2.1 Teller und Besteck

Setzen wir die Aufklärung der Sozialbezüge visueller sichtbarer Gestaltungen als Aufgabe einer Soziologie visueller Kommunikation an, ergeben sich für die Gegenstände Teller und Besteck gleich mehrere Erklärungsansätze. Gleichwohl kann man die Erscheinungsformen auch zu außersozialen Anforderungslagen in Beziehung setzen. So ist der menschliche Körper ein Maßstab – ihm tragen Größen und Proportionen der Esswerkzeuge Rechnung. In puncto Materialität spielt u. a. die Druck-, Hitze und Wasserbeständigkeit sowie die Geschmacksneutralität der Gegenstände eine wichtige Rolle. Wenngleich die Gestalt der Artefakte auf diese Bedarfe reagiert, ist sie zugleich als Resultat von Anpassungsprozessen an soziale, kulturelle und gesellschaftliche Verhältnisse zu verstehen. Das gilt für die Grundformen von Messer, Gabel und Löffel ebenso wie für deren normative Durchsetzung bei dem Prozess des Essens. Da die Nahrungsaufnahme auch ohne diese Werkzeuge erfolgen kann – bis in die aktuelle Gegenwart wird in vielen Regionen der Erde mit den Händen oder mit Stäbchen gegessen – unterliegt diese Formgenese keineswegs ‚natürlichen‘ Notwendigkeiten.

Eine prominente Antwort auf die Frage, warum und wozu sich im Europa der Neuzeit das Besteck als ein Medium der Nahrungsaufnahme entwickelt, bietet Norbert Elias´ Diagnose des (zunächst europäischen) „Zivilisationsprozesses“ (Elias 1997 [1939]). Der Siegeszug des Bestecks trägt demnach der Entstehung moderner Subjekte Rechnung, deren (Selbst-)Disziplinierung sich gerade auch im Bereich von Körper- und Affektkontrollen im Kontext der Mahlzeit manifestiert. Esswerkzeuge fungieren als eine Distanztechnik, die eine Barriere zwischen der Speise und den Speisenden herstellt. Damit kommt es zugleich zu einer neuen Konventionalisierung von Essgebärden, auf die sich zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert wiederum ein verfeinertes Besteckdesign einstellt: Da der Löffel nicht mehr mit der Faust, sondern mit drei Fingern gehalten werden soll, wird sein Stiel verbreitert und abgeflacht und auch die Laffe gewinnt eine flachere und ovale Form.Footnote 1 Vergleichbares geschieht mit dem Messer. Dessen fragilerer Griff ermöglicht, ja fordert differenziertere Hand- und Fingerbewegungen geradezu ein, während die abgerundete Spitze die barbarische Symbolik des Aufspießens abmildert. Ein besonderes Symptom dieses (Zivilisations-)Prozesses ist die Gabel. Ihre Form ist technisch betrachtet eine Weiterentwicklung des Spießes, der die Drehbewegung erfasster Objekte verhindert. Historisch gesehen ist die Gabel damit keine Errungenschaft, denn schon der antike Dreizack übernimmt diese Funktion. Die Innovation besteht vielmehr darin, den miniaturisierten, mehrzinkigen Spieß bei Tische durchzusetzen. Gerade weil die Hände das Essen mühelos fixieren, ist der Gebrauch der Gabel in besonders offensichtlicher Weise der ‚bloß‘ kulturellen Konvention des zivilisierten Essens geschuldet, weshalb die Gabel als „Inkarnation eines bestimmten Affekt- und Peinlichkeitsstandards“ (Elias 1997, S. 171) gelesen werden kann. So wird verständlich, dass die Verbreitung der Gabel, die im 15. Jahrhundert ihren Anfang in den Adels- und Patrizierfamilien Oberitaliens nimmt, gegen kritische Stimmen durchgesetzt werden muss, die erst um 1800 verstummen, zu einer Zeit, in der das Gerät in den Mittelschichten des gesamten europäischen Raums Akzeptanz findetFootnote 2 (Abb. 2.1).

