Zusammenfassung
In Reaktion auf die Krise in der Eurozone wurden von europäischen wie nationalen politischen Entscheidern unterschiedliche Maßnahmen getroffen, die eine weitgehende Umgestaltung der wirtschaftspolitischen Steuerung und Koordinierung in der EU repräsentieren. Bei allen Unterschieden in der Ausgestaltung der Maßnahmen sind zwei Tendenzen deutlich sichtbar: die klare Priorisierung der Verringerung öffentlicher Schulden und Defizite, sowie die Verankerung dieser Priorisierung in Regeln, die sich nur schwer ändern lassen. Die deutlichen Proteste, welche durch die wirtschaftlichen Anpassungsmaßnahmen in mehreren Eurostaaten verursacht wurden, stehen dabei in einem scheinbaren Widerspruch zu den nur marginalen Korrekturen, die am Kurs wirtschaftlicher und fiskalischer Konsolidierung vorgenommen werden. Diesen Widerspruch möchte ich auflösen, indem ich zeige, dass die Regeln, welche dem Kurs von Konsolidierung und Austerität zugrunde liegen bewusst so ausgestaltet sind, dass sie von politischer Einflussnahme weitgehend abgeschottet sind und sich praktisch nicht durch einen demokratischen Machtwechsel ändern lassen.
This is a preview of subscription content, log in via an institution.
Buying options
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Learn about institutional subscriptionsNotes
- 1.
Damit sind neben Griechenland weiterhin noch Irland, Portugal, Spanien und Zypern gemeint, welche allesamt über einen Mechanismus finanzieller Unterstützung innerhalb des Euroraumes unter der Auflage politischer Bedingungen Hilfsmittel erhalten haben.
- 2.
- 3.
- 4.
Dies liegt oft daran, dass diese Grundsätze in Verfassungen oder verfassungsähnlichen Gesetzen verankert sind, die nicht leicht geändert werden können.
- 5.
Was bei der Krise in der Eurozone definitiv der Fall war.
- 6.
Obwohl das Budget der EU aufgrund seiner geringen Größe nicht dazu geeignet ist, makroökonomische Schocks zu stabilisieren und obwohl die Möglichkeit einer Eurokrise von den maßgeblichen Entscheidungsträgern wie schon oben erwähnt bis 2010 praktisch ausgeblendet wurde (Geeroms et al. 2014, S. 49, 177).
- 7.
Ausführlich erklärt bei Sinn (2015, S. 55–58, 81–88).
- 8.
So spricht Sinn (2015, S. 28) davon, dass durch Art. 125 AEUV „ein solcher Beistand (gemeint ist finanzieller Beistand, Anm. d. Verf.) explizit ausgeschlossen [wurde]“, während Polster (2014, S. 236) argumentiert „[d]er Artikel 125 schließe eine Beistandspflicht der Gemeinschaft aus, nicht aber freiwillige Hilfe auf bilateraler Basis.“ (Hervorhebungen im Original).
- 9.
Diese Lösung wurde vor allem vom damaligen deutschen Finanzminister Wolfgang Schäuble vorgeschlagen (Polster 2014, S. 69).
- 10.
Diese Rechtsgrundlage ist der neue Art. 136 Abs. 3 AEUV. Dass diese Ergänzung im Rahmen des vereinfachten Vertragsänderungsverfahrens zustande kam, wird juristisch gesehen im Allgemeinen als zulässig akzeptiert (Berens 2014, S. 194).
- 11.
- 12.
Näheres dazu bei Franke (2012, S. 62–64).
- 13.
- 14.
In Griechenland betrug dieser zwischen 2010 und 2013 17,4 % (Heimberger 2014, S. 242).
- 15.
