Zusammenfassung
Nicht nur in der Sportpädagogik und -soziologie, sondern disziplinübergreifend, ist es eine der großen Herausforderungen audio-visuelle Daten aufgrund ihrer Komplexität aufzubereiten und der Analyse zugänglich zu machen. Häufig zeigen sich über Verschriftlichungen oder Deskriptionen Transformationen und schließlich Verkürzungen des eigentlichen Datums. Der folgende Beitrag eröffnet die methodologische Argumentation sowie erste Ansätze der methodischen Vorgehensweise einer videographischen Rahmenanalyse. Entgegen etablierter Methodenkorsetts wird das Primat des laufenden Bildes ernst genommen, um eine mikrosoziologische Betrachtung der sozialen Praxis – hier im Sportunterricht – zu ermöglichen. Am Beispiel des sportunterrichtlichen Spielplans werden nach einer praxistheoretischen, ethnomethodologischen und rahmenanalytischen Grundlegung empirische Einblicke in die Umsetzung und den Mehrwert einer videographischen Rahmenanalyse gegeben. Ganz im Sinne einer angestrebten Etablierung werden im Anschluss erste Passungsverhältnisse herausgestellt.
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Notes
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Aus Gründen der besseren Lesbarkeit und um sowohl der weiblichen als auch der männlichen Form gerecht zu werden, wird das Binnen-I verwendet. Eine Nutzung geschlechtsneutraler Begriffe, wie bspw. Personen oder Lehrpersonen, oder auch Begriffe soziologischer und ethnomethodologischer Personalitätskonzeptionen, wie Akteur oder Teilnehmende, verstehen sich nicht als ein Umgehen der Geschlechtlichkeit, sondern als eine umfassende Formulierung.
- 2.
Die Ethnomethodologie bezeichnet bereits die Praktiken, die von den Teilnehmenden in einem situativen Kontext adäquat vollzogen werden und auch nur innerhalb dieses Kontextes auf diese Weise sinnhaft verstehbar sind (Indexikalität). Das bedeutet, dass während und außerhalb der Beobachtung es die Akteure sind, die immer bereits wissen, wie sie zu handeln haben. Strenggenommen ist die Ethnomethodologie somit keine zu betreibende wissenschaftliche Forschungsweise, sondern lediglich die Art und Weise, wie Akteure (ethno) ihre soziale Wirklichkeit bewältigen (method). Erst wenn „Studies in Ethnomethodology“ (Garfinkel 1967, Herv. D. W.) betrieben werden, tritt die forschende Tätigkeit in den Vordergrund, um die sich zeigende Art und Weise zu analysieren.
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Die Etablierung ethnomethodologischer Analysen geht im deutschsprachigen Raum vor allem auf das Wirken von J. Bergmann zurück. Einen umfangreichen Überblick über jüngere theoretische und empirische Entwicklungen der Ethnomethodologie findet sich bei Ayaß und Meyer (2012).
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Der Begriff Defekt meint nicht allein eine negative Auslegung, sondern im Sinne Kuhlmanns (1986) durchaus auch ein positives oder produktives Ereignis. Störungen werden dann nicht ausschließlich repariert, sondern können, je nach Rahmung, zu einer produktiven Bereicherung des Geschehens beitragen.
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- 6.
Ausnahmen bilden hier vor allem Krummheuer 1983; Krummheuer 1985; Krummheuer 1992; Jessen 2003 und Wolff 2017; auch wenn hier Differenzen zur eigenen gewählten Lesart zu identifizieren sind. Krummheuer bspw. analysiert vor allem fachdidaktische Akzentuierungen entlang des Begriffes „Arbeitsinterim“ (Krummheuer 1983) als rahmenkongruentes Phänomen im Lern- und Verständigungsprozess. Eine Analyse körperlicher, dinglicher und auch räumlicher Aspekte in Hinblick auf die Gestaltung von Rahmungsprozessen finden sich bei Wolff (2017).
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Die Konzeption der Rahmen-Analyse nach Goffman orientiert sich, hier zunächst noch dem subjektiven Bewusstsein zugeordnet, an Schütz und dessen Formulierung von „Sinnbereichen“ (Schütz 1971, S. 264). Die Grundlage der Begriffsbildung des Rahmens, die theoretischen Wurzeln, lehnen sich an Bateson und weiterhin an den Überlegungen von Austin, Glaser und Strauss an (vgl. Goffman 1974b, S. 4 ff.).
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Die potenzielle Brüchigkeit der sozialen Praxis zeigt Garfinkel (1967) durch seine Krisenexperimente. In diesen Versuchsanordnungen werden Versuchspersonen unwissend mit Situationen konfrontiert, in denen grundlegende Alltagsroutinen verletzt werden. „[T]he breach of expectancy“ (Garfinkel 1967, S. 75) – Indem fehlende Deutungsmöglichkeiten provoziert werden, können im Anschluss die Praktiken der Wiederherstellung einer Interaktionsordnung beobachtet werden.
- 9.
Die vorliegenden Daten entstammen aus meinem Dissertationsprojekt. Im Rahmen dieser Studie wurden diverse natürliche Sportunterrichtsstunden an niedersächsischen Schulen videographiert und analysiert. Das Sampling erstreckt sich von der ersten Sportunterrichtsstunde einer ersten Klasse, über Stunden an Haupt- und Realschulen, bis hin zur gymnasialen Oberstufe.
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Die Rekonstruktion des Spielplans entspringt dem methodischen Vorgehen der videographischen Rahmenanalyse. Die Rekonstruktion von Subkategorien sowie das Aufbrechen der Daten einer Performanz sportunterrichtlicher Ordnung gelangen mit dem analytischen Vorgehen der Grounded Theory. Zunächst dienten dabei die laufenden Bilder selbst als Protokoll, um jegliche Transformationen durch Beschreibungssysteme zu vermeiden und der Eigenart des Bildlichen gerecht zu werden. Im Vergleich zu bspw. Filmanalysen betrachtet die videographische Rahmenanalyse in unterrichtlichen Kontexten zunächst nicht die Aspekte wie Kamera-Bewegungen oder Fokussierungen wie bspw. scharf/unscharf oder das Zoomen, was nicht bedeutet, dass die Materialität des Videos/Films nicht in ähnlicher Weise der Analyse zu unterziehen sind (vgl. hierzu bspw. die Ausführungen von Moritz (2014) über den viergliedrigen Video-Analyserahmen).
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Um einen exemplarischen Einblick zu gewähren, wird im Folgenden die Setzung von „Anfangsklammern“ (Goffman 1977, S. 279) betrachtet. Damit stehen im Folgenden die Kategorien Koordination und Konstitution des Spielplans im Vordergrund. Die Setzung von Klammern und damit die Etablierung von Rahmungen sozialer Situationen bedürfen, im Vergleich zu Schlussklammern, eines wesentlich größeren Aufwandes. Letztendlich zeigt sich ein solcher Aufwand entlang spezifischer Gesten, Symbole und Körperpositionen.
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Wolff, D. (2018). Der sportunterrichtliche Spielplan. In: Moritz, C., Corsten, M. (eds) Handbuch Qualitative Videoanalyse. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-15894-1_29
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