Abb. 2.1
figure 1

(Quelle: Eigene Darstellung)

Teller und Besteck.

Die Theorie des Zivilisationsprozesses liefert wichtige Anhaltspunkte für das historische Verständnis der Entwicklung der Grundformen des Bestecks, bietet jedoch für dessen weitere Gestaltungsdimensionen keine Perspektive. Eine dieser Dimensionen ist das Prinzip der Serialität, das auf zwei Ebenen wirkt: Zum einen werden die Elemente des Bestecks stilistisch aneinander angepasst – das Messer spricht dieselbe Formensprache wie die Gabel und der Löffel. Insofern verweisen die Formen nicht nur auf sich selbst, sondern auf ein System der Dinge, das einem allgemeineren, überindividuellen Gestaltungsprinzip folgt. Zum anderen zeigt sich das Prinzip der Serialität an der exakten Wiederholung ein und desselben Formenkanons für alle an einer Mahlzeit Teilnehmenden. Die Invarianz der Besteckformen zwischen den Speisenden gehört offensichtlich zu den Grundgesetzen der Besteck-Gestaltung und deshalb reproduziert der Markt die einzelnen Serien über viele Jahre. Da aus technischen, wirtschaftlichen oder organisatorischen Gründen nichts gegen eine Kombination von Formen spricht, wird man die Gründe für die serielle Homogenisierung der Erscheinungsformen wiederum im Bereich des Sozialen bzw. Kulturellen suchen müssen. Simmels „Soziologie der Mahlzeit“ (2001 [1910]) bietet hierfür einen geeigneten Bezugsrahmen, indem sie das Arrangement der am Essen beteiligten Gegenstände auf die Vermittlung des Spannungsverhältnisses von Individuum und Gemeinschaft bezieht. Die Sozialform der Mahlzeit, so Simmel, vermittelt zwischen dem „egoistischen“ Vorgang des Essens und der Gemeinschaft und sie tut dies notwendigerweise in einer zeit- und gesellschaftstypischen Weise. Die strikte Gleichheit des Bestecks an einer Tafel lässt sich demzufolge, ebenso wie die Form des Tellers, als Gestalt interpretieren, die den Ansprüchen des modernen Subjekts auf ‚Individualität‘ ebenso gerecht wird wie seinem Bedürfnis nach Gemeinschaft. Besonders anschaulich wird diese Perspektive an Simmels Deutung der Tellerform:

Er (der Teller) zeigt an, dass diese Essportion ausschließlich für diese eine Person abgeteilt ist. Die Rundform des Tellers markiert dies; die Kreislinie ist die abschließendste, ihren Inhalt am entschiedensten in sich konzentrierende – wogegen die für alle bestimmte Schüssel eckig oder oval, also weniger eifersüchtig geschlossen sein mag. Der Teller symbolisiert die Ordnung, die dem Bedürfnis des Einzelnen gibt, was ihm als einem Teile des gegliederten Ganzen zukommt, aber ihn dafür auch nicht über seine Grenze hinausgreifen lässt. Aber nun hebt der Teller diesen symbolischen Individualismus doch wieder in eine höhere formale Gemeinsamkeit auf; die Teller eines Esstisches müssen jeweils in sich völlig gleichartig sein, sie vertragen keinerlei Individualität; verschiedene Teller oder Gläser für die verschiedenen Personen würden absolut sinnwidrig und hässlich sein. Jeder Schritt, der die Mahlzeit in den unmittelbaren und sinnbildlichen Ausdruck höherer, synthetischer sozialer Werte aufwärts führt, lässt sie eben damit einen höheren ästhetischen Wert gewinnen (Simmel 2001 [1910]), S. 144).

Für die Expression des Individuellen kommt der sozialen Praxis eine besondere Bedeutung zu, wobei die Standardisierung der (Besteck-)Formen als eine Vergleichsfolie fungiert, die individuelle Unterschiede im Umgang mit den Materialien hervortreten lässt.