Gerade die EZB hätte zu einer frühen Phase deutlich aktiver werden können. Im April 2010 betrug die griechische Staatsschuld ungefähr 300 Mrd. EUR; die EZB hätte einen eher geringen Anteil dieser Schulden aufkaufen können und somit ein Stabilitätssignal an die Märkte gesendet (Blyth (2014, S. 50) schätzt die Kosten für eine so früh und entschlossen durchgeführte Unterstützungsaktion auf 50 Mrd. EUR). Stattdessen war die EZB genötigt insgesamt mehr als eine Billion Euro Kredite an Banken zu vergeben, und es wurden im Rahmen der Unterstützungsprogramme Mittel in deutlich höherer Größenordnung mobilisiert, mit den eben erläuterten negativen Folgen für Wirtschaftswachstum und Arbeitslosigkeit (Panico und Purificato 2013, S. 604); von den zusätzlichen Kreditrisiken in der Bilanz eines öffentlichen Finanzinstituts – gemeint ist die EZB – ganz zu schweigen.
- 16.
So argumentiert Carstensen (2015, S. 399) dass in Griechenland Preissenkungen bis zu 50 % notwendig wären, um die Leistungsbilanz wieder auszugleichen; eine Forderung, die weitgehend ohne Rücksicht auf deren sozio-ökonomische Implikationen gestellt wird. Ferner argumentiert Sinn (2015, S. 163–169) dass die Krisenstaaten in der Anpassung ihrer Preise noch im Rückstand liegen und daher noch weitere Anpassungsschritte gehen müssen; unabhängig von den besonderen Härten, die sich durch die Austeritätsprogramme bereits ergeben haben.
- 17.
Einen nicht geringen Anteil an dieser neuen Ausrichtung hatte auch der Führungswechsel von Jean-Claude Trichet zu Mario Draghi im Jahr 2011.
- 18.
Dieses Bekenntnis wurde gewissermaßen personifiziert durch den EZB-Präsidenten Mario Draghi, der einige Monate vor dem offiziellen Beschluss über das OMT-Programm ankündigte, er werde alles Nötige (im Original „whatever it takes“) tun, um den Euro zu retten.
- 19.
Die Ereignisse dieses Zeitraums werden im Folgenden noch ausführlicher besprochen.
- 20.
- 21.
So die Übersetzung des vollständigen Parteinamen von SYRIZA – Synaspismos Rizospastikis Aristeras.
- 22.
Sinn (2015, S. 1) weist an dieser Stelle darauf hin, dass Griechenland seitdem aufgrund einer Feststellung des EFSF als bankrott zu gelten habe; der IMF selbst verwendete in seiner Erklärung jedoch den Begriff in arrears statt default. Von einem griechischen Staatsbankrott kann im engeren Sinne also nicht gesprochen werden, de facto durchaus schon.
- 23.
An dieser Stelle sei daran erinnert, dass zu diesem Zeitpunkt wie oben erwähnt der Kapitalabfluss auch nicht mehr durch ELA-Kredite ausgeglichen werden konnten, weil diese Kredite durch den EZB-Rat gestoppt wurden.
- 24.
In einigen europäischen Staaten, welche für Verfassungsänderungen Plebiszite vorsehen, liegt diese Staatsgewalt wohlgemerkt beim gesamten (abstimmungsberechtigten) Staatsvolk.
- 25.
Ob man sich angesichts solcher Entwicklungen nun fatalistischen Diskursen wie der Kampagne unter dem Hashtag #thisisacoup (entstanden als Reaktion auf die oben geschilderte Lösung der Verhandlungen mit Griechenland, in der die von SYRIZA geführte Regierung praktisch alle ihrer politischen Zielsetzungen räumen musste) anschließt, ist jeder Person allein überlassen.
Literatur
Agnantopoulos, Apostolos, und Dionysia Lambiri. 2015. Variegated capitalism, the Greek crisis and SYRIZA’s counter-neoliberalisation challenge. Geoforum 63:5–8.
Antentas, Josep Maria, und Esther Vivas. 2014. Planeta indignado. Die Welt der Empörten. Ursachen und Perspektiven der Rebellion. Köln: ISP.
Aziz, Nazli. 2005. Power delegation and the European Central Bank’s democratic deficit. Asia Europe Journal 3 (4): 537–550.
Berens, Ralph Edgar. 2014. Europa auf dem Weg in die Transferunion? Bankenrettung & Staatenrettung & Eurorettung und kein Ende – Eine Bestandsaufnahme aus ökonomischer und rechtlicher Sicht. Berlin: Lit.
