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Vom Gebrauch der Wissenschaft

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Book cover Die Wissenschaftssoziologie Pierre Bourdieus
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Zusammenfassung

Im vierten Kapitel wird gezeigt, dass die Feldtheorie nicht nur ein wissenschaftssoziologischer Theoriebeitrag ist, sondern zugleich die theoretisch-konzeptionelle Grundlage zur praktischen Umsetzung der Reflexivitäts-Programmatik darstellt. Dazu wird zunächst Bourdieus Forderung nach einer kollektiven Selbstanalyse der Wissenschaft aufgegriffen, um anschließend seine Wissenschaftstheorie im Geiste der Kritischen Theorie zu beleuchten. Zur besseren Verortung der politischen und erkenntnistheoretischen Implikationen der Bourdieu’schen Theorie erscheint ein Rückgriff auf die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu Jürgen Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns hilfreich. Bourdieu bezieht sich in seiner Wissenschaftssoziologie wiederholt, aber eher beiläufig auf Habermas. Allerdings leitet er von ihm zentrale Aspekte seiner Forderung nach einer Realpolitik der Vernunft ab. Aus diesem Grund werden die zentralen Parallelen rekonstruiert, um Bourdieus Gedankengang und die politischen Konsequenzen seiner Erkenntniskritik nachvollziehbar zu machen.

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Notes

  1. 1.

    Die Idee der Auto-Analyse hat in der Soziologie bereits Anschluss gefunden. Didier Eribons autoanalytische Schrift Rückkehr nach Reims (Eribon 2016) greift Bourdieus Idee explizit auf und versucht sie fortzuführen.

  2. 2.

    Lediglich der Untertitel „Für eine klinische Soziologie des wissenschaftlichen Feldes“ stammt von Bourdieu. Der Haupttitel Vom Gebrauch der Wissenschaft wurde von den Veranstalter*innen dieses Vortrags vorgegeben (Bourdieu 1998 [1997], S. 14).

  3. 3.

    Jede theoretische Übertragung des Feldkonzepts auf Institutionen und Organisationen bleibt daher überaus schwierig. Zum Verhältnis von Feld und Institution vgl. Everett (2002); Florian (2006); Baier und Schmitz (2012).

  4. 4.

    Daneben sind noch das „Centre national de la recherche scientifique“ (CNRS; Nationales Zentrum für wissenschaftliche Forschung), das „Institut national de la santé et de la recherche médicale“ (INSERM; Nationales Zentrum für Gesundheit und medizinwissenschaftliche Forschung), das „Institut national de recherche en informatique et en automatique“ (INRIA; Nationales Forschungsinstitut für Informatik und Automatisierung), das „Institut national de la statistique et des études économiques“ (INSEE; Nationales Institut für Statistik und Wirtschaftsstudien) sowie das „Commissariat à l’énergie atomique et aux énergies alternatives“ (CEA; Kommissariat für Atomenergie und alternative Energien) zu nennen.

  5. 5.

    Für eine grundlegende Auseinandersetzung mit dem Autonomie-Begriff in der Soziologie vgl. Franzen et al. (2014).

  6. 6.

    Für eine ausführliche Diskussion der Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Merton und Bourdieu vgl. Orozco (1996).

  7. 7.

    „Wenn Sie einen Mathematiker ausstechen wollen, muss es mathematisch gemacht werden, durch einen Beweis oder eine Widerlegung. Natürlich gibt es immer auch die Möglichkeit, dass ein römischer Soldat einen Mathematiker köpft, aber das ist ein ‚Kategorienfehler‘ […]“ (Bourdieu 1998 [1997], S. 28).

  8. 8.

    Zu Bourdieus Auseinandersetzung mit der Systemtheorie vgl. Bourdieu und Wacquant (2006 [1992], S. 134–135).

  9. 9.

    Weber entwickelte zwar zunächst, so Marcuse, einen kritischen Begriff der kapitalistischen Vernunft: „Aber dann macht die Kritik halt, akzeptiert das angeblich Unabwendbare und wird zur Apologetik – schlimmer noch: zur Denunziation der möglichen Alternative“ (Marcuse 1965, S. 166).

  10. 10.

    Horkheimer hat diesen Gedanken in allgemeiner Form bereits auf das Verhältnis von Philosophie und Naturwissenschaften hin formuliert: „Die Positivisten passen“, so Horkheimer, „die Philosophie an die Wissenschaft an, d. h. an die Erfordernisse der Praxis, anstatt die Praxis an die Philosophie anzupassen […]. Positivismus ist philosophische Technokratie“ (Horkheimer 1967, S. 64).

