Zusammenfassung
Die Geschichte der spanischen Industrie- und Handelskammern ist durch die Auseinandersetzung zwischen öffentlichen Autoritäten und freiwilligen Wirtschaftsverbänden geprägt, sie zu beherrschen. Der Beitrag untersucht die organisatorische Evolution der spanischen Kammern seit dem späten 19. Jahrhundert. Deren institutioneller Wandel verlief seit 2010 turbulent und mündete nach einer gänzlichen Abschaffung der Pflichtmitgliedschaft im Jahr 2014 in ein Modell mit öffentlichem Status, verpflichtender Registrierung der Unternehmen und freiwilliger Mitgliedschaft. Die Kammern waren in der Folge mit Personalentlassungen und grundlegenden Umstrukturierungen befasst. Die Pflichtmitgliedschaft wurde im Zuge der Krisenbewältigungspolitik der spanischen Regierung abgeschafft, ohne dass es eine umfassende Debatte dazu gegeben hätte. Der Hintergrund liegt einerseits in der langjährigen Unfähigkeit der Kammern, ihren Nutzen gegenüber ihren Mitgliedern unter Beweis stellen zu können, und andererseits in der Konkurrenz zum allgemeinen Dachverband der freiwillig organisierten Wirtschaft.
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Notes
- 1.
Aus politikwissenschaftlicher Perspektive werden bei der Analyse der Handelskammern die institutionellen Anpassungsprozesse als Resultate der Spannungen zwischen Wirtschaftsmacht und ihrer Interaktion mit der Regierung verstanden, wobei Kammern ihr Überleben dadurch absichern wollen, dass sie Dienstleistungen für lokale Unternehmen erbringen und die Interessen ihrer Mitglieder gegenüber der Regierung vertreten (in Opposition zu den Arbeitgeberinteressen, die von den Spitzenverbänden der Arbeitgeber vertreten werden) (Windmuller und Gladstone 1984).
- 2.
Der Eigenname der spanischen Handelskammern ist „Cámaras de Comercio, Industria y Navegación“.
- 3.
Um nur einige zu nennen: Die Handelskammer Barcelona wurde 1886 gegründet, die in Seville ebenfalls 1886, die in Madrid 1887 und die in Lugo 1893.
- 4.
Handelskammern wurden etabliert in: Almería, Alcoy, Badajoz, Barcelona, Béjar, Bilbao, Cartagena, Granada, Huelva, Jerez de la Frontera, La Coruña, Madrid, Málaga, Palamós, Palma de Mallorca, Reus, Sabadell, Santander, Sevilla, Terrasa, Valladolid, Vigo und Zaragoza.
- 5.
Práxedes Mateo Sagasta war ein liberaler Politiker, der als Premierminister in verschiedenen Phasen 1870–1902 amtierte.
- 6.
Aguar (1998) schätzt, dass zwei bis drei Prozent der Mitglieder Kammerbeiträge entrichteten.
- 7.
Praktisch waren die Kammern die Stimme derjenigen Unternehmer, die internationalen Handel und freie Märkte unterstützten, während freiwillige Wirtschaftsverbände sich mehr dem Protektionismus und den industriellen Beziehungen verpflichtet sahen.
- 8.
Bis dahin konnten Arbeitgeber individuell oder durch die politischen Parteien, die die eigentlichen Organisationen sozialer Interessen waren (Linz 1981), Zugang zu den Institutionen erhalten. Zudem akzeptierten die Arbeitgeber die repressive Rolle des Militärs gegenüber Demonstrationen der Arbeiter, wie während der Diktatur von Primo de Rivera (1923–1930) geschehen.
- 9.
Es fällt auf, dass der Pflichtbeitrag nicht zur Debatte stand.
- 10.
