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Sich aufführen. Rauminterventionen und Wissenspraktiken in der Psychiatrie um 1900

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Aufführen – Aufzeichnen – Anordnen

Zusammenfassung

Der Beitrag wirft einen Blick in die Geschichte der Psychiatrie und fokussiert zwei Behandlungsmodelle, die Ende des 19. Jahrhunderts gegeneinander in Stellung gebracht wurden: die Behandlung im Einzelraum bzw. der Isolationszelle und die sogenannte Bettbehandlung im gemeinsamen Kranken- bzw. Wachsaal. Wie am Beispiel der Behandlung in der Isolationszelle gezeigt wird, konfrontierten die nicht-intendierten Effekte, die der Raum provozierte, die Ärzte mit den performativen Dimensionen desselben, der sich in dieser Eigenschaft einer letztgültigen Bestimmung, Nutzung oder Regulierung durch die Institution entzog. Diese nicht-intendierten Effekte, die der Raum in der Interaktion mit den Patienten mit sich brachte, flankierte schließlich den Wechsel des Behandlungssettings, der mit dem (zumindest propagierten) Ende der Unterbringung in den Zellen und der Einführung der Wachsaalbehandlung nicht zuletzt den Beginn einer „modernen“ und „humanen“ Psychiatrie maßgeblich mitbegründen sollte.

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Notes

  1. 1.

    Im Bereich der Theaterwissenschaften meint der Begriff der Szenographie die Gestaltung des Bühnenraumes. Zur Szenographie als Analyseinstrument zur Erforschung psychotherapeutischer Settings vgl. Kaiser (2014); vgl. auch Ankele (2018a).

  2. 2.

    Zum Unterschied zwischen Inszenierung und Aufführung vgl. Fischer-Lichte (2004, S. 14 f.).

  3. 3.

    Vgl. zu einer Architektur- und Kulturgeschichte der Isolierzelle Topp (2017).

  4. 4.

    In einem Artikel über die Heil- und Pflegeanstalt Emmendingen aus dem Jahr 1926 berichtete der Psychiater Adolf Groß, dass zu diesem Zeitpunkt noch mehrere Patienten über Jahre hinweg isoliert lebten.

  5. 5.

    Über die Vorteile einer temporären Zellenbehandlung, die parallel zur Bettbehandlung unentbehrlich sei, referierte Hebold auf der 70. Versammlung des psychiatrischen Vereins in Berlin. Hebold (1889).

  6. 6.

    Die sogenannte „non-restraint“-Bewegung hatte ihren Ursprung in der Mitte des 19. Jahrhunderts in England. Ihre Anhänger forderten eine Abschaffung mechanischer Zwangsmittel, die die Bewegungsfreiheit der Kranken einschränkten, sowie eine allgemeine Verbesserung der Lage der Kranken in den Anstalten. Der Psychiater Caspar Max Brosius übersetzte das 1856 erschienene Buch „Treatment of the insane without mechanical restraints“ des englischen Psychiaters John Conolly ins Deutsche. Vgl. Brosius (1860).

  7. 7.

    Ein Argument für arbeitstherapeutische Ansätze in der Behandlung vor allem rekonvaleszenter oder chronisch psychisch Kranker war u. a. die durch Arbeit gebotene Ablenkung der Gedanken und ihre Fokussierung auf einen äußeren Gegenstand. Vgl. exemplarisch für die „Irren-Colonie“ Langenhorn bei Hamburg Ankele (2018b).

  8. 8.

    Dass sich laut Wattenberg 90 % der Unglücksfälle in der Isolierzelle ereignen sollten, bestritt wiederum der ebenfalls an der Sitzung teilnehmende Psychiater Fritz Siemens. Seiner Meinung nach waren die meisten Unglücksfälle eine Folge der freien Behandlung und ereigneten sich bei der Arbeit und bei Spaziergängen (Verhandlungen psychiatrischer Vereine [Siemens] 1902b, S. 948).

  9. 9.

    Die Vorteile der Polsterzelle gegenüber den „klassischen“ Zwangsmitteln wie der Zwangsjacke beschreibt Conolly (1860, S. 26–29). Über das „Polsterzimmer“ in der englischen Anstalt Hanwell schreibt Conolly: „Gewöhnlich befindet sich im Zimmer Nichts [sic!], ausser Kissen und Pfühlen, die gleichfalls mit starkem Zwillich überzogen sind. (…) man unterrichtet sich genau von dem Verhalten des sekludirten Kranken durch eine Beobachtungsplatte oder eine verdeckte Oeffnung in der Zimmerthüre.“ (S. 26 f.).

