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Die Situation: Interaktion im sozialen Kontext

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Zusammenfassung

Situationen sind die empirischen Basiseinheiten der sozialen Realität. Sie wird durch die Kopräsenz von Akteuren konstituiert und enthält stets eine materielle, soziale und kognitive Ausstattung. In diese Ausstattung sind soziale, aber auch psychodynamische Vorsteuerungen und Anweisungen eingeschrieben, die den Verlauf der Situation beeinflussen. Von besonderer Bedeutung für den Verlauf der Situation ist die Beziehungsdynamik der Akteure, die sich gegenseitig in ihren virulenten bewussten und unbewussten Dispositionen ansprechen. Daraus ergibt sich ein dynamisierendes System von verschränkten Übertragungen, wobei der weitere Verlauf der Situation vom Zusammenspiel der beteiligten Faktoren bestimmt wird. Da dieses Zusammenspiel selten konfliktfrei ist, sind interaktive Kontroll- und Reparaturmechanismen erforderlich (ohne immer wirksam zu sein). Die Logik fokussierter und nicht-fokussierter Situationen (im Sinn von Goffman) und das Zusammenspiel von sozialer Logik und Psychodynamik werden an Hand von Alltagssituationen und deren literarischer Schilderungen dargestellt.

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Notes

  1. 1.

    Das Thema „Handeln“ ist in der Soziologie zwar theoretisch umstritten, aber noch einigermaßen deutlich. Die Möglichkeit, Handlungen auf Subjekte und ihre Aktivitäten zu beziehen und zu beschränken, ermöglicht eine vergleichsweise eindeutige Bestimmung und Abgrenzung. Handeln lässt sich daher vergleichsweise deutlich aus einem komplexen Geschehen hervorheben. Wenn jedoch dieses komplexe Geschehen, in welches Handeln typischerweise integriert ist, selbst zum Thema wird, besteht diese Möglichkeit nicht mehr – das Zusammenspiel von Handlungen verschiedener Akteure im sozialen Kontext lässt sich nicht mehr so einfach identifizieren. Es sind daher verschiedene Anläufe unternommen worden, die eine Fülle von Anregungen bieten, aber nicht unbedingt kompatibel sind. Es würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, dies im Einzelnen zu diskutieren; der Versuch einer umfassenden Integration wäre ebenso aussichtslos wie sinnlos – siehe oben. Das folgende Vorgehen ist daher selektiv und orientiert sich einerseits an verschiedenen Angeboten und ihren Leistungen, andererseits an der Frage, inwiefern psychodynamische Perspektiven (und insbesondere die Anregungen psychoanalytischer Theorie) eine sinnvolle Erweiterung der soziologischen Sicht darstellen.

  2. 2.

    Luhmann behandelt das von ihm angesprochene „überschießende Potenzial“ nicht weiter, sondern „naturalisiert“ es (s. o.). Daher stellt er auch nicht die Frage, was es stimuliert, aus was es besteht und inwiefern es situativ gebraucht/genutzt wird (s. u.). Seine Darstellung diskutiert nur Möglichkeiten der Situation, über als abweichend verstandenes Verhalten Kontrolle zu gewinnen und kommt zu dem Befund, dass sowohl die direkte Thematisierung als auch die Moralisierung des Verhaltens riskante Strategien sind.

  3. 3.

    Goffmans Motto – es geht um Situationen und ihre Menschen – verweist auf den Vorrang einer soziologischen Rekonstruktion des Geschehens. Dazu klammert er Psychologisches nicht völlig aus, aber er verwendet es (so die Selbstauskunft) „in ganz vereinfachter und verkürzter Form, um der soziologischen Analyse von Gesprächen, Jagdveranstaltungen, Banketten, Prozessen und Stadtbummeln zu genügen“ (Goffman 1971, S. 9). Diese Strategie ist in gewisser Weise halbherzig und führt dazu, dass Goffman die beteiligten psychischen Faktoren entweder (ähnlich wie viele Vertreter der „Sociology of emotions“) völlig „soziologisiert“, sie also nur als logischen Effekt der sozialen Verhältnisse sieht oder aber „naturalisiert“, d. h. sie als mehr oder weniger spontan auftretende Ereignisse, mit denen soziale Wirklichkeit umgehen muss, behandelt.

  4. 4.