Das ist eine Eigenschaft, die die organisatorische Evolution der Kammer deutlich prägt. Seit der Reform der internen Regeln der Kammern 1930 konnten die Arbeitgeberorganisationen Mitglieder werden. Dies schwächte die Einzigartigkeit der Kammern, da die Arbeitgeberverbände vergleichsweise mächtiger und stabiler organisiert waren.
- 11.
Die Suspension der Kammerwahlen wurde mit der Kriegssituation begründet. Es gab allerdings während der gesamten Franco-Diktatur keine Wahlen.
- 12.
Beispielsweise waren die Kammern für bestimmte Finanzförderungen für das Militär und für Ein- und Ausfuhrgenehmigungen zuständig.
- 13.
Die Kammern verloren Aufgaben des Monitorings und der Inspektion, die anderen administrativen Körperschaften zugeordnet wurden.
- 14.
Die Diktatur lehnte die Idee ab, dass Kammern öffentliche Repräsentanten der Interessen einer Unternehmensgruppe sind.
- 15.
Der Consejo Superior verstärkte seine zentralisierte und interventionistische Seite, um der öffentlichen Verbreitung der Ansichten lokaler Kammern vorzubeugen.
- 16.
Die Kammern konnten 1962 Wahlen abhalten, um ihre Plenarversammlungen zu erneuern, aber das Handelsministerium suspendierte diesen Prozess.
- 17.
Die Aufgabenliste der Kammern des Gesetzes von 1993 enthielt Handelsschiedsgerichtsbarkeit, Exportförderung, Produktzertifizierung, Stiftungsgründungen, die Förderung der Ausbildung in Handel und Industrie, die Forschungsförderung, die Förderung der Markttransparenz, Unterstützung des Handels, die Gründung von Partnerschaften mit Beratungszwecken, die Verwaltung öffentlicher Dienstleistungen, die Organisation von Handelsmessen, Studien und Konsultationen bei öffentlichen Verwaltungen. Zusätzlich stimmte die Regierung der Beteiligung der Regionen an der Organisation der Kammern zu, an die öffentliche Dienstleistungen übertragen werden konnten.
- 18.
Die Regierung offenbarte eine sehr kleinliche Haltung zur Frage der Verfassungsmäßigkeit der Pflichtbeiträge. 1996 entschied das Verfassungsgericht, dass diese verfassungskonform seien.
- 19.
Zusätzliche Daten und Einschätzungen in: De la Dehesa, G. 2011. Cámaras de comercio y patronales, El País (March 13, 2011): http://elpais.com/diario/2011/03/13/negocio/1300025672_850215.html, Zugegriffen: 30. September 2016.
- 20.
Die parlamentarischen Debatten offenbarten eine gewisse Gemeinsamkeit zwischen den beiden großen Parteien, dass die Kammern ein neues organisatorisches Modell benötigen. Die Sozialistische Partei unterstützte offen das neue – von der Volkspartei eingeführte – Kammermodell einer freiwilligen Assoziation ohne Pflichtmitgliedschaft. Aber die Sozialisten öffneten die Tür für eine öffentliche Finanzierung (ohne ein klares Modell vorzuschlagen), damit die Kammern ihre Aufgaben angemessen erledigen können. Die Baskische Nationalistische Partei unterstützt Pflichtmitgliedschaft und -beiträge, da sie sagt, dass das neue Kammermodell nur dem Wirtschaftsministerium und den großen Konzernen nützt. Sie fordert eine öffentliche Finanzierung, um die oben beschriebenen Haushaltverluste zu kompensieren. Die Katalanische Nationalistische Partei unterstützt das Modell der Regierung, diskutiert aber die Erweiterung der Kammeraufgaben und steuerliche Vorteile für Kammermitglieder.
- 21.
Das Baskenland debattiert seit September 2015 über ein neues Gesetz.
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Medina, I., Molins, J.M. (2017). Institutioneller Wandel der spanischen Industrie- und Handelskammern. In: Sack, D. (eds) Wirtschaftskammern im europäischen Vergleich. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-16934-3_5
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