Zusammenfassung
Im Beitrag werden mit den Begriffen Anarchismus, Bohème und Avantgarde drei zentrale Momente der Moderne zusammengeführt: Die Bohème (als Suche nach und Erprobung von neuen Lebensformen), die Avantgarde (als Suche nach und Erprobung von neuen Kunstformen) und der Anarchismus (als Suche nach und Erprobung von neuen Politikformen). Zusammen, so gilt es zu zeigen, bilden sie einen sozio-ästhetischen Raum, dessen Protagonist die Figur des jenseits aller Kontrolle frei herumlaufenden Vagabunden ist; eine Figur, die von der Kultursoziologie zum eigentlichen „Fluch der frühen Moderne“ erklärt und von der gesagt wird, dass sie die Vorhut des posttraditionellen Chaos und der Anarchie bildete und verschwinden musste, solange die Ordnung noch die Regel war (Bauman 2007: 153). Aber, und dies gilt es zu fragen, ist die Ordnung noch die Regel, oder hat die gleichzeitige Entgrenzung von Politik-, Kunst- und Lebensformen die Prämissen des kulturellen Anarchismus auf den Kopf gestellt?
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Notes
- 1.
Kreuzer 1968, S. 300 f. Siehe zu dem Komplex Boheme und Politik auch Gay 2002.
- 2.
https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-322-96986-6_3 (Abruf 04.05.2018).
- 3.
Luhmann spricht von einer funktionsorientierten „Ordnung als Herrschaft“, die nicht durch Parodie, Ironie oder das Karnevaleske angegriffen werden dürfe. Am Nullpunkt der menschlichen Evolution herrsche eine anarchische Systemlosigkeit; eine „basale Anarchie“ der Interaktion (Luhmann 1984: 575), d. h. eine Anarchie als strukturloses Chaos, der in Zeiten zunehmender Komplexität der Gesellschaft nur durch soziale Ordnung (unabhängig von ihrer Form und Ausgestaltung) begegnet werden könne.
- 4.
Zu einem Gegenentwurf dieser Position siehe Stichweh (2014), der in der Gegenwartskunst eine eminente, gesellschaftlich relevante und kritische Kunst sieht.
- 5.
Und wie er sich im Diskursraum der Geistes- und Sozialwissenschaften der 1960er und 70er Jahren noch in Kreuzers Bohème-Buch sowie in den Texten von Peter Christian Ludz findet. Letzterer nahm sich 1979 das Leben.
- 6.
Siehe hierzu: Peter Gay (2004), Republik der Außenseiter. Geist und Kultur in der Weimarer Zeit 1918–1933, Frankfurt a. M.: Fischer.
- 7.
Zu dieser Denkfigur siehe auch: Jenseits der Anarchie. Weltordnungsentwürfe im frühen 20. Jahrhundert. Hrsg. v. Jens Steffek u. Leonie Holthaus u. a., Frankfurt/New York: Campus 2014, insb.: Hagen Schulz-Forberg, „Die Welt wie sie sein sollte. Versuche transnationaler Normenbildung für eine globale Wirtschaftsordnung in den 1930er Jahren“, ebd., S. 174–202.
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Magerski, C. (2019). Anarchismus – Bohème – Avantgarde. Zum Konnex dreier Denkfiguren der Moderne. In: Magerski, C., Roberts, D. (eds) Kulturrebellen – Studien zur anarchistischen Moderne. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-22275-8_2
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