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4. Aristoteles: Lernen und Epagoge

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Lernen und Erfahrung. Epagogik

Part of the book series: Phänomenologische Erziehungswissenschaft ((PHE,volume 5))

  • 2665 Accesses

Abstract

Die Polemik des Empirismus gegen den Apriorismus gründet in der Voraussetzung, dass eine Einheit von Erfahrung, Lernen und Apriori nicht denkbar sei. Lernen erscheint hier nicht als Indiz der Zusammengehörigkeit von Erfahrung und Apriori, sondern ihres gegenseitigen Sich-Ausschließens.

Der Autor Herr Günther Buck ist verstorben. Dieses Werk wird von Herrn Malte Brinkmann herausgegeben.

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Notes

  1. 1.

    (Vgl. Aristoteles 1995, Topik Z 4, 141 a28  ff.; Nikomachische Ethik Z 3, 1139 b26  ff.; Analytica Posteriora 71a bis 72 a5.).

  2. 2.

    „In der Differenzierung des Wissensbegriffs liegt also, problemgeschichtlich betrachtet, die eigentliche Bedeutung der Anamnesislehre“ (Wieland 1962, S. 78. – Wir beziehen uns auch im Folgenden auf diese Arbeit). Vgl. zum Folgenden auch: Fritz 1964, S. 3).

  3. 3.

    Zum πϱότεϱov ἡμῖv als ἀϱχή vgl. Aristoteles 1995, Rhetorik B 20, wo das Beispiel als eine Form der ἐπαγωγή und insofern als ἀϱχή bezeichnet wird, sowie Aristoteles 1995, Metaphysik Δ 1, 1013 a2 ff.

  4. 4.

    So etwa die das Verhältnis von δύvαμιϛ und ἐvέϱγεια verdeutlichenden Beispiele in Aristoteles 1995, Metaphysik ϴ 6, 1048 a35 ff.

  5. 5.

    Nur das mathematische Erkennen und Lernen hat nicht diesen prinzipiell epagogischen Charakter wie die Erkenntnis der natürlichen und menschlichen Dinge. Aristoteles fragt einmal, weshalb ein Kind schon Mathematiker, aber nicht auch ein Weiser oder Naturkundiger sein könne (Aristoteles 1995, Nikomachische Ethik, Z 9, 1142 a17 f.). Der Grund dafür ist, dass in den sachhaltigen Wissenschaften die Kenntnis der Prinzipien nur unter Voraussetzung der Erfahrung (ἐξ ἐμπειϱίαϛ, Aristoteles 1995, Nikomachische Ethik, Z 9, 1142 a19) zustande kommt. Erfahrung aber bedeutet: lange Erfahrung, Erfahrung, die die Frucht einer langen Zeit ist (πλῆϑοϛ γὰϱ χϱόνου ποιεῖ τὴν ἐμπειϱίαν, Aristoteles 1995, Nikomachische Ethik, Z 9, 1142 a15 f.). Die aber fehlt einem jungen Menschen, und so kann er kein Erfahrener (ἔμπειϱοϛ) sein und folglich die Prinzipien nicht wahrhaft kennen, sondern nur vom Hörensagen von ihnen reden (Aristoteles 1995, Nikomachische Ethik, Z 9, 1142 a19 f.). Der Mathematiker dagegen arbeitet mit Abstraktionen (Aristoteles 1995, Nikomachische Ethik, Z 9, 1142 a18 f.). Das heißt, man ist hier weder auf die lange Vorgeschichte der Erwerbung von Voraussetzungen angewiesen, noch muss man die Voraussetzungen aufklären, so wie man in der Prinzipienforschung die Erfahrung als Voraussetzung der Prinzipienerkenntnis aufklären muss. Es genügt hier, von gegebenen Prinzipien aus unter Befolgung gewisser Operationsregeln zu deduzieren. Die prinzipielle Unangewiesenheit des mathematischen Lernens und Lehrens auf den epagogischen Weg schließt freilich die Möglichkeit nicht aus, dass man aus didaktischen Gründen den Anfang bei dem für uns Früheren nimmt. Die mathematischen Beispiele, mit denen Aristoteles das Wesen der Epagoge erläutert (vgl. Aristoteles 1995, Topik Z 4, Physik A 1), zeigen, dass man eben auch hier mit Rücksicht auf die vielen (οἱ πολλοί) faktisch von dem uns Bekannteren, aber der Sache nach weniger Bekannten ausgehen muss.

