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Symbole des Bösen und Enthymeme des Guten. Über die kollektive Bewältigung von Amokläufen

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Vermittlungskulturen des Amoklaufs
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Zusammenfassung

Lange galten Amokläufe als kulturgebundenes Syndrom, das sich westlichen Ethnologen und Ethnopsychiatern ausschließlich in der südostasiatischen Inselwelt offenbarte. Wichtige Zäsuren dieser Wahrnehmung waren die Amokläufe von Littleton im Jahr 1999 in den Vereinigten Staaten und der Amoklauf von Erfurt im Jahr 2002 in Deutschland. Amokläufe sind traurige Realität in der sogenannten ‚Westlichen Welt‘ und doch bleibt die Auseinandersetzung mit derartig ‚sinnlosen‘ Gewaltverbrechen widersprüchlich: Amokläufe sind in ihrer Abnormalität normal und in ihrer Unberechenbarkeit wahrscheinlich geworden.

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Notes

  1. 1.

    Die empirischen Beispiele stammen aus meiner Dissertationsschrift, die ich im Juni 2015 unter dem Titel „Gewalt ohne Grund. Über die narrative Bewältigung von Amokläufen“ an der Universität Konstanz eingereicht und am 19. Mai 2016 erfolgreich verteidigt habe. Hierfür habe ich die Berichterstattung über die Amokläufe von Erfurt und Winnenden innerhalb eines Jahres nach dem jeweiligen Ereignis diskurs- und narrationsanalytisch untersucht. Als Printmedien wurden die Zeit, der Spiegel, die Süddeutsche Zeitung sowie die Welt ausgesucht und insgesamt 1134 Artikel gesichtet und ausgewertet (Gerster 2016).

  2. 2.

    Mit Robert K. Merton gesprochen wäre also die konkrete Sanktionierung des Täters (Geldstrafe, Freiheitsentzug, etc.) die manifeste Funktion und die Wiederherstellung der Ordnung die latente Funktion der Bestrafung. Letztere ist nicht nur kultursoziologisch interessanter, sondern auch von größerer Bedeutung für die Gesellschaft.

  3. 3.

    Die Stadt Stuttgart sagt beispielsweise ein Counter-Strike-Turnier ab, das am 27.03.2009 und damit nur knapp zwei Wochen nach dem Amoklauf von Winnenden in nächster geografischer Nähe stattfinden sollte; private und öffentliche Fernsehsender nehmen bestimmte Filme und Serien aus dem Programm; das Stattfinden der Nürnberger Waffenmesse nur wenige Tage nach dem Amoklauf von Winnenden wird als Affront und die auf halbmast wehenden Fahnen als unglaubwürdig angesehen.

  4. 4.

    Natürlich gibt es auch positive Fremd- und Selbstzuschreibungen der in der Kritik stehenden Gruppen der Gamer und Schützen, die auszuführen jedoch den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen würde.

  5. 5.

    „Alles ganz normal“, Süddeutsche Zeitung, 11.02.2011.

  6. 6.

    „Hunderte bringen illegale Waffen freiwillig zur Polizei“, Die Welt, 26.05.2009.

  7. 7.

    „Die Waffen nieder“, Die Zeit, 19.03.2009.

  8. 8.

    „Die Angst vor den Schützen“, Der Spiegel, 23.03.2009.

  9. 9.

    „Präventionsrat kommt im Juli“, Süddeutsche Zeitung, 02.05.2002.

  10. 10.

    In diesem Spiel, das ausschließlich über das Internet mit und gegen reale Spieler gespielt werden kann, stehen sich zwei Teams gegenüber: Während ein Einsatzkommando Geiseln befreien oder eine Bombe entschärfen muss, versuchen die Terroristen ebendies zu verhindern.

  11. 11.

    „Die freie Hasswirtschaft“, Der Spiegel, 06.05.2002.

  12. 12.

    „Tödliche Handlungsmuster“, Süddeutsche Zeitung, 02.05.2002.

  13. 13.

