Zusammenfassung
Die Video-Interaktionsanalyse ist ein Verfahren um im Rahmen von Videographien (vgl. Knobauch und Vollmer idB) aufgezeichnete Interaktionen verstehend auszuwerten. Kern der Analyse ist die von der ethnomethodologischen Konversationsanalyse geprägte Sequenzanalyse, bei der die Handlungszüge der beteiligten Akteure nach und nach verstanden und somit das aufgezeichnete Interaktionsgeschehen rekonstruiert werden kann. Dieses Kapitel verortet die Video-Interaktionsanalyse in Bezug auf die zu untersuchenden Datensorten, vor dem Hintergrund ihrer Theorie- und Methodentradition und grenzt sie von anderen Verfahren zur Auswertung von Videodaten ab. An einem Beispiel wird das Vorgehen erläutert und die Verbindung mit der Videographie erklärt.
Der Beitrag stützt sich auf mehrere frühere Veröffentlichungen, insbesondere (Tuma et al. 2013), in dem unser Vorgehen und die Hintergründe ausführlich ausgearbeitet werden.
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Notes
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eine noch genauere Klärung der Datensorten, und die Differenz zur Videoproduktanalyse machen findet sich in Tuma et al. 2013, S. 36–42.
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Ein spannender Zugang besteht jedoch auch bei der soziologischen Forschung darin, nicht einfach nur den Videos zu vertrauen, sondern sich an die Orte zu begeben, wo sie hergestellt werden; So hat etwa Laurier die Arbeit von Kino-Film-Cuttern untersucht (Laurier et al. 2008).
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Auch die Verwendung standardisierter Mimik- oder Emotionsmuster (Ekman) ist eine typisch standardisierende Vorgehensweise, die teilweise auch in qualitativen Projekten hinzugezogen wird.
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Teilweise reichen diese aber auch darüber hinaus. So gibt es durchaus hermeneutische Interaktionsanalysen (Herbrik 2011; Kissmann 2014), die sich im Grenzgebiet bewegen. Da „Hermeneutik“ ein sehr grundlegendes Verfahren darstellt, das durchaus auch Einfluss auf die hier beschriebene Videointeraktionsanalyse genommen hat (Knoblauch und Schnettler 2012), jedoch werden die Differenzen beim Sequenzbegriff deutlich (s.u.).
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Wir müssen also nicht raten, wieso der Kamerawinkel so oder anders ausfällt, und können Blicke der gefilmten in die Kamera auch deuten weil wir typischerweise dahinterstanden und genau das aufgrund unserer Beobachtungen erläutern können.
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Interessieren wir uns für die Interaktion „mit“ der Kamera, so ist es sinnvoll, diese explizit zum Gegenstand der Beobachtung im Feld zu machen (vgl. auch Laurier und Philo 2006). Auch die Bewegungen der eigenen Kamera können dabei als Turns aufgefasst werden, jedoch verbleibt eine Analyse dieser im Spekulativen, wenn wir die Sequenz nicht von einem dritten Standpunkt aus beobachten können.
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Auch das Forschungsinteresse differiert: Wo die linguistische Forschung genauer an der Untersuchung spezifischer kommunikativer Muster und Formen interessiert ist, so ist das soziologische Interesse meist auch stärker an den durch kommunikative Handlungen entstehenden Kontexten (bspw. von Milieus) und den Wirkungen orientiert.
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Das muss immer reflektiert werden, weil die Gegenwart von Forschenden Situationen verändern kann.
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Dabei stehen die Modalitäten jedoch nicht nebeneinander, sondern werden stets in ihrer Verschränkung betrachtet. Handlungszüge können in unterschiedlichster Form aneinander anschließen, sich gegenseitig verstärken oder zurücknehmen – wir müssen sie im Zusammenspiel rekonstruieren und verstehen.
