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Zur Rechtsstruktur des kanonischen Rechts

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Kanonisches Recht

Part of the book series: Organisationsstudien ((OS))

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Zusammenfassung

Das vierte Kapitel befasst sich mit der Rechtsstruktur des kanonischen Rechts. Ziel ist es hier, diese in ihren zentralen Eigenschaften und Merkmalen sowie ihren organisationalen Funktionen und Folgen näher zu kennzeichnen. Unter der Annahme, das kanonische Recht trage auch heute noch charakteristische Züge eines vorneuzeitlichen Rechtstypus, beginnt das Kapitel mit der Darstellung entsprechender Strukturmerkmale des röm.-kath. Kirchenrechts. Dabei gewonnene Einsichten zur Rechtsstruktur des kanonischen Rechts werden in einem darauffolgenden Abschnitt auf die Organisationsstruktur der katholischen Kirche bezogen: Welches Bezugsproblem, welche Funktion und welche Folgen eines in seinen wesentlichen Teilen als prä- bzw. überpositiv verstandenen Organisationsrechts lassen sich ermitteln?

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Notes

  1. 1.

    Die folgende Darstellung stützt und beschränkt sich vor allem auf die Ausführungen Luhmanns zum „allgemeinen Stil des Rechtserlebens“ in vorneuzeitlichen Hochkulturen (vgl. 1987, S. 183 ff.); neben „den Bedingungen der Rechtserzeugung“ dem zweiten Schwerpunkt des Kapitels zum Recht vorneuzeitlicher Hochkulturen in der Rechtssoziologie (ebd., S. 166). Nicht behandelt wird damit im Rahmen dieses Kapitels u. a. die Frage, inwiefern eine die vorneuzeitlichen Rechtskulturen ebenso charakterisierende Anwesenheit rechtsanwendender bei gleichzeitiger Abwesenheit rechtsetzender Entscheidungsverfahren (vgl. dazu ebd., S. 147, 171 ff.) nicht auch die römisch-katholische Kirche kennzeichnen würde. Die Frage selbst sowie die Voraussetzungen ihrer Beantwortung werden im Fazit dieser Arbeit (Abschn. 5.1) noch einmal aufgegriffen.

  2. 2.

    Prominente Legitimationsstrategien für Rechtsetzung in vormodernen Gesellschaften sind z. B. die der Wiederherstellung, Ergänzung oder Ausführung bestehenden Rechts, im Mittelalter etwa seine Anpassung an die sog. diversitas temporum oder varietas naturae (vgl. Luhmann 1987, S. 194, 93; zur Argumentationsfigur der diversitas temporum oder auch necessitas temporis vgl. Schreiner 1987, insb. S. 401 ff.; Kortüm 1993; zum „historischen Argument“ sonst auch Schilling 2005, S. 64 ff. mit weiterer Literatur). Insgesamt lässt sich in Bezug auf die Rechtsanschauung vormoderner Hochkulturen also nicht von einem generellen Verbot der Rechtsetzung, wohl aber von einem der Rechtsänderung sprechen (vgl. Luhmann 1987, S. 198). „Trotz zugelassener Gesetzgebung“, so Luhmann (ebd., S. 195), „war das Recht im ganzen altes, kraft Wahrheit, sakraler Einsetzung oder Tradition geltendes, nicht aber hergestelltes, jederzeit änderbares, positives Recht“. Der einmalige Akt der Gesetzgebung, der Akt der Entscheidung, macht nach Luhmann (ebd., S. 209) das Recht noch nicht von sich aus zu einem positiven Recht; erst, „wenn das Recht als kraft dieser Entscheidung geltend, als Auswahl aus anderen Möglichkeiten und somit als abänderbar erlebt wird“, kann es (im anspruchsvollen Sinne) als „positiv“ gelten. Das „historisch Neue und Riskante der Positivität des Rechts“ – und damit ein wesentlicher Unterschied des positiven Rechts zum Recht vorneuzeitlicher Hochkulturen – liegt daher für Luhmann (ebd., Herv. i. Orig.) in der „Legalisierung von Rechtsänderungen“. Zur Begründungsbedürftigkeit und Legitimation gesetzgeberischen Handelns in der Frühen Neuzeit vgl. am Beispiel Frankreichs der Religionskriegszeit die interessante Studie von Schilling (2005, insb. S. 63 ff.).