    Freilich gibt es eine unterschiedliche Gewichtung der Debatten nach Erfurt und Winnenden, die in diesem Kapitel zu kurz kam. Es soll der Hinweis genügen, dass nach dem Amoklauf von Erfurt die Mediendebatte heftiger geführt wurde und nach Winnenden der Waffendiskurs im Vordergrund stand. Letzteres ist dem Umstand geschuldet, dass der Vater des Amokläufers von Winnenden die Waffe unverschlossen im Schlafzimmer aufbewahrte. Dies löste eine breite Debatte um eine Teilschuld des Vaters sowie um eine erneute Verschärfung des Waffengesetzes aus, das bereits nach Erfurt erneuert worden war. Die stärkere Fokussierung auf ‚Killerspiele‘ nach dem Amoklauf von Erfurt lässt sich dagegen vor allem auf die unterschiedlichen Täternarrative zurückführen. Obwohl auf den Computern beider Täter Ego-Shooter gefunden werden, ergänzen sie das Bild des gescheiterten Schülers Robert Steinhäuser besser als dasjenige von Tim Kretschmer. Das Schulversagen wird mit eben jener ungünstigen Freizeitbeschäftigung und der Vereinzelung assoziiert, während Tim Kretschmer – zumindest augenscheinlich – besser integriert war.

  14. 14.

    „Die verletzliche Schule“, Süddeutsche Zeitung, 13.03.2009.

  15. 15.

    „Die Schule und das krumme Holz“, Die Welt, 07.05.2002.

  16. 16.

    „Die Schule und das krumme Holz“, Die Welt, 07.05.2002.

  17. 17.

    „‚Ein Verlust von Regeln und Grenzen‘“, Die Welt, 29.04.2002.

  18. 18.

    „Zwischen Erfurt und Pisa“, Die Zeit, 02.05.2002.

  19. 19.

    Nach dem Amoklauf von Robert Steinhäuser werden „Erfurt“ und „PISA“ zu Schlagworten für ein systemisches Versagen von Schulen und der deutschen Bildungspolitik. Der Umstand, dass beide Themen zeitlich nah beieinander liegen, führt dazu, dass sie sich gegenseitig verstärken: „‚Nach Erfurt‘ ist neben ‚nach PISA‘ das zweite Trauma des deutschen Schulsystems“ schreibt etwa die Süddeutsche Zeitung, „Viel Zugemutet“, Süddeutsche Zeitung, 10.05.2002.

  20. 20.

    „‚Unsere Schule ruft Gegengewalt hervor‘“, Die Zeit, 09.05.2002.

  21. 21.

    „Pfusch am Kind“, Der Spiegel, 13.05.2002.

  22. 22.

    „Schweigeminute in allen Klassenzimmern“, Die Welt, 29.04.2002.

  23. 23.

    „Berliner Schüler und Lehrer fassungslos“, Die Welt, 30.04.2002.

  24. 24.

    „Statt Frühstück Tom und Jerry“, Der Spiegel, 10.06.2002.

  25. 25.

    „CDU will nach Erfurt Wertediskussion neu beleben“, Die Welt, 21.05.2002.

  26. 26.

    „Wenn der Druck steigt“, Die Zeit, 02.05.2002.

  27. 27.

    „Nachdenkliche Debatte im Hamburger Parlament“, Die Welt, 10.05.2002.

  28. 28.

    „Schule ohne Leistung ist wirklichkeitsfremd“, Die Welt, 21.05.2002.

  29. 29.

    „Ich oder der“, Der Spiegel, 29.04.2002.

  30. 30.

    „Schweigeminute in allen Klassenzimmern“, Die Welt, 29.04.2002.

  31. 31.

    „‚Frau Koma kommt!‘“, Die Welt, 13.03.2009.

  32. 32.

    „‚Wir brauchen eine Kultur der Achtsamkeit‘“, Süddeutsche Zeitung, 19.03.2009.

  33. 33.

    „Punktsieg für reale Gräuel“, Der Spiegel, 13.05.2002.

  34. 34.

    „Regierung und Union für schärferes Waffenrecht“, Süddeutsche Zeitung, 06.05.2002.

  35. 35.

    „Thierse: Schülern nicht zu viel abverlangen“, Süddeutsche Zeitung, 04.07.2002.

  36. 36.

    „Thüringens merkwürdige Schulordnung“, Süddeutsche Zeitung, 24.05.2002.

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Gerster, M. (2017). Symbole des Bösen und Enthymeme des Guten. Über die kollektive Bewältigung von Amokläufen. In: Braselmann, S., Ahrens, J. (eds) Vermittlungskulturen des Amoklaufs. Kulturelle Figurationen: Artefakte, Praktiken, Fiktionen. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-16602-1_3

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