Zusammenfassung
Ausgehend von den aktuellen Debatten rund um die Zugehörigkeit „des“ Islam zu Europa geht der Beitrag der Frage nach der Bedeutung und Rolle von Religion im Kontext von Wertebildungsprozessen nach. Dies geschieht aus sozialwissenschaftlicher sowie praktisch-theologischer Sicht. Zunächst wird der aktuelle Forschungsstand zum Verhältnis Religion, Werten und Wertebildung dargestellt. Da sozioreligiöse Transformationsprozesse massiven Einfluss auf dieses Verhältnis haben, folgt sodann ein religionssoziologischer Überblick über die wichtigsten „Treiber“ sozioreligiöser Dynamiken im religiösen Feld Europas, v. a. Säkularisierung und Migration und die damit verbundene Herausforderung einer „doppelten Pluralisierung“ (Peter L. Berger). Das Verständnis dieser Dynamiken bildet die hermeneutische Basis der Interpretation des empirischen Teils des Beitrags. Dieser beantwortet die leitende Frage ethnografisch aus der Sicht der Befragten der dem Band zugrunde liegenden qualitativen Studie. Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei auf der Sichtweise von Personen, die sich selbst als säkular verstehen. Im Vergleich mit religiösen Personen werden dabei zahlreiche gesellschaftlich relevante Spannungen und Konfliktlinien sichtbar. Der Beitrag betont die Bedeutung religiöser Bildung als eine zentrale Konsequenz.
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Z. B.: „Der Islam passt nicht zu unseren Werten“ (Tagesanzeiger“, 30.5.2017).
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Astrid Mattes (2016) zeigt anhand einer Analyse von über 800 Parlamentsprotokollen, Presseberichten, politischen Stellungnahmen aus Österreich, Deutschland und der Schweiz, wie in einem Zeitraum von 20 Jahren v. a. die christdemokratischen Parteien den Islam zum Politikum gemacht haben und auf diese Weise ihre inneren Probleme bearbeiten: sei es durch die Problematisierung des Islam, die Aufspaltung in einen „guten“ und einen „bösen“ Islam oder die Konstruktion einer „universalen Religion“ auf Basis des christlichen Erbes.
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Drei Viertel betrachten aber einen an „europäischen Werten“ orientierten Islam durchaus als Teil Europas.
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Man könnte rückfragen, ob mit dem sprachlichen Aufgreifen von Formulierungen aus Teilen der Bevölkerungen solche Wahrnehmungsmuster nicht auch verstärkt oder überhaupt erst geschaffen werden.
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„Muslime- Studie: Große Unterschiede bei Werthaltungen“ (Der Standard 10.08.2017).
- 6.
Zum Folgenden Freise und Khorchide (2014a, S. 25 ff.).
- 7.
Nach Armin Wildfeuer (Freise und Khorchide 2014a, S. 26).
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Spätestens mit der Aufklärung ist das Judentum gezwungen, sich mit der Frage des Verhältnisses zwischen heteronomer-göttlicher und autonom-menschlicher Herkunft ethischer und moralischer Konzeptionen auseinanderzusetzen. Christentum und Islam wissen lange vor der europäischen Aufklärung um die zentrale Rolle der Vernunft bei ethischen Reflexionen. Dass Menschen eine Art „natürlicher Moralität“ kennen, ist allen dreien seit Jahrtausenden bewusst. Diese bedarf jedoch ethischer Bildung (vgl. die Beiträge in Freise und Khorchide 2014b).
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Das Judentum versteht sich seit jeher als Bildungsreligion und das Christentum hat als Bildungsreligion Europa maßgeblich geprägt. Vor der Zerstörung der größten Bibliotheken im arabischen Raum durch die Hunnen (Bagdad 1258) war der islamische Raum Zentrum des globalen Weltwissens.
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Auf diesen Zusammenhang hat Hannah Arendt (1986, S. 319) aufmerksam gemacht, die den Wertebegriff erstmals im „Leviathan“ des Thomas Hobbes (1588–1679) entdeckt.
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„Der Wert des Lebens“ (Die Zeit, 23.1.2018).
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Die problematischen Dimensionen gewisser Wertevorstellungen in manchen islamischen Communities (patriarchale Wertvorstellungen, religiöser Fundamentalismus, kulturelle Konzepte von Autorität und Ehre) werden damit nicht beschönigt, aber in ein relationales Verhältnis zur europäischen Geschichte und Gegenwart gesetzt.
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Während sich z. B. ein christlich-westlicher Zugang an der Innerlichkeit von Werten orientiert, sind östliches Christentum, Judentum und Islam stärker an sozialen, rituellen und politischen Werten ausgerichtet.
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Die folgende Darstellung folgt Schweitzer (2008, S. 33 ff.).
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Auch wenn Religionen die Pluralität der Religionen in ihrem eigenen theologischen Horizont reflektieren müssen, scheint die Idee einer Einheit der Religionen als Lösung der Frage nach ihrem Beitrag in einer pluralen Gesellschaft eine zwar gut gemeinte, aber doch irreale, religiösen Traditionen wie historischen und soziopolitischen Realitäten unangemessene Fiktion zu sein.
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„Nihilism: es fehlt das Ziel; es fehlt die Antwort auf das ‚Warum?‘ was bedeutet Nihilism? – daß die obersten Werthe sich entwerthen“ (Nietzsche 1970).
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Vgl. z. B. das Projekt „Lebens.Werte.Schule“ des Instituts für Praktische Theologie in Kooperation mit der Kirchlich -Pädagogischen Hochschule Wien/Krems (www.lebenswerteschule.univie.ac.at); den Krankenhausverbund von Ordensspitälern „Vinzenzgruppe“ (www.vinzenzgruppe.at/wir-ueber-uns/unsere-werte/unsere-kultur-und-unsere-werte/wertemanagement, alle zuletzt abgerufen am 25.07.2018).
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Die „Aktion Leben“ ist ein unabhängiger und gemeinnütziger Verein, der Schwangerschaftsberatung betreibt. Er distanziert sich ausdrücklich von Gruppen, die vor Abtreibungskliniken Frauen durch Ansprechen oder das Zeigen von Bildern belästigen (www.aktionleben.at/site/ueberuns/werwirnichtsind, zugegriffen: 25.07.2018).
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Tatsächlich kennt der Islam eine Epoche der Aufklärung. Aber was haben die damit assoziierten sozialdarwinistischen Thesen mit der islamischen Aufklärung zu tun? Die historische Referenz wird benützt, um die Gegenwart „des“ Islam noch schärfer abwerten zu können.
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In Österreich gibt es im Unterschied zum Laizismus Frankreichs mit dem Konkordat keine strikte Trennung zwischen Kirche und Staat.
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Z. B. das Päpstliche Dikasterium für den Dienst zugunsten der ganzheitlichen Entwicklung des Menschen (www.vatican.va/roman_curia/index_ge.htm) oder die Aktivitäten der Konferenz europäischer Kirchen (www.ceceurope.org/news/deutsch, zugegriffen: 25.07.2018).
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Polak, R., Klaiber, J. (2019). Auf Spurensuche: Religion im Kontext von Wertebildung. In: Verwiebe, R. (eds) Werte und Wertebildung aus interdisziplinärer Perspektive. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-21976-5_7
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