Blyth, Mark. 2014. Wie Europa sich kaputt spart. Die gescheiterte Idee der Austeritätspolitik. Bonn: Dietz.
Borrell, Josep. 2015. About the democratic governance of the euro. How the crisis is changing Europe. In The future of Europe. Democracy, legitimacy and justice after the euro crisis, Hrsg. Serge Champeau, Carlos Closa, Daniel Innerarity, und Miguel Poaires Maduro, 235–245. London: Rowman & Littlefield.
Buiter, Willem H., und Ebrahim Rahbari. 2012. The ECB as lender of last resort for sovereigns in the euro area. Discussion Paper 8974. London: Centre for Economic Policy Research.
Carstensen, Kai. 2015. Der GREXIT – Warum ein Austritt aus der Währungsunion hätte helfen können. In Die Krise in Griechenland. Ursprünge, Verlauf, Folgen, Hrsg. Ulf-Dieter Klemm und Wolfgang Schultheiß, 395–411. Frankfurt a. M.: Campus.
De Grauwe, Paul. 2013. The European Central Bank as lender of last resort in the government bond markets. CESifo Economic Studies 59 (3): 520–535.
Delanty, Gerard. 2012. Europe in an age of austerity: Contradictions of capitalism and democracy. International Critical Thought 2 (4): 445–455.
Fischer-Lescano, Andreas. 2014. Human rights in times of austerity policy. The EU institutions and the conclusion of memoranda of understanding. Baden-Baden: Nomos.
Fouskas, Vassilis K. 2015. Letter from Athens. The Political Quarterly 86 (3): 353–358.
Franke, Günter. 2012. Hostages, free lunches and institutional gaps: The case of the European Currency Union. Financial Markets and Portfolio Management 26 (1): 61–85.
Gazol Sánchez, Antonio. 2015. Grecia 2015. Una crónica. ECONOMÍAunam 12 (36): 49–61.
Geeroms, Hans, Stefaan Ide, und Frank Naert. 2014. The European Union and the euro. How to deal with a currency built on Dreams. Cambridge: Intersentia.
Genschel, Philipp. 2000. Die Grenzen der Problemlösungsfähigkeit der EU. In Wie problemlösungsfähig ist die EU? Regieren im europäischen Mehrebenensystem, Hrsg. Edgar Grande und Markus Jachtenfuchs, 191–207. Baden-Baden: Nomos.
Gocaj, Ledina, und Sophie Meunier. 2013. Time will tell: The EFSF, the ESM, and the euro crisis. Journal of European Integration 35 (3): 239–253.
Heimberger, Philipp. 2014. Innere Abwertung in Südeuropa: Erwartungen, Ergebnisse und Folgen. Wirtschaft und Gesellschaft 40:235–262.
Hodson, Dermot. 2015. The IMF as a de facto institution of the EU: A multiple supervisor approach. Review of International Political Economy 22 (3): 570–598.
Hopkin, Jonathan. 2015. The troubled southern periphery. In The future of the euro, Hrsg. Matthias Matthijs und Mark Blyth, 161–184. New York: Oxford University Press.
Iglesias Turrión, Pablo. 2015. Podemos! Wind des Wandels aus Spanien. Zürich: Rotpunktverlag.
Katrougalos, George. 2013. ‚Memoranda‘: Greek exceptionalism or the mirror of Europe’s future? In The Greek crisis and European modernity, Hrsg. Anna Triandafyllidou, Ruby Gropas, und Hara Kouki, 89–109. Houndmills Basingstoke: Palgrave Macmillan.
Kilpatrick, Claire. 2014. Are the bailouts immune to EU social challenge because they are not EU law? European Constitutional Law Review 10 (3): 393–421.
Lüggert, Max. 2015. Differenzierte Integration im Euroraum – Krisenstaaten als „Staaten zweiter Klasse“? In Der Anfang vom Ende? Formen differenzierter Integration und ihre Konsequenzen, Hrsg. Eckart D. Stratenschulte, 59–83. Baden-Baden: Nomos.