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Diese unterscheidet sich von der Kodierung der quantitativen Analyse dadurch, dass hier anhand unserer Kenntnisse des Feldes und der Daten zunächst offen Kodiert wird um das Material überblicken zu können. Grundlegend hat sich hier eine undogmatische Verbindung mit Vorgehensweisen der Grounded Theory bewährt (Glaser und Strauss 1967).
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Häufig arbeiten Forschende auch mit Partitur-Schreibweisen, ein Verfahren von dem wir auch aufgrund der Erfahrungen früherer Projekte etwa schon im Natural History Interview um Mead, Bateson und Birdwhistel (Mcquown 1971) oder dem Daten über Daten Projekt in den 70ern von Luckmann in Konstanz (Luckmann und Gross 1977) und eigener Versuche abgewichen sind, da es viel Arbeitszeit erfordert und die sequentielle Ordnung häufig eher ver- als aufdeckt. Für bloße Darstellung oder in geeigneten Kontexten mag eine solche Darstellungsform aber durchaus hilfreich sein, etwa wenn Musik eine genaue Rolle spielt (Moritz 2010)
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Schubert macht solche Elizitationen selbst zur Methode (vgl. 2006)
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Für eine ausführlichere Erläuterung und tiefergehende Diskussion vgl. Maiwald (2005).
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Bzw. die Analyse beginnt am Einzelbild und der Ablaufaspekt wird in einem gesonderten Analyseschritt nachgeholt.
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Es geht dabei nicht darum die Methoden anderer Felder zu übernehmen oder zu kritisieren. Diese Sind angepasst an die Anforderungen des jeweiligen Kontextes. Die Fußball Analytiker z. B. in den allermeisten haben nicht das Ziel Interaktionen zwischen den Spielern oder gar die Spielregeln zu rekonstruieren, sondern beschränken sich auf die Spielzüge die über Sieg und Niederlage entscheiden. Dazu bringen sie ihr eigenes Sonderwissen und Begriffsrepertoire wie auch weitere kommunikative Formen ein.
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Hier ist bewusst ein Beispiel gewählt, bei dem wir das Videogeschehen auf dem Bildschirm nicht sehen, da das die Komplexität der Interpretation weiter erhöht. In meiner Studie wurde das natürlich mit vorgenommen.
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Aus ethnographischer Beobachtung wissen wir: Der Videoanalytiker hat zuvor die Gerätschaften, inklusive einem für eine später kommende Präsentation vorbereiteten Projektor aufgebaut, die Videoanalysesoftware geöffnet und die vorab ausgewählten Szenen bereitgelegt. Die beiden haben sich im Vorlauf bereits zwei Szenen angesehen von insgesamt sieben die der Videoanalytiker vorab ausgesucht hat), diese Zahl hat er vor Beginn der hier abgebildeten Sequenz bereits kurz thematisiert.
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Der Account ist ein Begriff aus der Ethnomethodologie, er meint eine Form mit der die Beteiligten anzeigen, beschreiben oder erklären dass und wie sie die aktuelle Situation (den vorigen Zug) interpretieren. Das kann im Prinzip jede Äußerung im Sinn eines Zuges sein, in diesem Fall ein minimales Nicken.
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Das Datum ließe sich auf verschiedene Aspekte weiter hin untersuchen, z. B. auch auf die Lehr-Lern Situation zwischen den beiden Beteiligten oder vor allem auf die Prospektive Suche im Videomaterial nach didaktisch guten Beispielen die später den Fußballspielern gezeigt werden können.
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Zur Darstellung siehe auch (Tuma et al. 2013, S. 105–112), bzw. die Beiträge von Singh, Wilcke und vom Lehn idB. Ich bevorzuge für die meisten Fälle eine Nachzeichnung der Screens im Transcrpt mit per Link beigefügten verfremdeten Videos.
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Tuma, R. (2018). Video-Interaktionsanalyse. In: Moritz, C., Corsten, M. (eds) Handbuch Qualitative Videoanalyse. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-15894-1_22
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