Neben den Grundformen und dem Prinzip der Serialität kann die Feindifferenzierung des Designs in Sachen ‚Schönheit‘ als dritte Dimension der Besteck-Gestaltung angesehen werden. Schon ein kurzer Blick auf das aktuelle Angebot macht die Variationsbreite deutlich: Neben puristisch-klaren Formen im Stile der Neuen Sachlichkeit oder des Bauhaus finden sich ornamental-verspielte Gestaltungen, die an höfische Kultur erinnern sollen, ebenso wie rustikale Varianten mit Holzgriff. Die Namensgebungen der Produkte verweisen dabei ebenso wie das Formverständnis auf einen bestimmten ‚Geschmack‘, auf einen bestimmten Lebensstil und damit zusammenhängende Werte und Normen. Der Bedarf für entsprechende Differenzierungen ergibt sich, weil in der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft der „alte, im 18. Jahrhundert noch vorausgesetzte Zusammenhang von Schichtung und Geschmack heute aufgelöst ist“ (Luhmann 1996, S. 89). Umso wichtiger sind in der Gegenwartsgesellschaft Einrichtungen wie die Werbung, die die semantisch differenzierten Besteck- und Geschirr-Designs in den weiteren Horizont einer Bildwelt stellen, deren Images ein breites Spektrum von Orientierungswerten in Sachen Geschmack für unterschiedliche Milieus und individuelle Schönheitsvorstellungen erarbeiten.Footnote 3

Zusammenfassend lässt sich demzufolge notieren: Die Existenz und der alltägliche Gebrauch der Objekte an sich, wie deren konkrete Ausgestaltung, hängen maßgeblich mit sozialen Entwicklungen zusammen, wobei sich im Falle von Besteck und Geschirr soziale Differenzierung, Zivilisierung, Individualisierung sowie der relative Bedeutungsverlust von sozialer Schichtung als wichtige Prägekräfte erweisen.

2.2 Medizinische Ästhetik

Man wird sich schnell darauf verständigen können, dass es so etwas gibt wie eine medizinische Ästhetik, die einem in Arztpraxen oder Kliniken begegnet. Das gilt insbesondere für diejenigen Räumlichkeiten, in denen Untersuchungen und Eingriffe am Körper stattfinden, so z. B. Behandlungszimmer, Röntgenräume, Operationssäle. Typischerweise hat man es hier mit einer kühlen, nüchternen und sachlichen Atmosphäre zu tun, die z. B. über helle, glatte Wände, funktionale Möbel sowie technische Geräte hergestellt wird (Abb. 2.2).

Abb. 2.2
figure 2

(Quelle: Eigene Darstellung)

Medizinische Ästhetik.

Stellt man die Frage, welchen Rationalitäten diese Ästhetik im Einzelnen folgt, mag man zunächst an außersoziale Anforderungslagen denken, etwa an die der Hygiene, der effizienten Arbeitsorganisation oder der Einhaltung industrieller Produktionsnormen (z. B. solche der Deutschen Industrienorm DIN, eingeführt 1928). Doch legen auch soziale Bedingungen eine bestimmte Gestaltung medizinischer Apparate und Räumlichkeiten nahe. Diese Bedingungen hängen mit grundlegenden Vorstellungen vom Mensch-Sein, von Menschen und von Menschlichkeit zusammen. Zentral ist die Idee, dass der Mensch gleichsam ‚mehr‘ bzw. anderes ist als Natur. Goffman hat zur Beschreibung dieses Sachverhalts den Begriff des „sozialen Rahmens“ geprägt und mit ihm all diejenigen Sinnkonstruktionen bezeichnet, entlang derer Menschen im Alltag als willensgesteuerte, orientierte und (selbst-)bewusste Subjekte interpretiert werden.Footnote 4 Darüber hinaus gehört es zu den basalen Vorstellungen vom Mensch-Sein, dass jedes Individuum über ein Selbst verfügt, das es zu achten gilt – Goffman spricht in Anlehnung an Emile Durkheim von einem „heiligen Selbst“, dessen Berücksichtigung eine wichtige Bedingung aller Interaktionen darstellt.Footnote 5

