literarischer Formen können sie dies aber auf eine besondere Weise, weil ihr Formcharakter sie im besten Sinne zu reflektieren erlaubt und das Gebiet des Sagbaren über das geläufiger und konventioneller Weise Gesagte hinaus erweitert.

5.4 Anwendungsbeispiel: Das Drama Bambiland von Elfriede Jelinek

Zur Veranschaulichung dient uns hier ein Theaterstück von Elfriede Jelinek mit dem Titel Bambiland (UA 2003). Dieser Titel lässt an die Idylle des Waldes und an die friedliche Eintracht einer grasenden Rotwildfamilie mit dem Schützling in ihrer Mitte denken. Vielleicht fällt der einen oder dem anderen auch ein, dass es einen Walt-Disney-Film namens „Bambi“ gibt. Tatsächlich handelt das Stück vom Irak-Krieg. Wer ins Theater geht, ohne sich über das Stück informiert zu haben, könnte sich angesichts seines Titels in seiner Erwartungshaltung zumindest irritiert sehen. Das Stück irritiert aber auch in anderer Hinsicht durch seine Form. Gemeinhin erwarten wir von einem Drama, dass sich im vom Zuschauerraum abgegrenzten Fiktionsraum der Bühne ein konfliktuöses Geschehen in der Konfrontation der dramatis personae entfaltet. Bambiland hingegen hat einen namenlosen Sprecher, der fortlaufende Text wird ausschließlich durch Absätze gegliedert, eine Konfrontation von Akteuren auf der Bühne nach dem Modell des Dialogs findet nicht statt. Da die Sprecher-Rolle vollständig entindividualisiert ist, könnte man den Text auch auf viele Sprecher verteilen, ohne dass dabei aber eine kollisionsträchtige Handlung im Sinne standardisierter Dramenform zustande käme. Stattdessen handelt es sich um die monologische, aber zerlegbare Rede eines embedded writers über den Irak-Krieg. Diese Form des Stücks bricht mit dominanten Normen des Dramas, aber sie knüpft zugleich an eine alte Tradition an: die des antiken Boten in der Tragödie, der über ein Geschehen berichtet. „Ich künd es euch“, verkündet die Stimme dem Theaterpublikum – so als ob sie Nachrichten sprechen würde (Jelinek 2004, S. 21).

Jelinek nimmt für ihr Stück eine gesellschaftlich und auch literarisch vertraute Redeweise, den Bericht, in Anspruch, um sie gegen ihren normalen Gebrauch zu wenden; die Nachricht erhält so ihren Platz im Theater. Der Bruch mit der dominanten Dramennorm zeigt: das dramatische Geschehen findet nicht auf der Bühne selbst, sondern woanders statt. Die Verfasserin des Dramas ist keine Stifterin von Reden erfundener Personen. In der Vorrede zum Stück heißt es nach einem „Dank an Aischylos und die ‚Perser‘“ sowie an Nietzsche: „Der Rest ist aber auch nicht von mir. Er ist von schlechten Eltern. Er ist von den Medien“ (S. 15).

Jelinek verwendet Nachrichtenmaterial, um Nachrichten vor- und aufzuführen. Die außerästhetische Funktion von Nachrichten als Information wird in eine ästhetische Funktion verwandelt, sodass die Nachricht zum Gegenstand besonderer Aufmerksamkeit gemacht werden kann. Bambiland integriert andere gesellschaftliche Diskurse und bestimmte Formen des Wissens, entzieht ihnen aber den pragmatischen Rahmen, in dem sie ansonsten verankert sind. Zum theatralen Interdiskurs, der durch diese Materialverwendung entsteht, kommen spezifische rhetorische Mittel der Bedeutungsverschiebungen hinzu. Die Nachrichten über den Irak-Krieg, wie sie in den Medien zu finden sind, werden nicht kurzerhand abgebildet. So heißt es über den Bombenkrieg:

Den Weg geht das Geschoß geschickt, ich meine, es ist sowieso geschickt, auch wenn wir es geschickt haben, also es geht es geht mit hoher Genauigkeit und Unterschallgeschwindigkeit, das macht es, damit Sie ihm folgen können, also das geht über mehr als 1600 Kilometer hinweg ins Ziel, wohin es geführt wurde, an keiner Mutter Hand, zu einer Mutter Hand, der reißt es das Kind aus dem Arm und die Wäsche aus dem Korb (…) und alles ins Ziel, treulich geführt, ins Ziel. Konventionell bestückt können 50 bis 200 Kilometer, äh, ich meine Kilogramm Sprengstoff, transportiert werden (S. 63).