  3. 3.

    Zur Aufnahme der Unterscheidung von physis und nomos in das christliche Naturrechtsdenken vgl. etwa Hollerbach (1973, S. 12 ff.).

  4. 4.

    Klassische Referenz für die wechselseitige Bedingtheit von Alter, Rang und Güte des Rechts im Mittelalter sind die von Luhmann (1987, S. 198, Anm. 144) in diesem Zusammenhang zitierten Ausführungen Fritz Kerns (1919). Dass Kerns Thesen innerhalb der Rechtsgeschichte inzwischen als „in manchem aber überholt[…]“ gelten (vgl. dazu etwa ebenfalls klassisch Krause 1958; Klinkenberg 1969 oder Trusen 1972), darauf weist Luhmann (1987, S. 198 Anm. 144) an gleicher Stelle ausdrücklich hin. Dennoch ist sein Bezug auf Kern von Joachim Rückert (1988, S. 14 ff.) für dessen Kritik an Luhmanns Darstellungen zur Rechtsentwicklung dankend aufgenommen und pauschalisiert worden (vgl. kritisch und klärend dazu Falk 1989 sowie Günther 1989, S. 140 f.). Auch nach neueren Studien, wie etwa jene von Schilling (2005, hier: S. 3), ist jedoch „unverkennbar, daß trotz gegenläufiger Auffassungen bis ins 17., ja zum Teil bis ins 18. Jahrhundert die Vorstellung einer grundsätzlichen Präferenz des älteren gegenüber dem jüngeren Recht wirksam blieb“.

  5. 5.

    Zitiert nach der Ausgabe von Friedberg (2000, S. 1 ff.). Die als Tractatus de legibus bezeichneten ersten zwanzig Distinctiones (D.) des ersten Teiles des Decretum Gratiani sind ins Englische (Thompson und Gordley 1993) übersetzt worden.

  6. 6.

    Zur Rechtslehre des Francisco Suárez vgl. auch den Sammelband von Bach et al. (2013). Für eine dt. Übersetzung seines einflussreichen Tractatus de legibus ac Deo legislatore (1613) vgl. Brieskorn (2002).

  7. 7.

    Weitere Beispiele der kirchenrechtlichen Rezeption naturrechtlicher Grundsätze bietet das kirchliche Eherecht, insb. etwa das Recht der Ehehindernisse (vgl. Riedel-Spangenberger 1995, S. 106; Aymans und Mörsdorf 1991, S. 35).

  8. 8.

    Ausführlicher und anschaulich zum Letzten vgl. Aymans und Mörsdorf (1991, S. 37). Insgesamt erinnert die kanonistische Vorstellung eines „Rechtsgefälles im Kirchenrecht“ (ebd., S. 34) in gewisser, differenzierungstheoretischer Hinsicht an die für vormoderne Hochkulturen typische Kombination zweier gesellschaftlicher Differenzierungsformen, nämlich jener von Zentrum/Peripherie- und stratifikatorischer Differenzierung (vgl. Luhmann 1997, S. 663 ff.): Göttliches Recht fungiert im kanonischen Recht sowohl als „Zentrum“ als auch als „Spitze“ der kirchlichen Rechtsordnung; die Normen des menschlichen, rein kirchlichen Rechts bilden hingegen seine „Peripherie“, sind ihm im Ganzen untergeordnet, lassen sich aber – wiederum in Bezug zum göttlichen Recht – nach verschiedenen Ranglagen unterscheiden. Prävaliert in der kanonistischen Literatur eher der Eindruck einer „Einheit“ beider Differenzierungsformen, insofern man dort zumeist die eine durch die jeweils andere interpretiert, ist aus soziologischer Perspektive vor allem ihre Trennung interessant: Die Differenzierung von Zentrum und Peripherie ermöglicht nach Luhmann (ebd., S. 674) auch die „Differenzierung von Differenzierungsformen“, im Falle von (frühen) vormodernen Hochkulturen etwa die von stratifikatorischer Differenzierung aufseiten des Zentrums und segmentärer Differenzierung aufseiten der Peripherie (vgl. ebd.). Auch im kanonischen Recht, lässt sich diese durch Trennung ermöglichte Kombination von Differenzierungsformen erkennen, wobei hier – in umgekehrter Weise zum eben beschriebenen Fall – positives und natürliches göttliches Recht auf der Seite des ius divinum als Resultate göttlicher Willensschlüsse gleichrangig und gleichartig, also segmentär unterschieden werden, das ius mere ecclesiasticum bzw. ius humanum hingegen (in Abhängigkeit vom Zentrum) als stratifiziert verstanden wird. Zu Fragen der Ungleichartigkeit und Ungleichrangigkeit von Weisungen der göttlichen Wort- und Welt-Offenbarung, also von ius divinum positivum und ius divinum naturale, im kanonischen Recht vgl. aber Aymans und Mörsdorf (1991, S. 35); Hollerbach (2004, S. 295) sowie Riedel-Spangenberger (1995, S. 195 f.).

