Zusammenfassung
In der „Irrenanstalt Breitenau“ in Schaffhausen hielt sich 1907 bis 1908 eine junge Polin, Mathilde R., zur Behandlung auf. Sie verfiel in Dämmerzustände, in welchen sie zeichnete. 58 Zeichnungen haben sich erhalten, 29 weitere veröffentlichte Hans Bertschinger, Direktor der Anstalt, der mit ihr eine Psychoanalyse durchführte, 1911 in einer Untersuchung zu ihrem Fall. Diese weckten das Interesse Carl Gustav Jungs, der sie in seiner Abhandlung Wandlungen und Symbole der Libido erwähnt. Mathilde R.s Zeichnungen tauchen in mehreren Diskursfeldern auf: jenem um die Diagnose der Hysterie, das Symbolverständnis oder jenem, das die Kunst der Avantgarde in die Nähe von Patientenzeichnungen rückte. Mathilde R. selbst referierte auf andere Quellen: Märchenbücher, Sagen, Reiseberichte und den beliebten Spiritismus. Im Zentrum der Untersuchung steht die Frage nach ihrer prekären Autorschaft.
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Notes
- 1.
Jaspers schreibt: „Man wäre versucht zu sagen, wie die Hysterie eine natürliche Bereitschaft für den Geist vor dem 18. Jahrhundert gehabt haben müsse, so passe die Schizophrenie vielleicht irgendwie zu unserer Zeit.“ Und etwas weiter unten: „Man verweist vielleicht darauf, dass unsere Zeit sich für alles Ferne, Fremde, Ungewöhnliche und Primitive enthusiasmiere, für orientalische Kunst, für Negerkunst, für Kinderzeichnungen. Aber warum tut sie es?» Jaspers, Karl: Strindberg und Van Gogh. Versuch einer pathographischen Analyse unter vergleichender Heranziehung von Swedenborg und Hölderlin, in: Morgenthaler, Walter (Hrsg.), Arbeiten zur angewandten Psychiatrie, Band 5, Bern 1922, S. 129.
- 2.
Aus der Klinik Breitenau haben sich aus dem Zeitraum 1891 bis 1930 im Krankenblattarchiv insgesamt 306 Werke erhalten. Ein Inventar aller Werke wurde im Rahmen eines vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten Forschungsprojektes erstellt: Bewahren besonderer Kulturgüter II: Bestandesaufnahme Schweiz 2010–2014, am Institute for Cultural Studies in the Arts an der Zürcher Hochschule der Künste. Mitarbeiterinnen: Jacqueline Fahrni, Iris Blum, Florence Choquard, Projektleitung Katrin Luchsinger. Das Inventar ist als download unter http://www.kulturgueter.ch bereitgestellt. Die Werke können in hoher Auflösung am Schweizerischen Institut für Kunstwissenschaft in Zürich und Lausanne betrachtet werden. Die Krankenakten der Psychiatrischen Klinik Breitenau befinden sich im Staatsarchiv des Kantons Schaffhausen. Mathilde R.s Akte trägt die Nummer STASH DI 39/5430, KG Nr. 1348, die Zeichnungen sind der Akte beigelegt. Einen ersten Überblick über die Sammlung Breitenau gibt: Luchsinger (2016, 2018).
- 3.
Emma Fürst war 1905 als einzige Frau Assistenzärztin am Burghölzli. Sie promovierte mit einer Arbeit zum Assoziationsexperiment, das Carl Gustav Jung zusammen mit Franz Riklin untersuchte. Am 01.08.1908 trat sie ihre Assistenzstelle in der Irrenanstalt Breitenau an, wo sie bis zum 03.11.1910 blieb. Sie eröffnete eine Praxis in Zürich.
- 4.
Die psychoanalytische Ortsgruppe der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung entstand 1910 in Zürich aus der „Gesellschaft Freud’scher Forschungen“ heraus. Ihr Obmann war Ludwig Binswanger, Eugen Bleuler war Mitglied. Bertschinger nennt sie „psychoanalytischen Verein“.
- 5.
