Zusammenfassung
Der Beitrag geht der Frage nach, ob bei der Anwendung der weitreichenden Notstandsklausel der Europäischen Menschenrechtskonvention noch eine politisch relevante Begrenzung oder Einhegung staatlicher Ausnahmemaßnahmen gegeben ist. Hierzu wird die einschlägige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte analysiert. Der Straßburger Gerichtshof gesteht den Mitgliedstaaten des Europarats einen weiten Ermessensspielraum zu, akzeptiert jedoch die Notstandsklausel selbst im Ausnahmezustand nicht als Rechtfertigung für gröbste, unverhältnismäßige Menschenrechtsverstöße durch nationale Behörden.
Sofern es nur eine überlegene Rechtsinstanz gäbe, die unter Ausschluss von Willkür mit Autorität zu entscheiden vermöchte, wo überall Terror herrscht
Kogon (1974, S. 17).
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Dem Europarat gehörten derzeit 47 Mitgliedstaaten an, d. h. alle europäischen Länder außer Weißrussland und dem Vatikanstaat.
- 2.
Konsequenterweise stellte der EGMR etwa im Fall Gäfgen v. Germany eine Verletzung von Art. 3 EMRK fest, weil dem Beschwerdeführer Magnus Gäfgen während der polizeilichen Vernehmung in Frankfurt mit folterähnlichen Maßnahmen gedroht worden war, um den Aufenthaltsort des von ihm entführten (und getöteten) Kindes in Erfahrung zu bringen.
- 3.
„1. Wird das Leben der Nation durch Krieg oder einen anderen öffentlichen Notstand bedroht, so kann jede Hohe Vertragspartei Maßnahmen treffen, die von den in dieser Konvention vorgesehenen Verpflichtungen abweichen, jedoch nur, soweit es die Lage unbedingt erfordert und wenn die Maßnahmen nicht im Widerspruch zu den sonstigen völkerrechtlichen Verpflichtungen der Vertragspartei stehen.
2. Aufgrund des Absatzes 1 darf von Artikel 2 nur bei Todesfällen infolge rechtmäßiger Kriegshandlungen und von Artikel 3, Artikel 4 Absatz 1 und Artikel 7 in keinem Fall abgewichen werden.
3. Jede Hohe Vertragspartei, die dieses Recht auf Abweichung ausübt, unterrichtet den Generalsekretär des Europarats umfassend über die getroffenen Maßnahmen und deren Gründe. Sie unterrichtet den Generalsekretär des Europarats auch über den Zeitpunkt, zu dem diese Maßnahmen außer Kraft getreten sind und die Konvention wieder volle Anwendung findet“.
- 4.
Dieser Abschnitt basiert teilweise auf den entsprechenden Ausführungen in Wolf (2017b).
- 5.
Die Datenbank ist abrufbar unter hudoc.echr.coe.int/eng. Zugegriffen: 21. Juni 2016.
- 6.
In Urteilen entscheidet der Gerichtshof neben der Zulässigkeit auch über die materielle Begründetheit einer Beschwerde. Demgegenüber geht es in den wesentlich zahlreicheren Entscheidungen meist nur um die Zulässigkeit. Fehlt diese, tritt der EGMR erst gar nicht in eine materielle Prüfung ein.
- 7.
Der EGMR entscheidet in Einzelrichterbesetzung (ausschließlich über Unzulässigkeitsfälle), als Ausschuss (drei RichterInnen), als Kammer (sieben RichterInnen) oder in seltenen Fällen als Große Kammer (17 RichterInnen).
- 8.
Die Reports of Judgments and Decisions sind abrufbar unter http://www.echr.coe.int/Pages/home.aspx?p=caselaw&c=#n1367580026604_pointer. Zugegriffen: 21. Juni 2016.
- 9.
Nach dem ursprünglichen EMRK-System wurden Beschwerden zunächst von der EKMR geprüft. Unter bestimmten Bedingungen konnten Fälle sodann an den – damals noch auf Milizbasis arbeitenden – Gerichtshof oder das Ministerkomitee des Europarats gelangen. 1998 wurde ein permanenter EGMR eingerichtet, der seitdem auch die Vorprüfung jeder Beschwerde übernimmt. Zur Entwicklung des institutionellen Kontrollsystems siehe etwa Mowbray 2012, S. 10 ff.
- 10.
Siehe hierzu auch Lemke 2013, S. 187–188.
- 11.
Es handelt sich, wenn nicht anders vermerkt, um Urteile des EGMR. Alle genannten Dokumente sind verfügbar über die Datenbank HUDOC (siehe Fußnote 5).
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Wolf, S. (2017). Die politische Dimension der Notstandsklausel der Europäischen Menschenrechtskonvention. In: Lemke, M. (eds) Ausnahmezustand. Staat – Souveränität – Nation. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-16588-8_15
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