Abstract
Immanuel Kant meinte schon 1784, wir seien „zivilisiert bis zum Überlästigen, zu allerlei gesellschaftlicher Artigkeit“, doch es fehle noch viel, um auch nur hinreichend „moralisiert“ zu sein. Heute haben sich die Verhältnisse umgekehrt. Denn wir sind moralisiert zum Überlästigen, aber uns fehlt ein notwendiger Impuls „zivilisierter Verachtung“, um dem Anspruch der Aufklärung auf Autonomie gerecht zu werden. Unsere Moralsysteme haben einen Grad an bevormundender Autorität erlangt, dass wir mehr denn je lernen müssen, uns vor der unerwünschten Einmischung anderer in unsere Lebensgestaltung zur Wehr zu setzen. In gleicher Weise wie wir durch soziale Medien im Internet mehr und mehr jedem gegenüber unser gesamtes Leben wie ein offenes Buch bloßlegen, eröffnen wir irgendwelchen Sittenwächtern die Erlaubnis die Regeln festzulegen, nach denen sie uns schützen können, weil sie jeden unserer Schritte überwachen dürfen. Dies sei der freiwillig zu entrichtende Preis für Freiheit und Sicherheit, die durch das Böse anderer Menschen bedroht werde. Unter dem Deckmantel ethisch-moralischer Pflicht treten uns selbst ernannte Vormünder gegenüber, die mit dem Anschein, unser Bestes zu befördern, kritiklose Anpassung an die Stelle aufgeklärter Selbstständigkeit setzen. Kaum ist das Internet aus den Windeln gewachsen, schon ergreifen Moralisten das Wort, um die Regeln festzulegen, nach denen auch dort der Schein des Guten gewahrt werde, statt das Unzensierte zur Kenntnis zu nehmen. Der Beitrag warnt davor, das Internet verkommen zu lassen zu einer seichten Verdoppelung unserer moralisierten Artigkeit, in der immer schon feststeht, was einer sagen und denken darf, bevor es gedacht und gesagt wird.
Access this chapter
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Preview
Unable to display preview. Download preview PDF.
Bibliografie
Adorno, Theodor W. (1970). Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit. In: Gerd Kadelbach (Hrsg.), Erziehung zur Mündigkeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Ahrbeck, Bernd (2011). Behinderung gibt es nicht. In: Forschung und Lehre, 10/11.
Gmür, Mario (2005). Die Unfähigkeit zu zweifeln. Welche Überzeugungen wir haben und wann sie pathologisch werden. Stuttgart: Klett-Cotta.
Grotelüschen, Frank (2013). Weniger dumm im Kollektiv. In: Deutschlandradio Kultur, 26.12.2013. www.deutschlandfunk.de/schwarmintelligenz-manuskript-weniger-dumm-im-kollektiv.740.de.html?dram:article_id=273030. Zugriff: 27.08.2016.
Grün, Klaus-Jürgen (2008). Glaubensfragen. Die falsche Rede über Zuschreibung von Schuld und Verantwortung. In: Klaus-Jürgen Grün, Michel Friedman & Gerhard Roth (Hrsg.), Entmoralisierung des Rechts – Maßstäbe der Hirnforschung für das Strafrecht (S. 11-53). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Grün, Klaus-Jürgen (2010). Die Ökonomie der ethischen Entscheidung und die untergeordnete Rolle der Vernunft bei ihrem Zustandekommen. In: Klaus-Jürgen Grün, Michel Friedman & Gerhard Roth (Hrsg.), Kopf oder Bauch – Zur Biologie der Entscheidung (S. 28-60). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Grün, Klaus-Jürgen (2011). Angst, die sich verschweigt. Über die falsche Konditionierung unseres moralischen Bewusstseins. In: Philipp Aerni & Klaus-Jürgen Grün (Hrsg.), Moral und Angst – Erkenntnisse aus Moralpsychologie und politischer Theologie (S. 57-78). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Grün, Klaus-Jürgen (2013). From Ethical Hostility Toward Cooperative Ethics. In: Karin Heinrichs, Fritz Oser & Terence Lovat (Hrsg.), Handbook of Moral Motivation. Theories, Models, Applications (S. 425–444). Rotterdam: Sense Publishers.
Grün, Klaus-Jürgen (2015). Das Gute möge nützlich sein – Wirtschaftsethik als Warnung vor der Moral. In: Philipp Aerni, Klaus-Jürgen Grün & Irina Kummert (Hrsg.), Naturalisierte Ethik und Verantwortung – Strategien und Heuristiken zur Humanisierung der Wirtschaft (S. 73-106). Berlin: Gabler Springer.
Höffe, Otfried (2013). Ethik – Eine Einführung. München: C.H.Beck.
Horx, Matthias (2016). Die digitale Evolution wird nur dann nicht ins Desaster führen, wenn sie sich rückkoppelt mit dem genuin Humanen, dem Maßvoll-Menschlichen. In: Handelsblatt (12.08.2016).