Hier findet sich eine kunstvolle Zusammenstellung verschiedener Elemente: der Doppelsinn von „geschickt“ wird evoziert; „an (k)einer Mutter Hand“ oder „zu einer Mutter Hand“ zu gehen, ist ein anrührendes Bild; die Wendung „treulich geführt“ stammt aus der Hochzeitsszene von Richard Wagners Oper Lohengrin, deren Melodie in Bürgerwohnungen tausendfach gespielt wurde und wird und die man sich heute bei youtube anhören kann. Natürlich redet kein Nachrichtensprecher so, und täte er es, so würde er entlassen, weil er seine Sätze nicht in der gebotenen Ordnung und dem pragmatischen Rahmen formuliert hat, die den Aussagen ihre gewöhnliche Eindeutigkeit geben, während sich in der Rede des Theater-Boten die Abgründe von Bedeutungen auftun, die das hat, wovon berichtet wird. So sehr Bambiland auf die außerästhetische Funktion von Nachrichten rekurriert, so sehr wird diese doch von der ästhetischen Funktion literarischer Redeweisen und ihren rhetorischen Mitteln dominiert.

Der Bote, der embedded journalist, hat in Bambiland eine Monopolstellung mit seinem Monolog inne. „Hier spreche ich“, heißt es (S. 73). Man könnte fast meinen, es sei die Stimme eines einsamen lyrischen Ich, dem das Theaterpublikum lauschen soll. Aber diese seine Rede (oder die von mehreren Personen – das ist eine Angelegenheit der jeweiligen Inszenierung) drängt über die Bühne hinaus und geht zum Angriff auf das Publikum über. Auch dies darf man als Normbruch verbuchen. Der Bote wendet sich direkt an das Publikum und erklärt ihm den Krieg:

Jeder einzelne von Ihnen wird von uns jetzt als Gegner betrachtet, bis sich herausgestellt hat, daß er unser Freund ist. Wir wollen uns doch die Vorteile nicht entgehen lassen, die darin liegen, daß wir mit unserer Überlegenheit gewonnen haben diese Stadt trotz heftiger Gegenwehr. Sie haben vollkommen richtig gehandelt, als Sie die sieben Frauen und Kinder im Kleinbus erschossen haben, das wollte ich Ihnen bei dieser Gelegenheit noch einmal ausdrücklich mitteilen (S. 48 f.).

Die Kriegsfront entsteht im Theater selbst, und die „Kriegserklärung“ hat ein doppeltes Gesicht: dem Publikum wird der Krieg erklärt, indem es als Feind angeredet wird, und ihm wird der Krieg in dem Sinne erklärt, dass es über das, was dieser Krieg „ist“, Bescheid weiß. Ihm werden Verhaltensanweisungen und Befehle erteilt, als ob es sich selbst im Krieg befände. Der boshafte Beschuss von Zuschauern bringt einen Stellungskrieg ins Theater, der das Publikum zur Stellungnahme herausfordert. Im Verlauf des Stückes steigert sich der Botenbericht zunehmend zu einer aggressiven Anklage, die das Theater als moralische Anstalt auf die Spitze treibt und gesellschaftliche Wertorientierungen, Einstellungen zur Wirklichkeit, also außerästhetische Werte anzeigt und verhandelt. Wollte man den ästhetischen Wert hier bestimmen, so gewinnt er in diesem Stück seine besondere Gestalt durch einen formalen Normbruch, der die konfliktuöse Dynamik außerästhetischer Werte von ihrer Darstellung in der Geschlossenheit des Bühnengeschehens verlagert in die sozialen Beziehungen zwischen Bühne und Publikum.