Nun thematisiert die moderne Medizin den Menschen jedoch primär als einen physiologischen Zusammenhang, als einen biologischen Körper. Historisch betrachtet ist die Entstehung dieser Perspektive an langfristige Prozesse (z. B. funktionaler Differenzierung) gekoppelt. In deren Rahmen etabliert die Medizin in der Mitte des 19. Jahrhunderts auf der Basis der Physiologie, der Bakteriologie, der Parasitologie und der Immunologie ein Konzept von Gesundheit, das der Religion, der Moral und der Erziehung weitestgehend enthoben ist und sich an naturwissenschaftlichen Kategorien orientiert.Footnote 6 Indem die Medizin den Menschen in einen „natürlichen Rahmen“ (Goffman) stellt, erzeugt sie auf der Ebene der Untersuchungs- und Behandlungspraxis, die notwendigerweise immer auch eine soziale Praxis der Interagierenden ist, ein massives Problem. Das Problem besteht darin, dass die Beteiligten zu dem gewöhnlichen Deutungsmuster des Menschen (sozialer Rahmen) auf Distanz gehen müssen, um den ärztlichen Zugriff auf den Körper zu ermöglichen. Geschieht dies nicht – verharrt die Deutung des Patientenkörpers in einem sozialen Rahmen – werden nämlich die normalüblichen Distanzregeln drastisch gebrochen.

Besonders deutlich wird dieses Problem und die darauf eingestellte Funktion der medizinischen Ästhetik insbesondere dann, wenn Körperzonen und Aspekte von Körperlichkeit untersucht werden, die aufs engste mit dem Selbst, der Individualität und der Identität der Behandelten in Beziehung stehen. Die gynäkologische Untersuchung wird in der Literatur daher schon früh als entsprechendes Konfliktfeld beschrieben. Ein praktischer Arzt argumentiert 1845 gegen die ‚neue‘ Medizin: „Einem züchtigen Fräulein dürfte es eine nicht zuträgliche Überwindung bereiten, wenn sie ihren Busen den Blicken eines jungen Aeskulaps bloßlegen soll, der ihr fremd ist“, während ein anderer Arzt seinen Kollegen ebenfalls in den 1840er Jahren folgende Empfehlung ausspricht: „So gehört es sich, dass bei der Untersuchung des Unterleibs, der Brüste etc. dies unterhalb der Bettdecke oder über dem Hemd, wenn es nicht dringende Ursachen anders gebieten, vorgenommen werde.“ (zit. nach Huerkamp 1989, S. 67) Während sexuell konnotierte Körperzonen die Schwierigkeit besonders deutlich machen, den Körper als bloß natürliches Objekt zu behandeln, wird man stärker generalisierend feststellen können, dass die Fokussierung des Körpers durch die medizinische Untersuchung allgemein eine potenzielle Bedrohung des Selbst darstellt, wenngleich hier freilich zwischen gesundem und krankem Körper und zwischen Krankheiten unter den verschiedensten Gesichtspunkten zu unterscheiden ist (z. B. hinsichtlich der Grade der Sichtbarkeit, der Selbstverursachung oder der Stigmatisierung).

Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wird die soziale Funktion der medizinischen Ästhetik deutlich: Sie dient gerade nicht der Betonung der sozialen und ‚menschlichen‘ Beziehung zwischen Ärztinnen bzw. Ärzten und Patientinnen bzw. Patienten. Ihre Funktion besteht vielmehr darin, den sozialen Rahmen für die Beteiligten herunterzumodulieren und unmissverständlich klar zu machen, dass der Zugriff auf den menschlichen Körper mit all seinen Folgen (z. B. der drastischen Nichtbeachtung üblicher körper-territorialer Grenzen) in einem „natürlichen Rahmen“ zu interpretieren ist. Wichtig ist diese Funktion nicht nur für die Behandelten (Patient*innen), sondern auch für die Behandelnden (Ärzt*innen): Man stelle sich nur eine Chirurgin bzw. einen Chirurgen vor, der bei der Operation am offenen Herzen an den individuellen Menschen ‚hinter‘ dem biologischen Körper denkt, um besser erfassen zu können, wie wichtig die Ausblendung des ‚Menschlichen‘ in klinischen Umgebungen sein kann.