  10. 10.

    Albrecht Paetz verweist u. a. auf die Aborteinrichtungen in den Isolierzellen, „welche die Luft verpesten und die Kranken förmlich dazu verführen, mit ihren Exkrementen Unfug zu treiben“ (1893, S. 89).

  11. 11.

    Die Beobachtung von Krankheitsbildern „im freien Leben“ hätte daher einen besonderen (weil unverfälschten) Wert: „Es wird überhaupt gegenüber der heutigen Psychiatrie, die fast ganz auf der Beobachtung der Irren in den Irrenhäusern basirt ist, Aufgabe der fortschreitenden Wissenschaft sein, den Kranken auch in der Freiheit, nicht modificirt durch diesen Einfluss, zu studiren“ (Griesinger 1872a, S. 182).

  12. 12.

    Dabei mahnte Kraepelin, diese Maßnahme bei weiblichen Patienten nur im äußersten Notfall anzuwenden. Dass die Patienten, die in einer Isolierzelle untergebracht waren, auch in dieses Material intervenierten, zeigt ein Bericht aus der Anstalt Zwiefalten vom 29. Januar 1896 über die „Verwendung von Seegras in den Zellen für Unreinliche und Unruhige“: Darin wird berichtet, dass eine Patientin, die an manischen Anfällen mit Verwirrtheit und Bewegungsdrang litt, mit Seegras isoliert wurde, dieses aber seine Nachteile zeigte: „Es wurde von der Kranken in ihrer wilden Erregung zu Häcksel zerrissen und zu Pulver zerrieben, so dass die Zelle oft voll Staub war. Auch durch die Unreinlichkeit der Kranken wurde das Seegras bald unbrauchbar, und musste deshalb oft erneuert werden, so dass die Verpflegung ziemlich teuer wurde. Trotz dieser Nachteile war es nicht möglich, auf das Seegras zu verzichten, wenn man nicht die ganze Zelle hätte polstern wollen.“ Als sich die „Tobsuchtsanfälle“ der Patientin gemildert hatten, wurde das Seegras durch Segeltuch ersetzt (Staatsarchiv Ludwigsburg: E 163, Verwaltung der Staatskrankenanstalten. Sig. Bü 110).

  13. 13.

    Das Wasser biete, wie Kraepelin ausführte, „ein unerschöpfliches Mittel der Befriedigung des Betätigungsdranges im Spritzen, Wirbeln, Klatschen, Tauchen“ (1903, S. 438).

  14. 14.

    Diese Meinung teilte u. a. auch Clemens Neisser, der darauf verwies, dass das Zerreißen von Wäsche, das einen nicht unerheblichen Kostenfaktor für die Anstalten darstellte, mit der Einführung der Bettbehandlung zurückgehen würde (Neisser 1890, S. 865).

  15. 15.

    Zur Patientenfotografie in der Psychiatrie vgl. Regener (2010).

  16. 16.

    Staatsarchiv Freiburg: E120/1 (Patientenakte). Auszug aus der Krankengeschichte, gez. Heidelberg, den 8.12.1896, Kraepelin.

  17. 17.

    Universitätsarchiv Heidelberg: L-III (Frauen). Sig. 94/45. Eintrag vom 30.4.1894.

  18. 18.

    Ebda., Eintrag vom 30.4.1894.

  19. 19.

    Ebda., Eintrag vom 19.9.1894.

  20. 20.

    Vgl. ebda., Eintrag vom 29.9.1894.

  21. 21.

    Vgl. ebda., Eintrag vom 30.9.1894.

  22. 22.

    Ebda., Eintrag vom 15.10.1894.

  23. 23.

    Ebda., Eintrag vom 30.1.1895.

  24. 24.

    Eintrag vom 1.4.1897.

  25. 25.

    Eintrag vom 14.4.1895.

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Ankele, M. (2019). Sich aufführen. Rauminterventionen und Wissenspraktiken in der Psychiatrie um 1900. In: Ankele, M., Kaiser, C., Ledebur, S. (eds) Aufführen – Aufzeichnen – Anordnen. Springer, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-20151-7_5

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