  11. 11.

    Horkheimer schreibt dazu: „Nachdem sie die Autonomie aufgegeben hat, ist die Vernunft zu einem Instrument geworden“ (Horkheimer 1967, S. 30).

  12. 12.

    Zwar unterscheidet Horkheimer auch zwischen der objektiven und der subjektiven Vernunft. Diese beiden sollen sich wechselseitig kritisch verhalten. Im Mittelpunkt steht dabei aber, dass sich ein Mangel an objektiver Vernunft als Pathologie ausdrückt und somit auf subjektiver Ebene erscheint.

  13. 13.

    In drei zentralen Werken nimmt Bourdieu in Untertiteln Bezug auf die Kritiken Kants: „Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft“ (Bourdieu 1982 [1979]), „Kritik der theoretischen Vernunft“ (Bourdieu 1987 [1980]) sowie in „Kritik der scholastischen Vernunft“ (Bourdieu 2004 [1997]).

  14. 14.

    Diese explizite Auseinandersetzung ist umso bemerkenswerter, als Bourdieu in vielen anderen Fällen eine direkte Auseinandersetzung mit für ihn bedeutenden Autoren (Norbert Elias, Edmund Husserl, Thorstein Veblen) vermissen lässt (Lenger et al. 2013b).

  15. 15.

    Für einen Versuch in diese Richtung am Beispiel von Pathologien und kollektiven Lernprozessen in sozialen Feldern siehe Forchtner und Schneickert (2016).

  16. 16.

    Habermas leitet aus seiner Auseinandersetzung mit der frühen Vorlesung Hegels zur „Philosophie des Geistes“ (Habermas 1969, S. 9–47) die Zentralität seines Begriffs des kommunikativen Handelns ab. Habermas arbeitet an dieser Stelle heraus, inwiefern sich Hegel von Kant im Hinblick auf die Bestimmung des Ich unterscheidet. Während Kant das Ich transzendental als ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption begreift, ist bei Hegel die Subjektivität des Ich als Reflexion bestimmt (Habermas 1969, S. 12). Als solche sind die Bildung des Bewusstseins und des Geistes als Prozesse begreifbar, was für Habermas den Ausgangspunkt darstellt, um Sprache und Arbeit im Hinblick auf den Bildungsprozess des Geistes zu unterscheiden.

  17. 17.

    „Während das instrumentale Handeln dem Zwang der äußeren Natur korrespondiert und der Stand der Produktivkräfte das Maß der technischen Verfügung über Gewalten der Natur bestimmt, steht das kommunikative Handeln in Korrespondenz zur Unterdrückung der eigenen Natur: der institutionelle Rahmen bestimmt das Maß einer Repression durch die naturwüchsige Gewalt sozialer Abhängigkeit und politischer Herrschaft. Die Emanzipation von äußerer Naturgewalt verdankt eine Gesellschaft den Arbeitsprozessen, nämlich der Erzeugung technisch verwertbaren Wissens […]; die Emanzipation vom Zwang der inneren Natur gelingt im Maße der Ablösung gewalthabender Institutionen durch eine Organisation des gesellschaftlichen Verkehrs, die einzig an herrschaftsfreie Kommunikation gebunden ist“ (Habermas 1973, S. 71).

  18. 18.

    Habermas wendet sich hier gegen Marx, der seinerseits versuche, „den welthistorischen Bildungsprozess der Menschengattung aus Gesetzen der Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens zu rekonstruieren“ (Habermas 1969, S. 45). Marx reformuliert den Hegel‘schen Bildungsprozess des Geistes als Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, worin Habermas eine für unzulässig erachtete Vermengung von Interaktion und Arbeit, von kommunikativem und instrumentellem Handeln identifiziert. Er wirft Marx vor, den Zusammenhang von Interaktion und Arbeit nicht expliziert zu haben, „sondern unter dem unspezifischen Titel der gesellschaftlichen Praxis eins auf das andere reduziert, nämlich kommunikatives Handeln auf instrumentelles zurück[ge]führt“ zu haben (Habermas 1969, S. 45). An dieser Stelle tritt eine deutliche Divergenz zwischen Habermas und Bourdieu zutage, denn immerhin rückt Bourdieu mit seiner Entwicklung einer „Theorie der Praxis“ (siehe Kap. 2) den Praxisbegriff in den Mittelpunkt. Der Praxisbegriff jedoch ist Habermas im Hinblick auf die Vermengung von Interaktion und Arbeit zu unscharf.