Es wäre daher gänzlich falsch, die fehlende atmosphärische Wärme von Arztpraxen und Klinikräumen als Ausdruck unzureichender Bemühungen in dieser Angelegenheit zu dechiffrieren. Die medizinische Ästhetik zielt mit ihrer Sachlichkeit vielmehr (auch) auf die Herstellung sozialer Situationen ab, die die Behandlung menschlicher Körper als eine ‚Sache‘ ermöglicht und damit die nötige Handlungsrationalität in den Organisationen moderner Medizin (Praxen, Kliniken) sicherstellt. Ja man könnte sagen: Nicht nur die Ärztin bzw. der Arzt schafft den spezifischen Rahmen für die medizinische Untersuchung, sondern maßgeblich auch die medizinische Ästhetik, die Professionelle und Patientinnen und Patienten umgibt. Die Rahmenfunktion der materialen Umgebung ist umso wichtiger, als die hierfür gegebenen Möglichkeiten sprachlicher Kommunikation recht begrenzt sind – denn jede Kommunikation ist eine soziale Operation, die als solche trotz aller versachlichenden Mitteilungsstrategien („bitte mal oben/unten frei machen“) dem Deutungsmusters des natürlichen Rahmens entgegensteht.

Faktisch ereignet sich eine Art ‚Arbeitsteilung‘ zwischen den Beteiligten: Während die medizinischen Objekte den basalen (natürlichen) Rahmen der Situation sicherstellen, können die Professionellen den sozialen Rahmen situativ und personenbezogen in die Interaktion einbringen. Sie gewinnen so die Möglichkeit, sich als Menschen zu zeigen, die neben und mit der Sache (dem biologischen Körper) den individuellen Menschen (u. a. seine Emotionen und Kognitionen) berücksichtigen.

Darüber hinaus indiziert die medizinische Ästhetik eine Tiefe medizinischer Erkenntnisse, die weit über die Einzelsituation und die in diesen verhandelten Kommunikationen hinausreicht. Gerade Apparate wie z. B. Displays mit ihren Messwerten steigern potenziell das System-Vertrauen der PatientInnen in die moderne, evidenzbasierte Medizin. Deren Design symbolisiert den Universalismus des medizinischen Systems, der alle Individuen in gleicher Weise, nämlich als biologischen Körper, in den Blick nimmt. Den Gewinnen dieser Darstellungsformen stehen freilich auch Verluste gegenüber: Während die Sachlichkeit zu einer Trennung von Körper und sozialer Identität beiträgt, sodass Krankheiten z. B. weniger stark auf individuelles Handeln zugerechnet werden, womit Probleme vormoderner Medizin entlastet werden können (Krankheit als Indikator individueller Schuld), vermag die moderne medizinische Gestaltung dem Bedürfnis der sinnhaften Erfahrung von Krankheit nichts entgegenzubringen.

Wir müssen diese Überlegungen hier nicht weiterführen. Schon soweit wird erkennbar, dass die medizinische Ästhetik in ihren verschiedenen Elementen (Geräte, Räume, Lichtverhältnisse, Displays u. a.) auf soziale Bedarfslagen eingestellt ist und die soziologische Aufklärung visueller Kommunikation auf die Untersuchung jener Beziehungsgefüge zielt.

2.3 Werbung

Inwiefern nun lässt sich für das dritte Beispiel eine Einflussnahme des Sozialen konstatieren? Zunächst einmal ist evident, dass die Abbildung im Unterschied zu den beiden vorausliegenden Beispielen ihrerseits eine Fotografie zeigt. Wir haben es also mit einem Bild (Picture) im Bild zu tun (Abb. 2.3). Dessen Gattungszugehörigkeit ist unmittelbar erkennbar: Es handelt sich um Werbung, genauer gesagt um ein werbendes Großflächenplakat, das als spezifisches Werbeformat eine längere Geschichte hat.Footnote 7

Abb. 2.3
figure 3

(Quelle: Eigene Darstellung)

Werbeplakat.

