Zusammenfassung
Karl Popper hat sich in vielen Schriften immer wieder mit der Quantenmechanik auseinandergesetzt. Eine Reihe dieser Arbeiten sind in physikalischen Zeitschriften erschienen und viele Physiker nahmen darauf Bezug. Selbst wenn Popper Experimente vorschlug, ging es ihm aber nicht um die Weiterentwicklung der Physik, sondern um die Interpretation der Quantentheorie, d. h. um methodologische, erkenntnistheoretische und metaphysische Fragen, die durch sie aufgeworfen werden.
Über solche Interpretationsfragen gab es von Anfang an unterschiedliche Auffassungen, die vor allem durch die sog. Bohr-Einstein-Debatte bekannt geworden sind. In dieser Auseinandersetzung hat sich Karl Popper mit seiner erkenntnistheoretischen Kritik an der Kopenhagener Interpretation auf die Seite Einsteins gestellt, eine Teilcheninterpretation der Quantenobjekte favorisiert und in diesem Zusammenhang seine Propensitätsinterpretation der Wahrscheinlichkeit entwickelt.
Der Beitrag diskutiert Poppers Ideen zur Quantentheorie, vor allem die, die mit Einsteins Themen zu tun haben. Ausgespart bleiben Poppers Überlegungen zur Quantenlogik (Popper 1968, siehe dazu Scheibe 1974) und zur Nicht-Lokalität der Quantentheorie, wie sie bei verschränkten Zuständen sichtbar wird. Er untersucht die philosophischen Motive für Poppers Kritik an der damaligen Standardauffassung und die Bedeutung, die Albert Einstein für die Entwicklung von Poppers eigener Position hatte. In einem weiteren Schritt wird skizziert, wie Poppers Vorschläge aus der Sicht der gegenwärtigen Philosophie der Physik bewertet werden. Dabei zeigt sich, dass Poppers spezielle physikalische Vorschläge zur Quantenmechanik und ihrer Interpretation heute eher kritisch gesehen werden, seine philosophischen Motive dagegen in neueren Entwicklungen der Interpretationsdebatte weitgehend erfüllt worden sind, wenn auch auf anderen Wegen als er dachte.
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Notes
- 1.
Ich danke Svantje Guinebert und Anne Thaeder für hilfreiche Hinweise zu einer früheren Fassung meines Beitrags.
- 2.
Ich verwende Quantenmechanik und Quantentheorie hier ohne Bedeutungsunterschied.
- 3.
Tatsächlich waren in der Zeit, die hier betrachtet wird, fast ausschließlich Männer an den Debatten beteiligt (eine Ausnahme war die Mathematikerin und Philosophin Grete Hermann). Gegenwärtig gibt es sowohl in der Physik wie in der Philosophie der Physik natürlich auch viele Kolleginnen.
- 4.
Einsteins Theorien waren für Popper Beispiele für wissenschaftliche Theorien, im Unterschied zu den Theorien von Marx, Freud und Adler (Popper 2002b, S. 51). Popper berichtet über den Einfluss, den Einstein auf ihn hatte (Popper 2002b, S. 45–48). Es ist aber übertrieben, Poppers Logik der Forschung als „eine lange und komplizierte Fußnote“ (Fölsing 1993, S. 541) zu einem Zeitungsbeitrag Einsteins (1919) zu bezeichnen, in dem dieser u. a. betont, dass physikalische Theorien nicht durch Induktion gewonnen und nicht endgültig bewiesen werden, aber durch Erfahrung widerlegt werden können. Über den systematischen Kontext (Abgrenzungsproblem) und das Verhältnis zu damals zeitgenössischen Philosophien informiert Keuth (2000, S. 30–36).
- 5.
Nach heutiger Klassifikation würde man Bohr nicht zu den Vertretern einer orthodoxen Interpretation zählen.
- 6.
- 7.
Details dazu kann man in dem immer noch empfehlenswerten Buch von Max Jammer (1974) finden.
- 8.
- 9.
Vgl. dazu Stöckler 1986a, S. 73–77.
- 10.
Faye 2014 gibt einen Überblick über Varianten bzw. Auslegungen der Kopenhagener Interpretation. Howard 2004 stellt heraus, dass das in der Philosophie der Physik übliche Verständnis der Kopenhagener Interpretation weniger mit Bohr als mit Heisenbergs Überlegungen zu tun hat, der auch den Begriff „Kopenhagener Interpretation“ geprägt hat. Die Kopenhagener Interpretation ist in diesem Sinne eine Erfindung der 1950er-Jahre. Wir werden noch darauf zurückkommen, welches Bild Karl Popper von der Kopenhagener Interpretation hat.
- 11.
In Schrödingers Arbeiten zu „Die gegenwärtige Situation in der Quantenmechanik“.
- 12.
- 13.
Michael Redhead (1995, S. 163–166) stellt Poppers Gedankenexperiment gut dar und zeigt die darin enthaltenen physikalischen Fehler.
- 14.
In Popper 2006 gibt es zu diesem Komplex ergänzende Texte von Popper (und in den Fußnoten entsprechende Informationen über Parallelpublikationen und Kritiken, u. a. von von Weizsäcker (Popper 2006, S. 393–448). Der Herausgeber gibt in seinem Nachwort weitere Hinweise zu dem damit verbundenen Schriftwechsel insbesondere mit Einstein (Popper 2006, S. 531–536).