    Diese Figuren, Manöver und Strategien gelten im Prinzip auch in indirekten sozialen Kontakten, also in transsituativen Interaktionen. Beispielsweise haben Knauth und Wolff (1991) am Beispiel von Gutachten gezeigt, dass es auch dort eine „Präferenzordnung“ gibt, die dazu führt, dass etwa „dispräferierte Aktivitäten“ verzögert werden; wie an sich taktvolle Äußerungen genutzt werden, um negative Eindrücke zu erzeugen; wie verhindert wird, dass negative Kritik als offene Disqualifizierung erscheint etc.

  5. 5.

    Man könnte auch eine Ein-Personen-Situation als Referenz nehmen. Zweifellos findet auch singuläres Handeln in situierten Konfigurationen statt; zweifellos hat auch diese Situation die im Folgenden skizzierten Merkmale. Es fehlt allerdings der entscheidende dynamisierende Faktor: die Kopräsenz verschiedener Akteure.

  6. 6.

    Auch Luhmanns autochthone Konstitution der Situationslogik stützt sich auf einen Kontext: mindestens darauf, dass es andere Ebenen der Systembildung gibt (die z. B. „Moralisierung“ formatieren) und auf die von ihm geforderte allgemeine Logik sozialer Systembildung.

  7. 7.

    Es wurde schon angesprochen (und wird später noch wiederholt), dass „affektive Neutralität“ nicht mit Affektfreiheit identisch ist: Es handelt sich um einen spezifischen Zustand des psychischen Prozesses, in dem psychodynamische Mittel genutzt werden, um Psychodynamik so zu kontrollieren, dass sie bestimmte Handlungen stützt, aber nicht beeinflusst. Das schließt auch nicht aus, dass „affektive Neutralität“ insgesamt im Rahmen von psychodynamisch gesteuerten Programmen operiert – die Herstellung eines „Hassvideos“ verlangt „affektive Neutralität“, ist jedoch alles andere als „affektiv neutral“.

  8. 8.

    Die Differenz zwischen Programmen und in sozialer Struktur eingeschriebenen Manifestationen ist stets auch eine potenzielle Bruchstelle. Regeln können beispielsweise empirisch mit Schlupflöchern und Gegenregeln versehen sein, sodass sich auch gegen dominante Programme eine davon abweichende Wirklichkeit halten kann. Dass wiederum kann auch den Programmen indirekt dadurch dienen, dass sie vor ihren eigenen Konsequenzen geschützt werden.

  9. 9.

    Wie in anderen ähnlichen Fällen leidet die Diskussion darunter, dass der Begriff Norm viel (zu viel) Verschiedenes umfasst (unterschiedliche Themen, Funktionen und Ebenen). Die konkreten Beschreibungen beziehen sich dann meist auf eine dieser Referenzen (und passen für die anderen nicht oder kaum).

  10. 10.

    Man könnte versuchen, die Evolution des psychodynamischen Profils von Normen nachzuzeichnen. Es liegt nahe, daran zu denken, dass durch die Modernisierung von Gesellschaften die Strategie der über-ich-betonten und paternalen Begründung ersetzt oder überlagert wird durch ich-betonte und nutzenorientierte Normen. Das würde auch für eine systematische Verschiebung in der Funktionsweise von Normen und andere Formen der Generierung von Commitment sprechen. – Zum Verhältnis von gesellschaftlicher Evolution und Psychodynamik vgl. weiter unten.

  11. 11.

    Aus psychodynamischer Perspektive passen daher die „normative“ und die „interpretative“ Sicht der Dinge nicht nur zusammen, sie gehören zusammen: Die psychodynamische Wirkung von außen (Drohung, Verführung, Versprechen) appelliert an die innere Wirkung (die in der Psyche wirksamen Syndrome); die subjektive Psychodynamik übersetzt die externen Vorgaben in wirksame Aktionen. Erst aus der Verschränkung ergibt sich eine Wirkung. – Eine eindeutige Passung und Komplementarität ist dabei jedoch eher ein Sonderfall, der umso unwahrscheinlicher ist, als im Normalfall weder die Normen noch der psychische Prozess der Verarbeitung eindeutig sind. Der Normalfall ist daher eher ein bestimmtes Maß an Passung versehen mit mehr oder weniger ausgeprägten Dissonanzen.

  12. 12.