Ministerium der Finanzen der Hellenischen Republik. 2015a. A policy framework for Greece’s fiscal consolidation, recovery, and growth. Verhandlungspapier.
Ministerium der Finanzen der Hellenischen Republik. 2015b. Ending the Greek crisis. Structural reforms, investment-led growth & debt management. Verhandlungspapier.
Molina, Malo de, und José Luis. 2014. La acción del BCE y la economía española en los quince primeros años del euro. Boletín Económico 2014 (2): 43–56.
Obwexer, Walter. 2012. Das System der „Europäischen Wirtschaftsregierung“ und die Rechtsnatur ihrer Teile: Sixpack – Euro-Plus-Pakt – Europäisches Semester – Rettungsschirm. Zeitschrift für öffentliches Recht 67 (2): 209–252.
Panico, Carlo, und Francesco Purificato. 2013. Policy coordination, conflicting national interests and the European debt crisis. Cambridge Journal of Economics 37 (3): 585–608.
Pianta, Mario. 2013. Democracy lost: The financial crisis in Europe and the role of civil society. Journal of Civil Society 9 (2): 148–161.
Polster, Werner. 2014. Die Krise der Europäischen Währungsunion. Eine ordnungspolitische Analyse. Marburg: Metropolis.
Scharpf, Fritz W. 2014. Die Finanzkrise als Krise der ökonomischen und rechtlichen Überintegration. In Grenzen der europäischen Integration, Hrsg. Claudio Franzius, Franz C. Mayer, und Jürgen Neyer, 51–60. Baden-Baden: Nomos.
Schmidt, Vivien A. 2015. The forgotten problem of democratic legitimacy. “Governing by the rules” and “ruling by the numbers”. In The future of the euro, Hrsg. Matthias Matthijs und Mark Blyth, 90–114. New York: Oxford University Press.
Schürz, Martin. 2000. Wirtschaftspolitische Problemlösungsfähigkeit in der Wirtschafts- und Währungsunion. In Wie problemlösungsfähig ist die EU? Regieren im europäischen Mehrebenensystem, Hrsg. Edgar Grande und Markus Jachtenfuchs, 209–225. Baden-Baden: Nomos.
Schwarzer, Daniela. 2015a. Die Europäische Währungsunion. Geschichte, Krise und Reform. Stuttgart: Kohlhammer.
Schwarzer, Daniela. 2015b. Building the euro area’s debt crisis management capacity with the IMF. Review of International Political Economy 22 (3): 599–625.
Sinn, Hans-Werner. 2015. Der Euro. Von der Friedensidee zum Zankapfel. München: Hanser.
Sotirakopoulos, Nikos, und George Sotiropoulos. 2013. ‚Direct democracy now!‘: The Greek indignados and the present cycle of struggles. Current Sociology 61 (4): 443–456.
Stavrakakis, Yannis. 2015. Populism in power. Syriza’s challenge to Europe. Juncture 21 (4): 273–280.
Streeck, Wolfgang. 2013. Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus. Berlin: Suhrkamp.
Varoufakis, Yanis, Stuart Holland, und James K. Galbraith. 2015. Bescheidener Vorschlag zur Lösung der Eurokrise. München: Kunstmann.
Vogel, Steffen. 2014. Europa im Aufbruch. Wann Proteste gegen die Krisenpolitik Erfolg haben. Hamburg: LAIKA.
White, Jonathan. 2015. Authority after emergency rule. The Modern Law Review 78 (4): 585–610.
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Editor information
Editors and Affiliations
Rights and permissions
Copyright information
© 2017 Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH
About this chapter
Cite this chapter
Lüggert, M. (2017). Die Immunisierung der Krisenverarbeitung in der Eurozone. In: Förster, A., Lemke, M. (eds) Die Grenzen der Demokratie. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-16295-5_7
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-16295-5_7
Published:
Publisher Name: Springer VS, Wiesbaden
Print ISBN: 978-3-658-16294-8
Online ISBN: 978-3-658-16295-5
eBook Packages: Social Science and Law (German Language)