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Utopische Perspektiven: Was uns die philosophische Anthropologie über Selbstreflexivität und Autorität in literarischen Utopien sagen kann

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Wissen in der Fantastik

Zusammenfassung

Literarische Utopien neigen zum Totalitarismus, wenn sie Ausdruck einer strengen Rationalität sind; das wird beispielsweise in Gabriel de Foignys La Terre Australe Connue (1676) deutlich. Eine schlicht irrationale Utopie (wie Joseph Halls Mundus alter et idem 1605?) ist aber auch keine Lösung. Jedoch kann die totalisierende Kraft der Rationalität durch Selbstbezüglichkeit neutralisiert werden. Utopien müssen daher selbstreflexiv sein. Dabei kommt es aber darauf an, wer zu Wort kommt. Thomas Morus’ Utopia (1516) gilt als Meisterwerk der selbstreflexiven Literatur, da der Autor auch als Figur auftritt und die Gültigkeit der Aussagen des Buches infrage stellt. Aber die Bewohner_innen Utopias sind zum Schweigen verdammt. Doch dies muss nicht so sein. Das Wissen der Leser_in über Utopia resultiert weder aus einer autoritativ-autoritären Perspektive noch aus reiner Rationalität, da Utopien Menschenwerk sein müssen. Eine Analyse anthropologischer und utopischer Philosophie (Arnold Gehlen, Helmuth Plessner, Ernst Bloch, Gustav Landauer) ergibt, dass das utopische Verlangen ein Wesenszug des Menschen ist. Es drückt sich im Erzählen aus. Daraus ergibt sich, dass menschliches Wissen (und anderes gibt es nicht) in der Utopie nur möglich ist, wenn die Utopier_innen auch Utopist_innen sein dürfen. Der Totalitarismus geschlossener Utopien wird nur vermieden, wenn der utopische Text für eine Selbstreflexion auf der Ebene der handelnden Bürger_innen Utopias offen ist. Das bedeutet freilich, dass das Wissen der Leser_in über die utopische Gesellschaft ebenso fragmentiert und unzuverlässig sein muss wie das der Utopier_innen – und wie ihr eigenes über ihre eigene Gesellschaft.

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Notes

  1. 1.

    Allerdings erschien die erste deutsche Übersetzung 1613 unter dem Titel Utopiae Pars II. Mundus alter & idem; auch die zweite deutsche Ausgabe 1704 trägt diesen Titel. Und die neueste deutsche Ausgabe 1981 (ein Faksimile von 1613) erschien als zweiter Band der Reihe „Klassiker der utopischen Literatur“ im Gerstenberg Verlag. Robert C. Elliott betont auch, dass „Utopie und Satire nicht eigentlich zu trennen“ (1967, S. 428) sind.

  2. 2.

    Ganz rührend bittet er (den realen) Petrus Ägidius darum, den (fiktiven, aber als real dargestellten) Raphael Hythlodeus nach einigen unklaren Details des Reiseberichts zu fragen. „Denn so sehr ich darauf bedacht bin, daß nichts Falsches in dem Buche stehe, so will ich doch, sofern etwas zweifelhaft ist, lieber etwas Unrichtiges als eine bewußte Lüge sagen, weil ich lieber aufrichtig als durchtrieben sein will“ (Morus 1960, S. 14). Dieser Wahrheitswille unterminiert aber den Glauben an die Wahrheit des Berichts.

  3. 3.

    Einige Tiere (etwa Insekten) sind stattdessen dezentral organisiert, d. h. es fehlt ihnen ein Zentrum (vgl. Plessner 1975, S. 245–248); dennoch gilt für alle Tiere, dass sie aufgrund ihrer ‚geschlossenen Form‘ ihrer Umwelt gegenüberstehen („Frontalität“ [Plessner 1975, S. 244]), während die Pflanzen aufgrund ihrer ‚offenen Form‘ in ihre Umwelt unselbstständig eingegliedert sind (vgl. Plessner 1975, S. 219). Diese Differenzierungen sind hier aber irrelevant.