    Und zwar vor allem durch die Nutzung des dominanten Codes, durch autoritatives Auftreten, durch die Vermittlung des guten Gefühls, die richtige Ordnung zu unterstützen und ähnliche, zu den von Kohlberg beschriebenen Rollenmustern passende Konnotationen.

  13. 13.

    Generell sind Normen nur in Ausnahmefällen bzw. als Muss-Normen sensu Dahrendorf einigermaßen präzise definiert. Dazu kommt in diesem Fall die Widersprüchlichkeit der Verhältnisse, die sich in Unzulänglichkeiten und Diffusität der Normen spiegelt. Dies gilt erst recht für konfligierende Normen. – Der Einfachheit klammere ich diese Komplikationen im Folgenden weitgehend aus.

  14. 14.

    Man könnte sagen: Alles, was in einer Situation präsent und definiert ist, ist ein soziales Objekt. Das macht es jedoch erforderlich, Objektklassen zu differenzieren. Es bietet sich an, zwischen faits sociaux im engeren Sinn, sozial definierten materialen Objekten und Akteuren zu unterscheiden. Dieser pragmatischen Unterscheidung folgt die Darstellung.

  15. 15.

    Das schließt nicht aus, dass es Kontexte (etwa Schulklassen) gibt, in denen einzelne Gegenstände auch als singuläres Symbol funktionieren können.

  16. 16.

    Es ist kein Zufall, dass die repräsentativen Räumlichkeiten der Reichskanzlei zur Einschüchterung von Besuchern, aber nicht für die tägliche Arbeit genutzt wurden – zu viel Aufladung der materialen Struktur lässt die Situation sklerotisieren. Dazu kam, dass auch der Führer selbst lächerlich klein in der gigantischen Umgebung wirkte ….

  17. 17.

    Dies gilt immer dann, wenn andere Akteure funktionale Statisten sind, also als Personen keine Rolle spielen. Daher ist der Kunde für den Verkäufer genauso „Personal“ wie umgekehrt. – Im Übrigen passt der Ausdruck „platonisch“ hier eigentlich nicht richtig, weil damit meist eine reziproke Leidenschaft gemeint ist, die nicht zur Tat schreitet. Aber er hebt – passend – die Begrenzung auf internes Erleben hervor.

  18. 18.

    Ausgeklammert bleibt deshalb hier die Form von Anwesenheit, die nicht mit körperlicher Präsenz, also Wahrnehmbarkeit, verbunden ist – also Kameras, die das Geschehen überwachen, Einwegspiegel etc. Diese Situationen stehen gewissermaßen zwischen Anwesenheit und Abwesenheit eines anderen Akteurs. In jedem Fall fehlt die Reziprozität.

  19. 19.

    Berne erläutert nicht, warum er die Freud-Vorgaben überhaupt in sein Modell transformiert hat.

  20. 20.

    Vorteilhaft ist – im Vergleich mit der weiter oben verwendeten Skizze der Psyche –, dass sie ebenso griffig ist wie das Berne’sche Modell.

  21. 21.

    Freud hatte den Begriff Gegenübertragung ursprünglich als Reaktion des Arztes auf die Übertragung des Patienten beschrieben (vgl. GW X, S. 49 f.). Der von ihm bereits früh (1895; vgl. GW I, S. 307) entdeckte Prozess der Reaktivierung vorhandener Dispositionen in der therapeutischen Situation – die Übertragung – ist (siehe oben) ein systematischer Modus der psychischen Kontaktaufnahme und der Reaktion auf Umweltgegebenheiten. Im Prinzip ist die Gegenübertragung nichts anderes als eine Übertragung (die stets eine Reaktion und Aktion zugleich ist).

  22. 22.

    Dies ist für ihn eine Art Grundgesetz der Resonanz: kein anderer Akteur teilt die Besetzung der Themen, die ein Akteur ihm mitteilt. Stattdessen kommt es zu einer abgeschwächten, von Empathie getragenen Reaktion auf der Basis von Identifizierungen: „Das Gefühl, das einen seelischen Inhalt innerhalb seines ersten Trägers begleitete, (pflegt) innerhalb eines zweiten, auf den dieser Inhalt übergeht, erheblich abgeschwächt zu werden.“ (A. a. O., S. 127).

  23. 23.