Von dieser Beobachtung ausgehend kann man zunächst die Frage stellen, aus welchen sozialen Gründen großflächige Bildformate für Werbekommunikationen im öffentlichen Raum konzipiert werden. Die Antwort hängt notwendigerweise mit der Frage nach der Entwicklung der modernen, professionell organisierten und funktional differenzierten Werbung zusammen. Denn „Werben“ im weiten Sinne des Verführens kann man zunächst als eine anthropologische Konstante auffassen. Das Werben der Geschlechter weist hierauf ebenso hin wie die lange Tradition sprachlicher Überzeugungsarbeit, die schon in der griechischen Antike zur Kunst der schönen Rede (Rhetorik) ausgearbeitet ist.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzt indessen die Entwicklung eines neuen Typus von Werbung ein, der auf ein neues Bezugsproblem eingestellt ist. Dieses Problem besteht darin, dass die Realitätskonstruktionen der Massenmedien unter den Bedingungen technischer Bildmedien (beginnend mit der Fotografie) maßgeblich zu bildbasierten Realitäten werden. Kommunikationen, die unter diesen Medienbedingungen in weit ausgedehnten Räumen breitere Publika erreichen sollen, müssen nun als visuelle Kommunikationen überzeugen. Den verschiedensten Objekten muss unter medial anonymisierten Kommunikationsverhältnissen ein bildliches ‚Gesicht‘ gegeben werden. So entsteht in der Gesellschaft der Bedarf an einer Institution, die die Wahrscheinlichkeit der positiven Bewertung visueller Kommunikationen systematisch steigert. Die Werbung entwickelt sich zu eben jener Institution. Sie entfaltet eine Bildsprache, die funktional darauf eingestellt ist, die verschiedensten Objekte (Wirtschaftsgüter, politische Parteien, Non-Profit-Organisationen u. a.) entlang sichtbarer Kommunikationen zu identifizieren und potenziell positiv zu qualifizieren. Neben und mit der Herstellung von Aufmerksamkeit als einer Voraussetzung ihres Erfolges zielt Werbung also vor allem auf die Konstruktion positiver Images im Sinne von Identitätskonstruktionen, die auf visuellen Attribuierungen basieren (vgl. Kautt 2008).

Untersucht man nun das beispielgebende Werbeplakat auf gestaltbestimmende Sozialbezüge, ergeben sich gleich mehrere Anhaltspunkte. Auch ohne die von ikonografischen Methoden prinzipiell aus guten Gründen geforderte Bildbeschreibung als erstem Analyseschritt wird man sagen können, dass die weitgehende Reduktion des Gezeigten auf die Personen als ‚Kleider-Träger*innen‘ die Themen Mode und Selbstdarstellung in den Vordergrund rückt. Der Image-Kern dreht sich um Vorstellungen des ‚Gut-Aussehens‘ und, damit zusammenhängend, um Vorstellungen der positiven Stilisierung personaler Identität. Dabei soll das Inszenierte ein gutes Image für den Werbenden (das beworbene Objekt) sowie für diejenigen schaffen, die sich mit dem Angebot identifizieren wollen bzw. identifizieren sollen. Für den angestrebten Lifestyle offeriert der Text Konkretisierungen: „Geh auf Schatzsuche“, „Sei schnell, sei kühn, hab Spaß“. Diese appellativ vorgetragenen Verhaltens- und Einstellungsvorschläge mögen dem kritischen Leser Adornos Formulierung „Fun ist ein Stahlbad“ (2003, S. 162) in Erinnerung rufen. In jedem Fall reihen sie sich ein in die Vielzahl gleichlautender Motti einer „Spaßgesellschaft“, die die Kulturindustrie dies- und jenseits der Werbung häufig propagiert. Indessen ist der Text prinzipiell verzichtbar. Auch ohne ihn würde das Plakat eine Image-Kommunikation entfalten.