  19. 19.

    Habermas gibt selbst den Hinweis, dass er die Lebenswelt als Raum der Aushandlung eines Konsensus unter Bürger*innen sieht (Habermas 1969, S. 114, 1976 [1962]). Die Partizipation an der Lebenswelt qua Bürger*innenstatus bleibt jedoch problematisch, da die bürgerliche Neigung und die Fähigkeit an Fragen der Öffentlichkeit interessiert zu sein und an einer Öffentlichkeit zu partizipieren, soziale Voraussetzungen hat, die es auszuleuchten gilt. Insofern verklärt Habermas eine bürgerliche Ideologie. Bourdieus Kritik an der scholastischen Vernunft kann in diesem Lichte gesehen werden (Bourdieu 2004 [1997], S. 84; siehe auch Kap. 2).

  20. 20.

    „Es gehört zu den Argumentationsvoraussetzungen, dass wir im Vollzug der Sprechakte kontrafaktisch so tun, als sei die ideale Sprechsituation nicht bloß fiktiv, sondern wirklich – eben das nennen wir eine Unterstellung“ (Habermas 1984, S. 181).

  21. 21.

    Das intellektuelle Feld ist für Bourdieu das Ergebnis des historischen Prozesses der Autonomisierung von Feldern. Bourdieu zufolge spielte sich dieser Prozess vornehmlich im 19. Jahrhundert zunächst im literarischen, dann im künstlerischen und letztlich auch im wissenschaftlichen Feld ab. Im Ergebnis „gelangten die autonomsten Akteure dieser autonomen Felder zu der Einsicht, dass ihre Autonomie nicht an die Ablehnung der Politik gebunden ist und sie sehr wohl als Künstler, Schriftsteller und Wissenschaftler in das politische Feld intervenieren können“ (Bourdieu 1991a, S. 44).

  22. 22.

    Bourdieu grenzt die Begriffe des „Offiziellen“ und des „Universellen“ nicht dezidiert voneinander ab. Mit dem Offiziellen meint er im engeren Sinne eine reflexive und repräsentative Öffentlichkeit. „Das Offizielle ist […] das Öffentliche; es ist die Idee, die die Gruppe von sich selbst hat, und die Idee, die sie von sich selbst vermitteln möchte; die Repräsentation (im doppelten Sinne einer mentalen Vorstellung wie einer theatralischen Darstellung), die sie von sich geben möchte, wenn sie sich als Gruppe präsentiert“ (Bourdieu 2013, S. 97). Bourdieu überträgt diesen gruppenbezogenen Öffentlichkeitsgedanken auf die Gesellschaft. In diesem Fall ist das Universelle gemeint. Im Universellen sind diesem Verständnis zufolge demokratische und konsensuale gesellschaftliche Aushandlungsprozesse enthalten.

  23. 23.

    Leider kann an dieser Stelle keine Diskussion der Bedeutung Bourdieus im öffentlichen Diskurs erfolgen. Zur Rolle Bourdieus als öffentlicher Intellektueller vgl. umfassend Swartz (1997, 2003); Rehbein (2006b); Hirschfeld und Gengnagel (2017).

  24. 24.

    Das Konzept des Machtfeldes bei Bourdieu entstand im engen Zusammenhang mit seiner Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Eliten (Bourdieu und Martin 1978; Bourdieu 1988 [1984], 2004 [1989]). Bourdieu verband im Laufe seiner Auseinandersetzung mit diesen sozioökonomisch starken Gruppen seine Vorstellung von gesellschaftlicher Dominanz mit einem relationalen Feldkonzept, wonach diese Gruppen als Teile oder Sektoren des Sozialraums bzw. eines übergeordneten Machtfeldes ausgedeutet wurden. Aus diesem Zusammenhang heraus ist auch die theoretische Nähe des Machtfeldes mit dem Staat bei Bourdieu zu erklären (Bourdieu 1998 [1994], S. 93–125, 2013).

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Lenger, A., Rhein, P. (2018). Vom Gebrauch der Wissenschaft. In: Die Wissenschaftssoziologie Pierre Bourdieus. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-21903-1_4

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  • Publisher Name: Springer VS, Wiesbaden

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