Zusammenfassung
In der Debatte um die Verwendung des Regimebegriffs in der Migrationsforschung scheint eine Tendenz zur Übertheoretisierung und Universalisierung auf, die in wissenschaftlicher und politisch-militanter Hinsicht problematisch scheint: In der Absicht, das Handeln migrantischer Akteure und Akteurinnen wissenschaftlich zu würdigen und sie darüber im Sinne eines empowerment zu legitimieren, scheint mitunter jede Form migrantischen Handelns zum Bestandteil des Regimes erklärt zu werden. Der Aufsatz versucht an Beispielen aus dem 19. und 20. Jahrhundert sowie einigen theoretischen Erwägungen zu zeigen, dass der Regimebegriff vor allem dann einen wissenschaftlichen und politischen Wert hat, wenn er Regime als elitären Habitus und Herrschaftspraxis versteht und einbezieht, dass es Akteure und Handlungslogiken gibt, die zwar die Reichweite und konkrete Umsetzung von Regimen beeinflussen, aber außerhalb des Regimes stehen.
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Notes
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Natürlich verläuft auch eruptiver Wandel – angefangen mit der französischen Revolution von 1789 – als eine Folge kleiner, dann in sehr rascher Folge aufeinanderfolgender Schritte. Die Betonung von Prozessen mit Integration aller Akteure gegenüber Brüchen hat aber insofern epistemologische und diskursive Folgen, als er eben sozialen und politischen Wandel vorrangig als Evolution und nicht als Revolution erklärt und vorsieht.
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Noch genauer als „formelle und informelle Organisation des Zentrums politischer Macht“, als Bestimmung darüber, „wer Zugang zu politischer Macht“ hat, werden Regimes in der politischen Theorie definiert; siehe Van den Bosch (2013), S. 78 f.
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Eine konzise Untersuchung des Umschwungs von generalisierten Helden- zu Opferdiskursen bei der Legitimierung von Anerkennungsansprüchen, der etwa auf die 1960er Jahre mit ihrer Neubewertung von Faschismus, Nationalsozialismus und Kolonialismus zu datieren wäre und seinen Ausdruck inzwischen auch in der gegendiskursiven Verwendung des Begriffs ‚Opfer‘ als Schimpfwort in bestimmten Jugendkulturen findet, fehlt anscheinend bislang. Ersatzweise bis dahin: Torpey (2013); Sabrow (2008).
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Eine solche Ausnahme wäre die Rolle migrierter Staatsrechtler aus dem östlichen Europa bei der Etablierung eines internationalen Asylrechts. Freilich waren auch hier die relevanten Akteure nicht identisch mit denen, deren Schicksal durch Flüchtlingskonventionen, Aufnahmequoten und Nansen-Pass geregelt werden sollte. Siehe weiter unten.
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Ein Beispiel wäre hier das klassische chuliganstvo im Russland des frühen 20. Jahrhunderts; siehe Neuberger (1993).
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Loi du 1er juillet 1901 relative au contrat dʼassociation, Art. 2; 5; 6, zit. n. https://www.legifrance.gouv.fr/affichTexte.do?cidTexte=LEGITEXT000006069.570, abgerufen 10.07.2017.
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Gesetz zur Regelung des öffentlichen Vereinsrechts (Vereinsgesetz) vom 05.08.1964, § 14, zit. n. BGBl. Nr. 42 vom 12.08.1964.
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Die Bedingungen und Formen von Migration und ihrer gesellschaftlichen Verarbeitung waren in der Antike, dem Mittelalter und weitestgehend der Frühen Neuzeit völlig andere; es dürfte sogar strittig sein, ob vor dem 19. Jahrhundert überhaupt von der Existenz von Migrationsregimes im üblichen Sinne gesprochen werden kann. Für genauere Erörterungen zu dieser Frage fehlt hier allerdings der Platz.
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Dies zeigt sich etwa in den Einflussmöglichkeiten Piotr Lavrovs, eines in Paris lebenden russischen Revolutionärs, auf die Abschiebung von Genossen. Siehe weiter unten.
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Die kulturelle Differenz zwischen ihm als akkreditiertem Akteur und den von ihm vertretenen polnischen Soldaten drückte sich etwa darin aus, dass er als Nachweis polnischer Nationszugehörigkeit das Aufsagen einiger Strophen des Pan Tadeusz, des von seinem Vater verfassten Nationalepos, verlangte.
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Hier im Sinne Gramscis als Instanzen, die als Transmissionsriemen zwischen den Inhabern oder Ausübenden politischer und ökonomischer Macht und den dieser Unterworfenen, gleichzeitig aber auch als Austragungsort von Kämpfen über diskursive Hegemonie fungieren.
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Diese und weitere Beispiele bei Esch (2012a).
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Ausnahmen wären etwa die – allerdings jeweils einseitige – Ermöglichung illegaler Grenzübertritte polnischer Wanderarbeiterinnen und Wanderarbeiter in der deutsch-polnischen Krise des Jahres 1938, die positive Konnotierung von Fälscher- und Schleppertätigkeiten im Rahmen der Flucht von Juden aus dem deutsch besetzten Europa während des Zweiten Weltkriegs oder die Ermöglichung von illegalem Grenzverkehr von Ost nach West während des Kalten Kriegs.
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Vgl. als aktuelles Beispiel in ähnlichem Sinne Haller (2000), S. 257−277.
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Ähnliche Einwände bei Benz und Schwenken (2005). Eine Diskussion darüber, ob eine umfassende und konsistente Migrationsregime-Theorie überhaupt sinnvoll und wünschenswert ist, was der Autor dieser Zeilen als Anhänger der Thesen Paul Feyerabends wider den Methodenzwang bezweifelt, wäre sicherlich reizvoll, kann aber an dieser Stelle nicht erfolgen.
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So etwa Karakayali und Tsianos (2009); Bojadžijev (2009). Eine dialogische Auseinandersetzung mit diesen Fragen fand zwischen Bojadžijev und mir auf der Konferenz Comemmorating Migrants and Migrations: Towards New Interpretations of European History, 15./16.11.2004 am DHI Paris statt, schlug sich aber wegen Arbeitsüberlastung der Beitragenden nicht in einem Aufsatz nieder. Unser Papier Migration History – Migrant History: Considerations on Autonomy of Migrations and Appropriation findet sich unter: http://www.network-migration.org/workshop2004/papers.htm. Zugriff 30.03.2015.
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Esch, M.G. (2018). Regime und Eigen-Sinn: Möglichkeiten, Fallstricke und Folgen der konzeptuellen Positionierung migrantischer Akteure. In: Pott, A., Rass, C., Wolff, F. (eds) Was ist ein Migrationsregime? What Is a Migration Regime?. Migrationsgesellschaften. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-20532-4_13
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