Irrgang, Bernhard (2011). Internetethik. Würzburg: Königshausen und Neumann.
Käfer, Armin (2014). Ethikrat gegen Inzestverbot. Kann denn Liebe Sünde sein? In: Stuttgarter-Zeitung (25.09.2014). www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.ethikrat-gegen-inzestverbot-kann-denn-liebe-suende-sein-page2.dee77089-f338-4f62-9f08-e7047d15173b.html. Zugriff: 27.08.2016.
Kant, Immanuel (1983). Kritik der praktischen Vernunft. In: Wilhelm Weischedel (Hrsg.), Werke in sechs Bänden. Band IV, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
Lobo, Sascha (2015). S.P.O.N. – Die Mensch-Maschine: Hass im Netz. In: Der Spiegel (26.8.2015). http://www.spiegel.de/netzwelt/web/wie-der-hass-gegen-fluechtlinge-im-internet-gesaet-wird-kolumne-a-1049883.html. Zugriff: 27.08.2016.
Marx, Karl (1956). Theorien über den Mehrwert. In: Marx Engels Werke (MEW). Bd. 26.1, Berlin: Dietz.
Neff, Benedict (2016). Die unerwünschte Offenbarung eines deutschen Syrers. In: Audiatur-Online, 8. Juli 2016. http://www.audiatur-online.ch/2016/07/08/die-nicht-ueberall-erwuenschte-offenbarung-eines-deutschen-syrers/. Zugriff: 27.08.2016.
Papst Benedikt XVI. (2008). In: Spiegel Online (20.3.2008). http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,542556,00.html. Zugriff: 27.08.2016.
Perterer, Manfred (2016). Warum dürfen wir nicht so leben, wie wir wollen? In: Salzburger Nachrichten (30.07.2016)., Standpunkt, http://www.salzburg.com/nachrichten/meinung/standpunkt/sn/artikel/warum-duerfen-wir-nicht-so-leben-wie-wir-wollen-207146/. Zugriff: 27.082016.
Pfaller, Robert (2011). Wofür es sich zu leben lohnt. Elemente materialistischer Philosophie. Frankfurt am Main: S. Fischer.
Sauerbrey, Anna (2016). Michael Sandel: „Das digitale Zeitalter bedroht die Demokratie“. In: Tagesspiegel (16.06.2016). http://m.tagesspiegel.de/kultur/us-philosoph-michaelsandel-das-digitale-zeitalter-bedroht-die-demokratie/13739332.html?utm_referrer=http%3A%2F%2Fm.facebook.com%2F.. Zugriff: 27.08.2016.
Schultz, Wolfram (2009). Midbrain Dopamine Neurons: A Retina of the Reward System? In: Paul W. Glimcher, Colin F. Camberer, Ernst Fehr & Russell A. Poldrack, Neuroeconomics. Decision Making and the Brain (S. 323-329). Amsterdam, Boston: Elsevier.
Strenger, Carlo (2015). Zivilisierte Verachtung. Eine Anleitung zur Verteidigung unserer Freiheit. Berlin: Suhrkamp.
Surowiecki, James (2007). Die Weisheit der Vielen. Warum Gruppen klüger sind als Einzelne. München: Goldmann.
Tagesschau (2016). Polizeiliche Kriminalitätsstatistik. In: https://www.tagesschau.de/inland/straftaten-auslaender-erklaerung-101.html. Zugriff: 27.08.2016.
von Ondarza, Nicolai (2016). EU-Skeptiker an der Macht. Die Rolle integrationskritischer Parteien in EU-Parlament und nationalen Regierungen. In: Stiftung Wissenschaft und Politik, SWP-Aktuell (13. April 2016).
Winkler, Heinrich August (2015). Deutschlands moralische Selbstüberschätzung. In: FAZ (30.09.2015). www.faz.net/aktuell/politik/fluechtlingskrise/gastbeitrag-deutschlands-moralische-selbstueberschaetzung-13826534.amp.html. Zugriff: 27.08.2016.
www.cbc.ca/news/canada/hamilton/news/internet-flags-hamilton-man-s-pregnancy-test-result-as-cancer-1.1214830. Zugriff: 27.08.2016.
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Editor information
Editors and Affiliations
Rights and permissions
Copyright information
© 2017 Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH
About this chapter
Cite this chapter
Grün, KJ. (2017). Die Moral an der Wurzel packen – Heimlicher Groll im Internet. In: Thorhauer, Y., Kexel, C. (eds) Face-to-Interface. Schriften der accadis Hochschule. Springer Gabler, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-17155-1_5
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-17155-1_5
Published:
Publisher Name: Springer Gabler, Wiesbaden
Print ISBN: 978-3-658-17154-4
Online ISBN: 978-3-658-17155-1
eBook Packages: Business and Economics (German Language)