- 15.
Einen sehr einsichtsvollen und zugänglichen Überblick, der von Heisenbergs heuristischen Überlegungen bis zu gegenwärtigen hoch technischen Bedeutungsvarianten von Unschärfebeziehungen reicht, hat Reinhard Werner (2017) gegeben, siehe auch Busch, Lahti and Werner (2014) und den Eintrag von Hilgevoord and Uffing (2016) in der Stanford Encyclopedia of Philosophy.
- 16.
Vgl. Näger und Stöckler 2018, S. 110–124.
- 17.
Auch Ghirardi et al. (2007) zeigen, welche Probleme auftauchen, wenn man eine präzisere Formulierung des Popperschen Experiments ins Auge fasst. Sudbury (1985) kommt zu dem Schluss, dass von Popper unterstellte Annahmen in der Quantenmechanik nicht durchgängig erfüllt sind und der KI Prämissen unterstellt werden, die nicht gleichzeitig erfüllbar sind.
- 18.
Vgl. Näger und Stöckler 2018, S. 148–170.
- 19.
In der von Popper zitierten Quelle spricht Heisenberg weder im englischen Text noch im zugrundeliegenden deutschen Vortrag aus „Das Naturbild der heutigen Physik“ von Bewusstsein. Wenn von Beobachtung die Rede ist, dann ist immer die Anwesenheit einer Messapparatur gemeint. Poppers Bild von den Protagonisten der Kopenhagener Interpretation war oberflächlich (wie schon Feyerabend 1981 belegt), man kontrastiere etwa die genaue Analyse, die Erhard Scheibe (1973, S. 9–49) von Bohrs Konzeption gibt. Poppers Bild entsprach allerdings einem verbreiteten Vorurteil (siehe dazu Howard 2004, S. 677–680).
- 20.
- 21.
Die Entdeckung des Neutrons, die Popper anführt (2001a, S. 15), ist übrigens gegen keine der beiden Thesen ein Argument. Die Entdeckung der neuen Teilchen führt einfach im Rahmen der Quantentheorie zu anderen Hamiltonoperatoren (was man aber nur sehen kann, wenn man sich genauer als Popper auf den mathematischen Formalismus der Quantentheorie einlässt). Auch Poppers Unterstellung, die Diskussion um die Vollständigkeit sollte im Grunde nur klären, ob die Quantenmechanik das Ende des Weges in der Physik war oder nicht (Popper 2001a, S. 11), wird von ihm nicht begründet.
- 22.
Mehr als die Hälfte der Logik der Forschung sind diesem Thema gewidmet. Eine gute Einführung und wichtige Details zu Poppers Beiträgen zur Klärung des Wahrscheinlichkeitsbegriffs gibt Keuth (2000, S. 199–229). Dort kann man auch finden, wie Popper in den 1950er-Jahren zu der Propensitätsinterpretation von Wahrscheinlichkeitsaussagen gekommen ist.
- 23.
- 24.
- 25.
Ein Problem mit verwandter Ursache ist Poppers physikalisch schwer nachvollziehbare Behauptung, man könnte die Bestimmung der Energieeigenwerte von Atomen im Rahmen seiner Teilchenvorstellung als statistisches Problem behandeln (Popper 2001b, S. 55–57).
- 26.
Weitere Probleme der Annahme, dass Quantenobjekte wie Elektronen Teilchen in dem Sinne sind, dass sie immer Ort und Impuls haben, sind in Stöckler (1986b, S. 361–363) angeführt.
- 27.
Vgl. Kuhlmann und Stöckler 2018, S. 259–266.
- 28.
Physikalische Details bei Cord Friebe (Friebe 2018, S. 32–34 und 61–63).
- 29.
Ein weiteres Problem ist die Einführung einer gemeinsamen Verteilungsfunktion P(A&B) bei inkommensurablen Größen A und B (Redhead 1995, S. 173–175), was die Anwendung der Regeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung problematisch macht.
- 30.
Eine gute Einführung in die de Broglie-Bohm-Theorie gibt Oliver Passon (2018, S. 187–206).
- 31.
- 32.
Siehe z. B. Jammer 1974, S. 474–482.
- 33.
- 34.
- 35.
Mir fallen nur noch Ernst Cassirer und Hans Reichenbach ein, die aber in der Physik viel weniger Einfluss als Popper hatten. Popper war damit auch ein Vorreiter einer späteren Entwicklung, in der die allgemeine Wissenschaftstheorie mit ihrem Schwerpunkt auf Erkenntnistheorie und Methodologie durch die Philosophien der Einzelwissenschaften, z. B. die Philosophie der Physik, ergänzt wurden, in denen auch naturphilosophische, speziell ontologische Fragen behandelt werden (zu dieser Unterscheidung Kuhlmann 2017).
- 36.
In Deutschland etwa Scheibe 1973.
- 37.
Zitiert bei Pais 1979, S. 884.
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Stöckler, M. (2019). Karl Popper, Albert Einstein und die Quantenmechanik. In: Franco, G. (eds) Handbuch Karl Popper. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-16239-9_21
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