  9. 9.

    Beide Sakramente, wie im Übrigen auch jenes der Firmung, hinterlassen nach dogmatischer und kirchenrechtlicher Auffassung der katholischen Kirche bei den Personen, die sie empfangen, einen sog. character indelebilis, ein „untilgbares Prägemal“, und gelten daher als unwiederholbar und unverlierbar (vgl. etwa de Wall und Muckel 2012, S. 189 ff., insb. 196, 189, 206). Unverlierbar und unwiderruflich ist aufgrund des sakramentalen Charakters der Taufe damit auch – wie wir in Abschn. 3.2.2 bereits bemerkt haben – die Kirchen(mit)gliedschaft (vgl. ebd., S. 112 ff., zur „Gliedschafts“-Semantik dort insb. S. 113). Ein erzwungener Ausschluss oder freiwilliger Austritt im Sinne einer Kündigung der Mitgliedschaft ist dogmatisch und kirchenrechtlich nicht vorgesehen (vgl. ebd., S. 127). Zwar können schwere Sünder und Häretiker von der Kirche exkommuniziert werden und nicht länger glaubende „Gläubige“ aus der Kirche als Körperschaft öffentlichen Rechts austreten; die Strafe der Exkommunikation und der nach Staatskirchenrecht wirksame Kirchenaustritt (auf den kirchlicherseits automatisch ebenfalls die Exkommunikation folgt; vgl. dazu ebd.) bedeuten jedoch nicht den Verlust der Zugehörigkeit zur Kirche, sondern lediglich eine Veränderung der rechtlichen Stellung innerhalb ihrer (vgl. ebd.; Listl 2004c, S. 499 f.). Bei der Exkommunikation eines Kirchenmitgliedes werden diesem zwar seine Gliedschaftsrechte umfassend entzogen, von seinen Gliedschaftspflichten wird es jedoch nicht entbunden. Vgl. zur „Beeinträchtigung der Kirchengliedschaft durch Strafen und die Erklärung des Kirchenaustritts“ vor allem auch Rees (1993, S. 83 ff.); zu Taufe und Kirchenmitgliedschaft aus soziologischer Perspektive auch Luhmann (1977, S. 294); Tyrell (2010, S. 208 f.); Schneider (2004, S. 460 f. m. Anm. 267).

  10. 10.

    Papst Johannes Paul II. ging allerdings im Apostolischen Schreiben Ordinatio sacerdotalis von 1994 davon aus, dass der Ausschluss von Frauen vom Priesteramt durch göttliches Recht vorgegeben sei (vgl. de Wall und Muckel 2012, S. 108 Anm. 109; ferner Pahud de Mortagnes 2010, S. 79 f.). Auch seine Nachfolger, Papst Benedikt XVI. und Papst Franziskus, haben beide diese Aussage zu verschiedenen Anlässen bestätigt.

  11. 11.

    Als Letztreferenz des profanen Natur- bzw. eben Vernunftrechts fungiert der von Natur aus vernunftbegabte, zum „Subjekt“ abstrahierte Mensch. Luhmann hat sich mit dieser Form der Rechtsbegründung insb. im Rahmen seiner begriffsgeschichtlichen Studien zur Rechtsfigur der „subjektiven Rechte“ beschäftigt (vgl. Luhmann 1981b; zur davon zu unterscheidenden Strukturfunktion „subjektiver Rechte“ vgl. bereits Luhmann 1981b [1970]). Diese werden von ihm dort als „Stützeinrichtungen der Vollpositivierung des Rechts“ (Luhmann 1981b, S. 47) gedeutet: „Liest man die Subjekt-Referenz der vom 17. bis zum 19. Jahrhundert herrschenden Doktrin im Kontext der Reflexionsbemühungen des Rechtssystems selbst, so wird rückblickend ihre Funktion deutlich: Sie dient (in genauer Parallele zur Subjektreferenz der Erkenntnistheorie im Wissenschaftssystem) dazu, das Eingeständnis der Autonomie, der Gründung auf sich selbst, der ausnahmslos selbstreferentiellen Basierung aller Systemoperationen zu vermeiden. Im historischen Prozeß der zunehmenden Differenzierung gegen Religion und des gleichzeitigen Umbaus des Gesellschaftssystems von stratifikatorischer zu funktionaler Differenzierung konnte man nicht sogleich schon zugestehen, daß das Recht keiner anderen Begründung bedarf als des Bezugs auf Recht“ (ebd., S. 103).