  6. 6.

    So bezeichnet Wieland den Sachverhalt, dass die Prinzipien immer auf Dinge bezogen sind, für die sie Prinzipien sind (vgl. Wieland 1962, S. 55 ff.). – Aus der Relationalität der Prinzipien wird nicht nur der Prinzipienpluralismus der aristotelischen Philosophie verständlich (vgl. Wieland 1962, S. 57 f.), sondern es lässt sich daraus auch die traditionelle Annahme widerlegen, die Unterscheidung des Früheren φύσει und ἡμῖv stelle einen Unterschied zwischen einer objektiven Seinsordnung und einer subjektiven Erkenntnisordnung dar, wie es der Aristotelismus mit der Unterscheidung von principia essendi und principia cognoscendi behauptet (vgl. dazu Wieland 1962, S. 72 f.).

  7. 7.

    Dieser hermeneutische, das Verständnis des Lernenden von ihm selber her auffassende Nachweis, dass das Lernen mit etwas Allgemeinem beginnt, macht nicht nur die üblichen Induktionstheorien im Ansatz hinfällig; von ihm her lässt sich auch zeigen, dass das zentrale Problem vieler zeitgenössischer psychologischer Lerntheorien – wie man nämlich das an einem Besonderen Gelernte auf anderes „übertragen“ könne – im Grunde ein Scheinproblem ist. Es ist eine der wichtigsten Erfahrungen über das Lernen, dass wir nie bloß etwas ganz Bestimmtes lernen, gleichgültig ob dies nun eine motorische Fertigkeit, eine Technik oder ein Wissen ist, und gleichgültig, ob es sich beim Wissen um etwas mehr oder weniger Allgemeines handelt, sondern dass wir beim Lernen des einen immer zugleich mehr als dieses eine lernen. Wir lernen nicht nur implizit anderes von gleicher oder analoger Natur mit, sondern wir erwerben zugleich auch Dispositionen für künftiges Lernen. Dass jemand etwas gut gelernt hat, besagt nicht nur, dass er dieses Bestimmte nun kann, sondern zugleich, dass er, je besser er es gelernt hat, desto fähiger ist, Neues zu lernen. Es gäbe gar keinen Lernprozess, wenn wir immer nur einzelnes ohne diesen Horizont des Allgemeinen lernten, ja nicht einmal das einzelne könnten wir so lernen. Die Idee der sog. formalen Bildung ist dieser Erfahrung entsprungen, ebenso wie die aus der didaktischen Diskussion unserer Tage bekannte Idee des exemplarischen Lehrens und Lernens. Es handelt sich hier, wie man leicht sieht, um das uns bekannte Phänomen des Ausgehens vom schon Bekannten, genauer des zu jeder Bekanntheit gehörenden Vorverständnisses, aufgrund dessen das Neue, noch Unbekannte angeeignet wird. Das Phänomen hat auch eine negative Seite: Das Vorverständnis kann der neuen Situation, mit der wir konfrontiert werden, inadäquat sein, sie verdunkeln, statt sie aufzuschließen. Es kann das Dazulernen verhindern. Es gehört zur Dialektik des Vorverständnisses, dass es in Befangenheit, in Vorurteil und in Stereotypie der Antworten umschlagen kann. In der empirischen Lernpsychologie ist es nun üblich geworden, in dieser Hinsicht von „Übertragung“ (transfer) zu sprechen und dabei positiven und negativen Transfer zu unterscheiden. Der Terminus scheint unverfänglich; aber in ihm steckt ein theoretischer Ansatz, der mit den modernen Induktionstheorien die Voraussetzung von der Priorität des Einzelnen und Besonderen vor dem Allgemeinen teilt. Dementsprechend wird das Problem des Transfers als ein Problem der Generalisierung aufgefasst, die ihrerseits (so etwa bei Thorndike, Hull) assoziationsmechanistisch erklärt wird. Generalisierende (antizipierende) Verhaltensweisen gelten als Produkte aus speziellen Verhaltensweisen, die ihrerseits gern nach dem Reiz-Reaktions-Schema (stimulus-response) konstruiert werden, also überhaupt keine Weisen des Verstehens, geschweige denn eines Verstehens „im Allgemeinen“ darstellen.