Gehen wir nun auf die der Bild-Inszenierung zugrunde liegenden Sozialbezüge genauer ein. Sie kommen schon durch die bloße Körperlichkeit der abgebildeten Protagonist*innen ins Bild, werden aber in der spezifischen Charakteristik ihrer Darstellung, wie gleich gezeigt, als soziale Konstruktionen lesbar. Die Werbung ist hier wie überhaupt weniger eine Erfinderin von Bedeutung als vielmehr eine Einrichtung der Gesellschaft, die bestehende Wirklichkeiten für Image-Zwecke in bestimmter Weise modulierend aufführt. Im vorliegenden Fall spielt sie mit sozial konstruierten Vorstellungen von Geschlecht ebenso wie mit sozial bedingten Vorstellungen von Alter und individueller Identität.

Erving Goffman hat in seiner klassischen Studie über „Gender Advertisments“ (1981 [1979]) gezeigt, dass und inwiefern die Werbung als eine Komprimierung der symbolischen Ordnung der Geschlechter gelesen werden kann. Für Goffman folgen die „Lesart“ oder „Kosmologie“ der „Geschlechtsklassen“ sowie das ihr entsprechende zeremonielle „Idiom“ (Goffman 1981, S. 84), das aus Ritualisierungen besteht, einer Art Leitidee, nämlich dem (Deutungs-)Muster der Eltern/Kind-Beziehung, dem „Eltern-Kind-Komplex in seiner Mittelschicht-Idealversion“ (Goffman 1981, S. 20). Dabei erscheint die männliche Seite in der ‚Rolle‘ der Eltern und die weibliche in der der Kinder.Footnote 8

Wenngleich sich auch in der Gegenwartswerbung noch viele Beispiele finden lassen, die das Gender-Arrangement im Sinne des „Eltern-Kind-Komplex“ aufs Trefflichste illustrierenFootnote 9, wird man diese „Leitidee“ nicht als die tragende der oben abgebildeten Inszenierung deuten können. Schon die klare Separierung der Personen über eigene Bilder-Rahmen verhindert eine solche Asymmetrisierung, die in anderen Reklamen häufig anhand von Körper-Interaktionen hergestellt wird. Und doch fügt sich die Inszenierung der Geschlechter bei genauerer Betrachtung in die traditionelle Ordnung: Der Mann erscheint durch eine leichte Untersicht vergrößert, demgegenüber die Frau durch die Perspektive dem Bildbetrachter gleichsam subordiniert wird. Der männliche Blick ist nach außen, mit ‚Weitblick‘ in die Ferne gewandt, der weibliche nach unten auf den eigenen Körper, tendenziell introspektiv. Dazu passen die verschiedenen Körperhaltungen: Während die seinige eine aktive, in den Raum orientierte Bewegung andeutet, scheint die Frau in einer auf den eigenen Körper bezogenen Pose zu verharren. Auch die Kleidungsstile entsprechen unter bestimmten Gesichtspunkten der gewohnten Ordnung der Geschlechter: Während sie über blond gefärbte Haare, Schmuck und Körperbemalungen (Lippenstift, Nagellack, Wimperntusche) sowie das Zeigen von etwas nackter Haut unter der Pelzstola ihre Körperreize betont, bleibt er vergleichbar ‚reizlos‘.

Neben und mit Konstruktionen von Gender fußt die Gestaltung auf weiteren sozial bedingten Vorstellungen, z. B. auf solchen von individueller Identität. Ja man kann sagen, dass das modernitätstypische Postulat einer individuell herzustellenden Identität nicht nur sichtbar, sondern geradezu normativ eingefordert wird. Die modische Kombinatorik der Models ist als Role-Model für die ästhetische Arbeit am Selbst gedacht, wobei sich die beworbene Laden-Kette als Billiganbieter von Marken-Labels als Erfüllungsgehilfe dieser Arbeit empfiehlt. Wem das Bild und der Name des Werbenden nicht als Verstehensanweisung genügt, hilft der Text auf die Sprünge: „Große Marken immer bis zu 60 % günstiger“ heißt es im Kleingedruckten, das zusammen mit dem Text „Geh auf Schatzsuche – Sei schnell, sei kühn, hab Spaß“ neben der erwähnten Aufforderung zur Spaßdisziplin zugleich als Konsumanweisung und Einladung zur modischen Selbstgestaltung gelesen werden kann bzw. soll.