  12. 12.

    Bereits die Verwendung der Metapher „Quelle“ – darauf weist Luhmann (1988a, S. 11) in einer seiner späteren rechtssoziologischen Schriften hin – sei ein Indikator dafür, „daß das System sich als allopoietisches, nicht als autopoietisches System beschreibt“.

  13. 13.

    Zum Unterschied von „gottgewolltem“ und „gottgeschaffenem“ Recht vgl. Luhmann (1987, S. 151 f. m. Anm. 33).

  14. 14.

    Kaum überschätzen lässt sich ebenso die Bedeutung der theologischen Schöpfungsdogmatik für das neuzeitliche Kontingenzbewusstsein insgesamt (vgl. dazu bereits Luhmann 1972b, S. 253 ff., 1992; inzwischen auch Luhmann 2013, hier etwa insb. S. 33 ff.). Dieses bricht sich nach Luhmann (ebd., S. 316, Herv. i. Orig.) Bahn mit dem „Versuch […], das theologische Prinzip der Kontingenz der Welt zu rekonstruieren als Kontingenz in der Welt und damit umzudenken von unbestimmter, aber religiös interpretierbarer Kontingenz auf bestimmbare Kontingenz; Kontingenz also in Systeme und Verfahren einzubauen, um die Richtung menschlichen Erlebens und Handelns aus einem größeren Bereich von Möglichkeiten heraus bestimmen zu können“.

  15. 15.

    Die Geltung von Rechtsnormen, auch jenen, die, wie im vorliegenden Fall, als Normen wiederum Normen normieren, beruht also nicht auf vergangenen Setzungsakten, sondern zukünftigen Änderungsmöglichkeiten. Sie ist, mit anderen, Luhmann (1987, S. 345) entlehnten Worten, nicht eine Konsequenz der Vergangenheit, sondern eine der Zukunft. Dieses Verständnis der Selektivität von Recht ist ein genuin neuzeitliches, setzt es doch Möglichkeiten der „Neutralisierung“ und „Abstoßung“ seiner Geschichte voraus (vgl. Luhmann 1975c, hier insb. S. 121 f.) und umfassender: den gesellschaftsstrukturell bedingten Übergang der „Führung gegenwärtigen Erlebens und Handels vom Vergangenheitshorizont auf den Zukunftshorizont“ (Luhmann o. J., S. 59; vgl. dazu auch Luhmann 1975c, S. 104, dann 122 ff., 1987, S. 343 ff.; sowie nun umfassender Luhmann o. J.). Im Übergang zur modernen Gesellschaft wird die Vergangenheit von der Zukunft als dominierender Zeithorizont abgelöst; sie verliert dabei – auch für das Recht – ihre „Maßgeblichkeit“ (vgl. Luhmann 1987, S. 347). Das Recht der Gesellschaft, so Luhmann (ebd., S. 347 und o. J., S. 32), gilt nun nicht mehr dank seiner Invarianz, die in der Vergangenheit oder, was dem gleichkommt, in einer als Ewigkeit fixierten außertemporalen Präsenz (Gott) begründet ist und durch deren jeweilige Unabänderlichkeit symbolisiert wird. Auf unterschiedliche Vergangenheitsbezüge, hier jenen von Organisation und Religion, kommen wir im folgenden Abschnitt des Kapitels (Abschn. 4.2.1) zurück.

  16. 16.