Mathildes Muttersprache war polnisch, eine Sprache, die Bertschinger nicht beherrschte. Im Dämmerzustand sprach sie anfangs, berichtet der Psychiater, nur polnisch, später jedoch auch deutsch, siehe Bertschinger (1911, S. 70).
- 6.
Den Begriff „Denkkollektiv“ entnehme ich Ludwik Fleck (1935) 2012.
- 7.
Die Elektrotherapie bestand 1907 in einer leichten Stimulation mit elektrischem Strom. Proponal (auch Propanal) war wie Veronal ein um 1905 in der Anstalt gebräuchliches Schlafmittel.
- 8.
Der Nachname muss anonymisiert werden (abgedeckt von K. L.).
- 9.
Mathilde wuchs in Krakau auf, verbrachte aber ihre Sommerferien und ihr zehntes bis zwölftes Lebensjahr wegen „Blutarmut“ bei ihrem Onkel auf dem Land, wo es viele Tiere gab. Bertschinger (1911, S. 78).
- 10.
„Die Rangordnung der Phänomene des schöpferischen Ergriffenseins reicht dabei von den tiefsten und unbewusstesten Stufen der Besessenheit und Somnambulie bis zur höchsten Stufe des bewussten Annehmens …“, schreibt Erich Neumann, ein wichtiger jungianischer Theoretiker (Neumann 1954, S. 98).
- 11.
- 12.
- 13.
Frank Miller bezeichnet ihren ersten Text als „poème onirique“ (Jung 1911, S. 158).
- 14.
Jung selbst hatte über ein Medium, seine Cousine Helene Preiswerk, promoviert (Jung 1902).
- 15.
Mathilde R.s Zeichnungen finden in Jungs Text zweimal Erwähnung: einmal wird auf die Bedeutung von „Mischwesen“ in Träumen verwiesen (Jung 1912, S. 174); das zweite Mal auf ihre Zeichnung eines Raubvogels, dessen Aussehen an ein weibliches Genitale erinnere (Jung 1912, S. 245).
- 16.
Kollarits war Dozent an der Universität Budapest. In dieser Untersuchung beschrieb er nur seine eigenen Vorstellungen und jene einer Probandin. Warum Bertschinger von diesem Beitrag, der 1918 erschien, schon 1917 wusste, ist mir nicht bekannt. 1915 hatte Kollarits einen kurzen Text zum Humor veröffentlicht.
- 17.
Kollarits zieht die Analogie zu Kinderzeichnungen, Zeichnungen Ungeübter und primitiver Völker (Kollarits 1918, S. 173). Sie entsprachen der Bewegung des sogenannten Primitivismus, der die Avantgarde inspirierte.
- 18.
Zur Sammlung Breitenau siehe Anm. 2.
- 19.
Bertschinger schickte 1920 drei Zeichnungen des Patienten Adolph Schudel (1869–1918) nach Heidelberg zu Hans Prinzhorn, der sie in seiner Publikation abbildete. Sammlung Prinzhorn des ZPM der Universitätsklinik Heidelberg, Inv. Nr. 1660–1662. Prinzhorn (1922), Fall 121, Abb. 39–41: „Steiler Pfad“; „Krötenteich im Vollmond[e]“; „Fütterzeit der Pferde“. Seine Krankenakte befindet sich im Staatsarchiv Schaffhausen: STASH DI 39/5434, Krankenakte Nr. 610 und 1303. Im selben Jahr besuchte der Künstler Alfred Kubin die Sammlung Prinzhorn. Ihm fielen die Zeichnungen Schudels auf. Bettina Brand-Claussen untersuchte die Umstände dieser Begegnung.
- 20.
Als einzige Assoziation fiel dem halluzinierenden Zeichner eine Darstellung der Stadt Astrachan in Russland ein, von oben in der Beuge der Wolga gesehen. Ebd. S. 20.
- 21.
STASH DI 39/5430, KG 1348.
- 22.
So bewahrte Jung die Zettel auf, die seine Cousine in Séancen zeichnete, oder er zeichnete sie nach. Sie sind in seiner Doktorarbeit abgebildet (Jung 1902, S. 43, 48).
- 23.
Gebrüder Grimm, Die Sterntaler, ab 1819 in der Märchensammlung.
