Zusammenfassung
Die Dokumentarische Methode nach Ralf Bohnsack stellt einen methodologischen Begründungszusammenhang dar zwischen Grundlagentheorien großer Reichweite einerseits und konkreten methodischen Ableitungen der qualitativen Datenerhebung und -interpretation andererseits. Für ihre grundlagentheoretische Verortung hat sich der Begriff der „Praxeologischen Wissenssoziologie“ etabliert, da sie sich auf die praxeologische Erkenntnis- und Handlungstheorie Pierre Bourdieus, in deren Zentrum das Konzept des Habitus steht, und die Wissenssoziologie Karl Mannheims bezieht. Die Dokumentarische Methode bietet vielfältiges Potential für kommunikationswissenschaftliche Fragestellungen, da sie sich gleichermaßen auf die Untersuchung von Medienrezeptionsprozessen, die Analyse von Medienprodukten, die Kommunikator- und Professionsforschung bis hin zu Organisationsstudien eignet und dabei auch Triangulationen unter einem einheitlichen methodologischen Dach ermöglicht. Konstitutiv für die Dokumentarische Methode ist die Leitunterscheidung von explizitem und implizitem Wissen. Dabei erweist sie sich als besonders sensitiv für vorsprachliche, atheoretische und visuelle Bedeutungsgehalte. Der Beitrag illustriert exemplarisch die Arbeitsschritte der Dateninterpretation im Rahmen der Dokumentarischen Methode anhand eines Beispiels aus der Bildrezeptionsforschung.
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Notes
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Die drei Gruppen unterscheiden sich insbesondere hinsichtlich ihrer Formalbildung. Bei Gruppe AH handelt es sich um fünf Frauen, die zum Zeitpunkt der Gruppendiskussion zwischen 18 und 24 Jahren alt waren und in einer süddeutschen Universitätsstadt gerade eine Ausbildung zur Arzthelferin absolvierten. Gruppe ND besteht aus zwei Frauen (beide 21 Jahre alt) und einem Mann (24), die alle das Abitur haben und in einer süddeutschen Großstadt gerade eine Banklehre absolvieren. Die Mitglieder der Gruppe SA – zwei Frauen von 27 und 28 Jahren sowie ein Mann von 35 Jahren – haben alle ein Studium abgeschlossen und arbeiten in einem mittelständischen Fachverlag, der seinen Sitz in einer süddeutschen Kleinstadt hat. Der Zugang zu den Gruppen erfolgte über private Kontakte.
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Erwin Panofskys Modell der Bildinterpretation fügt sich nahtlos in den Theorierahmen der praxeologischen Wissenssoziologie: Es entstand in den 1920er Jahren in gedanklichem Austausch mit Karl Mannheim (vgl. Panofsky 1987a, S. 200; Mannheim 1964, S. 123, Fn. 15 sowie S. 128, Fn. 18) und bildete in den 1960er Jahren einen zentralen Anknüpfungspunkt für Bourdieu bei der Entwicklung seines Habitusbegriffs (Bourdieu 1974).
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Michel, B. (2018). Interpretation im Rahmen der Dokumentarischen Methode: Potenziale für die Kommunikationswissenschaft. In: Scheu, A. (eds) Auswertung qualitativer Daten. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-18405-6_9
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