    Aus heutiger Sicht ist unübersehbar, dass Freuds Konzept des Ödipuskomplexes von den spezifischen Bedingungen der bürgerlichen Kleinfamilie eingefärbt ist. Unter den Bedingungen des „Spätpatriarchats“ wird die Neuorganisation der Beziehungsstruktur der Familie nicht zuletzt von der problematischen Identität (und, damit verbunden, den Verlustängsten und Projektionen) der Väter bestimmt. Freud hat in seinem Konzept die auf besondere Weise zugespitzte Form der Triangulierung in der bürgerlichen Kleinfamilie und damit auch deren Problemlagen generalisiert. Die historische und ethnologische Forschung hat verdeutlicht, dass die Variationsmöglichkeiten (und damit die Möglichkeiten und Probleme) erheblich variieren können. Die Triangulierung selbst ist jedoch ein Schlüsselprozess der sozialen Organisation und Tradierung (vgl. z. B. Reiche 2004).

  24. 24.

    So wie das chinesische Sprichwort sagt: Wer in der Mitte der Straße geht, kann von beiden Seiten mit Steinen beworfen werden.

  25. 25.

    Daraus bzw. deswegen können sich ausgearbeitete Strategien der Vermeidung von Konfliktthemen oder der Kompensation von Debalancierungen des Beziehungsfeldes entwickeln.

  26. 26.

    Hinter der bekannten Weisheit, dass niemand so sehr zur Unterhaltung beiträgt wie Abwesende, steht daher letztlich der Beitrag, den Abwesende zu einer spezifischen Form der sozialen Integration leisten. Das bedeutet jedoch auch, dass die interne Möglichkeit von Dissens reduziert wird. Lästern über Abwesende macht sie zu disqualifizierten Objekten und macht Anwesende zu Komplizen einer gemeinsamen Negativ-Idealisierung, nötigt sie damit zur Anpassung.

  27. 27.

    Da „szenisches Verstehen“ gewissermaßen ein Hybridprodukt von kognitivem Verstehen und spontaner psychischer Resonanz ist, handelt es sich auch hier um einen Vorgang, der Verstehen, Erahnen und projektive Formatierung vermischt. Das heißt auch, dass sowohl eine präzise Erfassung als auch eine völlige Verkennung der Situation möglich ist – u. U. beides zugleich.

  28. 28.

    Genauer gesagt: Auch und gerade voll durchregulierte Zeremonien verlangen in hohem Maße individuelle Disziplinierung und individuelles Engagement – auch die vollständige Erfüllung von Anforderungen ist eine schwierige Leistung, die die Psyche alarmiert und unter Druck setzt.

  29. 29.

    Anders ausgedrückt: Sie werden fokussiert, wenn sie sich über die Einhaltung von Regeln der Nichtfokussierung hinaus entwickeln (so auch Goffman zumindest implizit).

  30. 30.

    Gibt es Milieus, in denen Interaktion keinen bestätigenden Austausch braucht? Ein Stück weit sind alle instrumentellen und funktionalen Interaktionen (s. u.) frei von unmittelbarer Zustimmung; sie sind jedoch auf abschirmende psychische Leistungen angewiesen. Ein geringes Maß zeigen auch Interaktionen, die unter Un-Disziplinierten und/oder unter anomischen Bedingungen stattfinden. Hier reißt der Gang der Dinge die Akteure mit und hält sie zusammen – oder sprengt sie auseinander.

  31. 31.

    Damit wird zugleich definiert, ab wann Akteure als Querulanten disqualifiziert werden. In dieser Definition steckt aus psychodynamischer Sicht eine Disqualifizierung des Aggressors und damit der Verleugnung des Inhalts des Dissens, also eine Variation des bekannten Mottos: Warum sachlich bleiben, wenn’s auch persönlich geht. Umgekehrt gibt es Akteure, die zwanghaft querulieren und eine herbe Belastung für Situationen darstellen, da sie durch sachliche Auseinandersetzungen nicht zu disziplinieren sind.

  32. 32.

    Diese Unterscheidung ist nicht deckungsgleich mit einer Differenzierung des Funktionsniveaus. Ein offener Konflikt ist nicht identisch mit einem niedrigen Funktionsniveau und das Bemühen um diskursive Lösungen kann u. U. angstgetrieben sein oder als Mittel der Aktionsvermeidung (z. B. durch die Provokation von unendlichem Regress) fungieren. Gemeint ist daher vor allem ein Ausbrechen von Konflikten aufgrund mangelnder Kontrollressourcen.

  33. 33.

