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Anordnung und Rahmung von Falldarstellungen am Beispiel der gerichtspsychiatrischen Konstruktion des Falls Pierre Rivière

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Zusammenfassung

Am Beispiel des Falls Pierre Rivière, der 1835 seine Mutter und zwei Geschwister erschlagen hat, wird herausgearbeitet, wie die Selektion, Anordnung und Rahmung des Aktenmaterials die verschiedenen Konstruktionen eines Falls bestimmt. Zum einen differieren Fallkonstruktionen je nach der Wissensordnung, dem disziplinären oder dem institutionellen Zusammenhang, auf den das Besondere des Einzelfalls bezogen wird, zum anderen ist entscheidend, wie ein Ereignis mit seiner Vorgeschichte verbunden und auf welche Folge hin es finalisiert wird, welche Zäsuren gesetzt werden; dies ist von besonderer Bedeutung für die narrative Konstruktion von juristischen und gerichtspsychiatrischen Falldarstellungen, die das Verbrechen rückbeziehen auf die Lebensgeschichte des Angeklagten, um zu einer Entscheidung über die Zurechnungsfähigkeit des Täters zu gelangen. Der Fall ist insofern nicht mit einem Ereignis zu identifizieren, sondern er ist das Ergebnis der Polyphonie heterogener Diskurse und narrativer Konstruktionen.

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Notes

  1. 1.

    Zum Verhältnis von Fall und Rahmung, das hier als „Gleichzeitigkeit von funktionaler Abhängigkeit und formaler Unabhängigkeit“ gefasst wird, vgl. Frey (2013, S. 283).

  2. 2.

    Der Begriff der „epistemic genres“ indiziert die Korrelation von Textgenre und der Wissenskultur, die in einer spezifischen Darstellungsform prozessiert wird: „They are highly structured and clearly recognizable textual conventions – textual tools, we may call them – handed down by tradition for the expression and communication of a particular content – in the case of epistemic genres, a content that is seen as primarily cognitive in character. Epistemic genres give a literary form to intellectual endeavour, and in so doing they shape and channel the cognitive practice of attention.“ (Pomata 2010, S. 199).

  3. 3.

    Insofern ist das Indizienparadigma nach Ginzburg mit der rhetorischen Figur der Metonymie verbunden. Zur epistemischen Bedeutung der Narration für innovative Wissensbereiche vgl. auch: Gamper (2014).

  4. 4.

    Vgl. Foucault (1988).

  5. 5.

    Eine verwandte Bestimmung des Falls, allerdings spezifiziert für die literarische Fallgeschichte, entwickelt Marcus Krause: „Eine Fallgeschichte ist eine narrative Darstellung eines Ereignisses im Rahmen einer individuellen Lebensgeschichte, welche in diese Lebensgeschichte in Gestalt einer Krise oder eines Konflikts eine signifikante Zäsur setzt. Ziel einer solchen Darstellung ist erstens, einen interpretativen Zusammenhang zwischen Ereignis und Lebensgeschichte herzustellen, in dem einerseits das Ereignis aus biographischen Umständen zumindest teilweise hergeleitet bzw. erklärt werden kann und andererseits das Ereignis generalisierende Aussagen über die Lebensgeschichte erlaubt.“ (Krause 2014, S. 262 f.); vgl. auch Krause (2014).

  6. 6.

    Die verschiedenen Abstufungen der Singularität oder Allgemeinheit des Erzählens, die Koschorke unter der dritten Operation „Redundanz und Variation“ abhandelt, können als ein weiteres Merkmal gelten, das für die Klassifizierung verschiedener Typen oder Weiterverarbeitungen von Falldarstellungen signifikant ist, hier aber nicht weiter in den Blick genommen werden soll (Koschorke 2012, S. 38–50).

  7. 7.

    Eine Besonderheit von Fallerzählungen in diesem institutionellen Rahmen besteht darin, dass sie notwendig auf eine Entscheidung des Falls hinauslaufen und insofern Merkmale der Gerichtsrede aufweisen. Im Fall Rivière zeigt sich das besonders deutlich in der Rhetorik des Gutachtens von Vastel.

  8. 8.

    Auf Zitate aus dem Dossier des Falls, das in Der Fall Rivière herausgegeben von Michel Foucault abgedruckt ist, werde ich mit der Abkürzung „Dossier 1975“ verweisen.

  9. 9.

    Rivières Vertrautheit mit literarischen Techniken der Darstellung innerer Vorgänge zeigt sich auch in der Beschreibung der veränderten Empfindung nach vollzogener Tat, die er in einem langen inneren Monolog zum Ausdruck bringt: und als ich ein gut Stück Wegs gegangen war, gelangte ich in die Wälder und kam wieder zur Vernunft, ist es möglich, sagte ich zu mir, was bin ich für ein Ungeheuer! Oh ihr unglückseligen Opfer! Ist es möglich, daß ich das getan habe? nein, es ist nur ein böser Traum! es ist nur zu wahr! Abgründe, tut euch unter mir auf, Erde, verschlinge mich […].“ (Dossier 1975, S. 117).

  10. 10.

    So formuliert etwa Zimmermann: „Unter allem, was die Arzneykunst Wichtiges dem Geist darbietet, ist also die Geschichte der Krankheiten das Wichtigste. Jede Krankheit muß von dem Arzte gekennt seyn, wie sie sich selbst überlassen fortgeht. […] Alle Umstände müssen so beschrieben seyn, wie sie in der Natur reihenweise aufeinanderfolgen.“ (Zimmermann 1794, S. 255).

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Düwell, S. (2019). Anordnung und Rahmung von Falldarstellungen am Beispiel der gerichtspsychiatrischen Konstruktion des Falls Pierre Rivière. In: Ankele, M., Kaiser, C., Ledebur, S. (eds) Aufführen – Aufzeichnen – Anordnen. Springer, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-20151-7_13

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