  4. 4.

    Einen kritischen Vergleich von Bloch und Plessner unternimmt Zyber (2007).

  5. 5.

    Landauers Modell hallt als Echo bei Plessner nach: „So gibt es ein unverlierbares Recht der Menschen auf Revolution, wenn die Formen der Gesellschaftlichkeit ihren eigenen Sinn selbst zunichte machen, und Revolution vollzieht sich, wenn der utopische Gedanke von der endgültigen Vernichtbarkeit aller Gesellschaftlichkeit Macht gewinnt. Trotzdem ist er nur das Mittel der Erneuerung der Gesellschaft“ (Plessner 1975, S. 345). Sowohl Landauer als auch Plessner denken an die klassische, geschlossene Utopie; die kritische, offene Utopie war ihnen noch nicht bekannt, aber sie folgt aus der Eigenlogik des utopischen Diskurses (dass nämlich die neueren Utopien nicht nur die bisherigen Topien, sondern auch die älteren Utopien kritisieren und aus dieser Reflexion einen neuen Charakter entwickeln (vgl. Seyferth 2008, S. 33–35)).

  6. 6.

    Ich schreibe ein Utopia in einem Land, das so effizient funktioniert wie die blauen Straßenbahnen Zürichs, und alles in einem Land mit vier Sprachen, zwei Religionen, einer nahezu nutzlosen, unbrauchbaren Landschaft. Konflikte, die die Welt zerreißen, werden hier mit kühlster Vernunft geregelt, so als lösten Ingenieure ein Problem der Materialermüdung. Wieviel Druck kann die Gesellschaft ertragen ehe sie zusammenbricht, Dr. Science? Fragen Sie die Schweizer“ (Robinson 1992, S. 46). Später, in einem amerikanischen Internierungslager, gibt Tom die literarische Utopie ganz auf und wird zum realen Weltverbesserer (Robinson 1992, S. 303–304, 327–330). Tom ist auch der Mythen schaffende, Poesie inspirierende und somit utopiepoetische Geschichtenerzähler der ersten beiden Teile der Trilogie; er ist die einzige Figur, die in allen drei Teilen vorkommt.

  7. 7.

    Pandora ist selbstverständlich die mythische Figur, die zwar allerlei Unannehmlichkeiten auf die Menschheit loslässt (in Always Coming Home gibt es nicht mehr viele Menschen), aber immer noch etwas (utopische) Hoffnung in ihrer Büchse übrig hat. Wenn Prometheus mit seinem rationalen, hellen Blick in die Zukunft für die alte, rationalistische Utopie steht, so steht Epimetheus für den dunkleren Blick in die Vergangenheit, für die Weisheit aus Erfahrung, und für die Umkehrung der rationalistischen Utopietradition. Außerdem ist Epimetheus mit Pandora verheiratet – und auch Ursula K., die Tochter des Kulturanthropologen Alfred L. Kroeber, dessen bekanntes Handbook of the Indians of California (1925) das stilistische Vorbild für Always Coming Home ist, ist mit einem Mann verheiratet, der in die Vergangenheit blickt: mit dem Historiker Charles Le Guin.

  8. 8.

    Für das Buch haben neben der Autorin Le Guin u. a. noch der Komponist Todd Barton und die Künstlerin Margaret Chodos nichtschriftliche Textabschnitte (also Musikstücke, ursprünglich auf Audiokassette, und Zeichnungen) beigetragen. Auch extradiegetisch wird also die Autorität ausgeweitet.

Literatur

Primärwerke

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Seyferth, P. (2017). Utopische Perspektiven: Was uns die philosophische Anthropologie über Selbstreflexivität und Autorität in literarischen Utopien sagen kann. In: Uhrig, M., Cuntz-Leng, V., Kollinger, L. (eds) Wissen in der Fantastik. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-17790-4_9

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  • Print ISBN: 978-3-658-17789-8

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