    Daran wird zugleich deutlich, dass Goffman Situationen in einem bestimmten Kontext beschreibt, der sich insgesamt auf das Funktionieren solcher Regulationen stützt und stützen kann – das heißt selbstverständlich nicht, dass diese Voraussetzungen für alle Situationen gelten. Es wäre ein Thema für sich, zu untersuchen, wie der reproduktive Prozess in Milieus aussieht, in denen die Akteure nicht auf diese Weise psychodynamisch funktionieren.

  34. 34.

    Der „Verantwortungslose“ muss dafür u. U. Disqualifikation als Interaktionspartner in Kauf nehmen.

  35. 35.

    Auf der Ebene des empirischen Geschehens kommt zusätzlich gesellschaftliche Bewertung ins Spiel. Es gibt erhebliche kultur- und subkulturelle Differenzen in der Frage, was als „kontrolliert“ gilt. Dies verweist auf die jeweiligen Möglichkeiten an Kontrolle und die basale Funktionslogik sozialer Systeme – wieviel Psychodynamik brauchen sie, wieviel verkraften sie? Im Rahmen einer abstrakten Diskussion muss dieser wichtige Aspekt ausgeklammert bleiben.

  36. 36.

    Die vielfältigen Diskussionen über das „multiple Selbst“, „patchwork identity“, das „flexible Selbst“ u. a. m. sprechen indirekt genau dieses Thema an: Moderne Gesellschaften brauchen und erzeugen in viel höherem Maß disponible Psychodynamik, damit aber auch entsprechende Folgeprobleme.

  37. 37.

    Diesen Aspekt hat Merton (mit anderen Worten und anderer Akzentuierung) in seiner Konzeption der „latenten Funktion“ angesprochen: Der „Regentanz“ dient der Stabilisierung der Situation auch durch Angstbindung und Projektion (Merton 1949).

  38. 38.

    Wieweit diese Funktion auch von (männlichen) Stewards erfüllt werden kann, müsste genauer untersucht werden. Die männerbezogene Komplementär-Phantasie fokussiert meist den Schutz durch Stärke.

  39. 39.

    Diese Möglichkeit hat eine Kehrseite. Szenisches Verstehen ist vom Zustand des psychischen Prozesses abhängig. Dies impliziert die Möglichkeit, dass etwas in die Situation hineinprojiziert wird. Oder mit Wilhelm Busch:

    „Wer durch des Argwohns Brille schaut/Sieht Raupen selbst im Sauerkraut.“

    Im diesem Fall gewinnt Beziehungsdynamik eine neue Dimension: Alter reagiert nicht auf Egos Psychodynamik, sondern auf die eigene Phantasie von Egos Psychodynamik (s. o.).

  40. 40.

    In diesem Zusammenhang geht es vor allem um den Zugewinn an Stabilität, den fragile Situationen brauchen und nutzen, und die damit verbundenen Effekte. Die bei Mead und seinen Nachfolgern beschriebenen Generalisierungen fokussieren dagegen vor allem den Zugewinn an individuellen Orientierungs- und Handlungsmöglichkeiten.

  41. 41.

    Sie sind ad personam normalisierbar – etwa, indem ein Akteur von den anderen als jähzornig, empfindlich usw. usw. etikettiert und ihm damit eine Sonderrolle zugewiesen wird. Damit ist meist verbunden, dass entsprechende Ausbrüche ein Stück weit neutralisiert und übergangen werden.

  42. 42.

    Dies gilt vor allem für Milieus und Akteure, in denen Autofahren hochgradig narzisstisch besetzt ist oder zur Stabilisierung von (männlichem) Status genutzt wird.

  43. 43.

    Simmels Überlegungen zeichnen sich nicht nur durch die Differenziertheit der Darstellung und die Dialektik der Argumentation aus, sondern auch dadurch, dass er durchwegs psychodynamische Aspekte einbezieht und sie mit soziologischen Perspektiven nicht-reduktionistisch verbindet. Seine Überlegungen könnten mit einer ausgearbeiteten Subjekttheorie – Simmel selbst argumentiert subjekttheoretisch oft treffend, aber intuitiv – noch weiter entwickelt werden, aber das ist ein Thema für sich.

  44. 44.

    Besondere Brisanz gewinnen Konflikte auch hier durch eine Verschränkung von situativen Aufforderungen und individuellen Dispositionen: Die situativen Vorgaben relativieren individuelle Formen der Kontrolle; die individuelle Disposition verstärkt die Wirkung der Norm.