  8. 8.

    Diese innere Gegenläufigkeit zeigt auf seine Weise das im weiteren Sinn induktive, d. h. hypothetisch-induktive Verfahren der modernen Wissenschaft. Dieses ist immer eine Einheit von Induktion im engeren Sinn und Ableitung aus den induktiv gewonnenen Hypothesen sowie von experimenteller Verifikation des Abgeleiteten.

  9. 9.

    Die Prinzipienforschung ist allerdings nur „ein Anwendungsgebiet der Dialektik unter mehreren möglichen. In der Topik jedenfalls steht ein anderes Anwendungsgebiet der Dialektik unverhältnismäßig stark im Vordergrund: die kunstmäßig geführte Übungsdiskussion“ (Wieland 1962, S. 217).

  10. 10.

    Ausgenommen allerdings Analytica Posteriora B 23 (Aristoteles 1995), wo die Induktion als eine Weise des Syllogismus interpretiert wird. Vgl. die Einführung von Ross zu seiner Ausgabe der beiden Analytiken (Ross 1964, S. 47–51).

  11. 11.

    Wieweit die Induktion über die Erfahrung hinausreicht, zeigt sich auch an der prinzipiellen Möglichkeit, dass das für uns Frühere und Bekanntere, auf das sich die Induktion stützt, gar keine unmittelbare Erfahrung mehr, sondern schon ein Produkt fortgeschrittener Bildung ist. (vgl. Aristoteles 1995, Topik Z 4, 142 a2 ff.).

  12. 12.

    Die rhetorische Induktion beruht, wie Aristoteles in Analytica Posteriora B 68 b38 ff. ausführt, darauf, dass die als Beispiel fungierende Erfahrung immer schon eine Allgemeinerfahrung ist.

  13. 13.

    Das impliziert freilich keinen prinzipiellen Gegensatz zwischen der Erfahrung und dem philosophischen Denken. Denn „nur aus einer solchen Erfahrung der Dinge ist Denken möglich, und das Denken selbst ist bei Aristoteles nichts anderes als die vollendete Erfahrung der von ihm gedachten Gegenstände“ (Wieland 1962, S. 38).

  14. 14.

    Vgl. Ross‘ Einführung zu den Analytiken (Ross 1964, S. 49). – Das macht das Argumentieren hier natürlich nicht überflüssig. Aber die Prinzipien ergeben sich nicht in logischer Kontinuität, sondern diskontinuierlich. Sie sind plötzlich da. Nur insofern hat es Sinn, vom „intuitiven“ Charakter der Prinzipienerkenntnis zu sprechen.

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Buck, G., Brinkmann, M. (2019). 4. Aristoteles: Lernen und Epagoge. In: Brinkmann, M. (eds) Lernen und Erfahrung. Epagogik. Phänomenologische Erziehungswissenschaft, vol 5. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-17098-1_4

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  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-17098-1_4

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  • Publisher Name: Springer VS, Wiesbaden

  • Print ISBN: 978-3-658-17097-4

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