- 24.
Ich danke Philipp Osten für den Hinweis auf das Bilderbuch.
- 25.
„Hinaus, hinaus auf leisem Schuh/Im gleichen Schritt und Tritt./Klein Liesel hat die Augen zu/und geht doch lustig mit. ‐/Da steht ein roter Wagen,/Heissa! Der soll uns tragen./Wir steigen ein und fahren schnell/und Mond und Sternlein leuchten hell.“ (o. P., S. 3). Auf der folgenden Seite, Liesel steht noch immer schlafend im roten Wagen, lautet der Text: „Trab, trab, ihr lieben Zwerge/Nun zieht nur flink die Kutschen!/Ins Land der grauen Berge/Will unser Liesel rutschen./Das ist ein lustig’s graues Land/Aus aller = allerfeinstem Sand –/Und eine Türe hoch und breit/Steh auch schon offen und bereit.“
- 26.
Für den Hinweis auf Raisuli danke ich Elke Jezler.
- 27.
Das Blatt befindet sich in ihrer Krankenakte, STASH DI 39/5430, KG 1348, Inv. Nr. 211. Bertschinger schreibt: „Ihre Reise führte sie durch ganz Asien und die Zeichnungen, die sie von ihren Erlebnissen in den verschiedenen Ländern anfertigte, zeigen in bemerkenswerter Weise ein deutliches Lokalkolorit.“
- 28.
„Enfin tant pis!“, puis trace très lentement et avec grand soin la fig. 35, de gauche à droite, en levant souvent les yeux sur son modèle imaginaire, comme elle copierait un dessin“ (Flournoy 1900, S. 288).
- 29.
„Hallucination cénésthique“ (S. 37), „création subconsciente“ (S. 38).
- 30.
Frank Miller, in: Flournoy 1906: „Poésie onirique“ (S. 43), „phénomène de frontière“ oder „borderland phenomena“, (S. 48), „curieuse rèvasserie“, S. 50. Miller schrieb englisch, Flournoy übersetzte auf Französisch, weswegen manchmal beide Versionen vorkommen.
- 31.
„[…] la seule théorie qui ressorte de ses analyses est la plus simple de toutes: c’est que c’est bien elle-même, et nul autre, qui est l’auteur de ses créations automatiques“ (Flournoy 1906, S. 40).
- 32.
- 33.
„So hat mir die Zigeunerin die Fabel erzählt […]“, ebd., S. 92.
Literatur
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Bildnachweise
Abb. 1, 2, 10, 11, 13: Zeichnungen von Mathilde R. in der Krankenakte 1348 im Staatsarchiv Schaffhausen, Signatur STASH DI 39/5430, © Katrin Luchsinger, ZHdK.
Abb. 3, 5, 8, 12 aus: Hans Bertschinger, Illustrierte Halluzinationen. In: Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschungen. Hrsg. Eugen Bleuler und Sigmund Freud, Red. Carl Gustav Jung, 3. Band, Leipzig und Wien, Franz Deuticke, 1911, S. 69–101.
Abb. 4: Zentrum Paul Klee, Bern, Obj. Id. 4083.
Abb. 6: Ruth Riemann, Entwurf, (ca. 1900), Das Märchen von den Sandmännlein, 3. Aufl. o. J. um 1905, Verlag J.F. Schreiber, Esslingen und München.
Abb. 7: In: Forbes, Rosita. 1924. Raisuli, Sultan der Berge, Lebenserinnerungen, niedergeschrieben von Rosita Forbes, Leipzig: K.F.Köhler, S. 49.
Abb. 9: Théodore Flournoy, Des Indes à la Planète Mars. Etude sur un cas de Somnambulisme avec glossolalie, Genf und Paris, 1900, 4. Aufl. 1908, S. 289.
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Luchsinger, K. (2019). Erscheinungen aus einem Grenzland. Das Wirkungsfeld der Zeichnerin Mathilde R., Patientin der Irrenanstalt Breitenau (1907–1908). In: Ankele, M., Kaiser, C., Ledebur, S. (eds) Aufführen – Aufzeichnen – Anordnen. Springer, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-20151-7_10
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