Wenn man danach fragt, welche Entwicklungen im speziellen einen Bedarf an Modellen der Selbststilisierung provozieren, wird man auf den allgemeineren Beziehungszusammenhang von Gesellschaftsstruktur, Geschmack und Ästhetik reflektieren müssen, der an anderer Stelle ausführlicher thematisiert wird (vgl. 7.7.2). Da das Plakat offenkundig junge Erwachsene ansprechen soll, sei an dieser Stelle immerhin der spezifische Beziehungszusammenhang von Identitätsarbeit und (Jugend-)Kultur als Hintergrund der behandelten Werbung angedeutet. Wie Friedrich Tenbruck (1965) gezeigt hat, entwickelt sich Jugendkultur im 20. Jahrhundert als ein Moratorium, als eine Spielwiese des Erprobens von Identitäts-Entwürfen für Jugendliche und junge Erwachsene, eben weil die Familie Individuen nicht mehr hinreichend mit dem gesellschaftsnotwendigen Rüstzeug ausstatten kann. So gesehen bedient das Image auch einen gesellschaftlich bedingten Bedarf der Identitätsarbeit Adoleszierender.

Nicht zuletzt steht der behandelte Fall im Netz sozialer Konstruktionen, indem er mit einer zeittypischen Ästhetik operiert. Markant ist insbesondere die Lichtführung. Das Blitzlicht überstrahlt das Haar der Frau und lässt das Blond im Farbdruck grell erscheinen. Die Lichtführung erzeugt eine Stimmung, die sich deutlich von manch anderen Images unterscheidet – etwa dem warmen Licht, das man aus Reklamen für Produkte wie „Caro-Kaffee“, „Rama“ oder „Nutella“ kennt. Image-bildend wirkt zudem die Art des Bildausschnitts. Während die linke Seite etwas ruhiger gestaltet ist, erweckt der gleichsam rohe Anschnitt der Figur auf der rechten Seite den Eindruck eines ‚authentischen‘ Schnappschusses. Als solcher erinnert er an die ‚Reality‘-Ästhetik neuerer Fernsehformate ebenso wie an die avantgardistische Kunst- und Mode-Fotografie z. B. eines Jürgen Teller. Auch ein Vergleich mit der amateurhaften Porträt-Ästhetik, die durch die Omnipräsenz von Social-Media und Smartphones ihren jüngsten Erneuerungsschub erhält, drängt sich auf.Footnote 10 Verstärkt wird dieser Eindruck durch die Montage zweier Bilder auf einer Bildfläche – eine Konstellation, die für die computerisierten Medien eher die Regel als die Ausnahme ist.

Nun steht dieser ‚Modernismus‘ zugleich in einem eigentümlichen Kontrast zum Retro-Look, der die vorgeführte Mode kennzeichnet. Dieser Look lässt ebenso wie die Ausstaffierung des weiblichen Models (Pelzstola, Kleid, Frisur und Haarfarbe) an ‚Vor-Bilder‘ denken, etwa an Film-Stills von Marylin Monroe oder an künstlerische Nachahmungen derselben im Stile von Cindy Sherman. Wenngleich Interpretationsbezugspunkte wie die zuletzt genannten zugegebenermaßen etwas spekulativ bleiben, kann man doch sagen, dass sich die Ästhetik des Plakats an eine zeittypische Bildsprache des Fotografischen, der Mode, der Unterhaltung und der Kunst anlehnt, die man bei einem bestimmten Publikum als bekannt und akzeptiert voraussetzen kann. Ja man kann sagen, dass sich hier eine Ästhetik manifestiert, die zum lebenswirklichen Erfahrungszusammenhang und zur (Geschmacks-)Mentalität einer Generation gehört. Der Begriff der ‚Mode‘ erfasst den hier gemeinten Zusammenhang nur unzureichend, denn gemeint sind stabilere und unter Lebensstilgesichtspunkten weiterreichende ästhetische Muster einer zeithistorischen Konstellation, in die sowohl die Medienproduktion als auch die Rezeption eingebunden sind.