  45. 45.

    In diesem Zusammenhang könnte man im o. a. Sinn von unbewusster Kommunikation sprechen. Bei unbewussten Beziehungs- und Handlungsaufforderungen, die unbewusst wahrgenommen werden operiert das szenische Verstehen im „quick-and-dirty“-Modus und beschränkt sich auf die Identifizierung dessen, was in diesem Modus wahrnehmbar ist – das ist zugleich mehr und weniger als bei „normaler“ Wahrnehmung.

  46. 46.

    Wobei die sozial verfügbaren Mittel der Korrektur und Balancierung im Normalfall nicht auf kausale Problemlösung eingestellt sind und sein können. Die systematischen Grenzen der sozialen Kontrolle bedeuten auch, dass Situationen gesprengt werden oder im Sinne latenter psychodynamischer Programme infiltriert und „umfunktioniert“ werden.

  47. 47.

    „Destruktiv“ wird hier pragmatisch und unter Umgehung der gesamten Definitionsproblematik verwendet. Gemeint sind vor allem irrationale oder mit illegitimen Zwecken verbundene Handlungsaufforderungen, die Akteure zu unmoralischer physischer und psychischer Gewalt nötigen.

  48. 48.

    Damit sind nicht die Formen von – ideologisch legitimierter – „schwarzer Pädagogik“ (Rutschky 1988) gemeint, sondern die situativen Spielräume, die von Akteuren genutzt werden. H. v. Ditfurth beschreibt in seiner Autobiografie (1989) u. a. ein besonders prächtiges Exemplar eines ebenso neidischen wie grausamen Despoten.

  49. 49.

    Das Standardmodell von Bestätigung und Ratifizierung sensu Goffman impliziert soziale Anerkennung und überhöhte Bewertung der Gäste dadurch, dass der Besuch erwartet und respektvoll empfangen wird, während komplementär dazu der Besuch seinerseits den Status der Gastgeber durch Präsente, Bewunderungen des Wohnraums und des kulinarischen Angebots bestätigt/erhöht. Die Akteure sind bereit und gefordert, einen Anerkennungsvor- und überschuss zu investieren. Auf diese Weise wird die Situation auf wechselseitige Zuneigung gestimmt, sodass die weitere Entwicklung der Situation auf der Basis dieser Vorabverpflichtung und -bindung auch heikle Themen und Zwischenfälle verkraftet.

  50. 50.

    Es sei dahin gestellt, ob und wie sich die Belastung durch die und in der Situation auf den Verlauf des Interviews und die Interpretation auswirkt. Bemerkenswert, dass die Interpretationsgruppe ebenfalls mit kräftigen Abwertungen der Familie, zugleich aber auch die Forscherin für ihre mangelnde Empathie rügen. Das könnte mit Schuldgefühlen gegenüber der Familie zusammenhängen, aber auch Ausdruck eines massiven Erwartungsdruck in der reflexiven Sozialforschung sein.

  51. 51.

    Was Doderer hier – qua Melzer – anspricht, ist die Verbindung von bestätigendem Austausch mit psychodynamischen Alltags-Containment: Melzer erhofft sich eine schützende, mitfühlende, psychisch bestätigende Reaktion und ist frustriert, weil er sie nicht bekommt.

  52. 52.

    Einleuchtend ist der spontane Wechsel des Kampfgebietes, wenn eine Attacke nicht direkt gekontert werden kann oder übertrumpft werden soll: Auf die Unterstellung von (Käse-)Unkenntnis folgt eine Attacke, die auf den Sozialstatus zielt (mit der Behauptung, mehr und besseren Käse gegessen zu haben), die beantwortet wird mit einer Disqualifizierung der sozialen Kompetenzen („Spuck‘ nicht“). Dass danach die soziale Ordnung kollabiert, ist nicht überraschend.

  53. 53.

    „Auf dem Schauplatz bleiben zurück ein trauriger Emmentaler und ein kleiner Junge, der die dicken Arme zum Himmel hebt und, den Kosmos anklagend, weithinhallend ruft: ‚Mama! Wo kommen die Löcher im Käse her –?‘“ (A. a. O.).

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Schülein, J. (2018). Die Situation: Interaktion im sozialen Kontext. In: Gesellschaft und Psychodynamik. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-21439-5_4

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