    Zur unterschiedlichen Bedeutung der „Gesetztheit“ des Rechts nach rechtssoziologischem und rechtswissenschaftlichem Verständnis vgl. Luhmann (1987, S. 207 ff., 1970, S. 182 ff., nun auch 2013, S. 126 ff.). Der Begriff des „Satzungsrechts“ findet nicht nur im Öffentlichen Recht, sondern auch im Privatrecht Anwendung, hier etwa in Bezug auf rechtsfähige Vereine. Die Klassifikation der beiden Großkirchen in Deutschland als Körperschaften öffentlichen Rechts und nicht als private, freiwillige Vereinigungen ist ein wichtiges religions- und rechtssoziologisches Datum (vgl. etwa Tyrell 2008b, S. 168 ff.); im vorliegenden Zusammenhang ist sie jedoch ohne Bedeutung, da beide Rechtsformen mit der Vorstellung von Satzungen als gesetztem, als positivem Recht einhergehen.

  17. 17.

    In Bezug auf die Folgen der Positivierung des Rechts vgl. etwa folgende Auszüge aus der Rede (Deutscher Bundestag 2011): „Der Gedanke des Naturrechts gilt heute als eine katholische Sonderlehre, über die außerhalb des katholischen Raums zu diskutieren nicht lohnen würde, so daß man sich schon beinahe schämt, das Wort überhaupt zu erwähnen. […] Wo die alleinige Herrschaft der positivistischen Vernunft gilt – und das ist in unserem öffentlichen Bewußtsein weithin der Fall –, da sind die klassischen Erkenntnisquellen für Ethos und Recht außer Kraft gesetzt. Dies ist eine dramatische Situation, die alle angeht und über die eine öffentliche Diskussion notwendig ist, zu der dringend einzuladen eine wesentliche Absicht dieser Rede ist“.

  18. 18.

    Dies geschieht in Anlehnung an und in Fortführung der Gedanken von Petzke und Tyrell (2012, S. 289 ff.). In ihrem Beitrag zu religiösen Organisationen identifizieren die beiden Autoren Abweichungen dieses Organisationstyps vom idealtypischen Bild formaler Organisationen ferner auch in den zentralen Bereichen wie der Mitgliedschaftsmotivation, den Mitgliedschaftsbedingungen, der Zweckorientierung, der Selbstbeschreibung und der Multireferenzialität. Für eine ähnliche Auflistung vgl. auch Demerath und Schmitt (1998, S. 391 ff.).

  19. 19.

    In seiner späten Religionssoziologie hat Luhmann der „Kontingenzformel Gott“ ein ganzes Kapitel gewidmet (Luhmann 2000a, S. 147 ff.). Vgl. dazu auch die Besprechung von Hahn (2001, S. 583 f.) mit der treffend erklärenden Formulierung zur Kontingenzformel der Religion: „Man könnte sich zwar die Welt auch in vielem anders vorstellen, aber auch hier werden die Alternativen ‚knapp‘, weil sie alle etwa mit Gottes Güte oder seiner Allmacht oder Allwissenheit kompatibel sein müssten“.

  20. 20.

    Den Widerspruch zwischen systeminterner (Organisation) und externalisierender (Religion) Kontingenzbewältigung (vgl. dazu Petzke und Tyrell 2012, S. 290) sehe ich in den hier gewählten Begriffen der entscheidungsförmigen Visibilisierung bzw. transzendierenden Invisibilisierung enthalten.

  21. 21.

    Dies widerspricht nicht der Beobachtung, dass sich etwa in der katholischen Kirche so manche organisierte Interaktion zur Entscheidungsfindung mit stark religiös-ritualisierter Rahmung finden lässt: man denke etwa an das Konklave oder aber die Konzils-Interaktionen während des 2. Vatikanums (dazu Nacke 2010, S. 83 ff., 119 ff.). Die ritualisierte Kommunikation dieser Interaktionen verweist bereits auf alternative Lösungsversuche neben der Kanonisierung von Entscheidungsprämissen, mit dem die Kirche auf das im Folgenden noch zu verhandelnde Problem der Alternativität und Historizität ihrer Organisationsstruktur zu reagieren versucht.

  22. 22.

    Der Begriff der Historizität, der Geschichtlichkeit, soll hier also nicht – wie zum Teil gebräuchlich – historiografisch-verbürgte Tatsächlichkeit, sondern historisch-kontingente Genesis bedeuten.

  23. 23.

    Ausführlicher zu diesem Beispiel vgl. Punsmann (1997, S. 98 ff., 104 ff.), dessen Artikel auch darüber hinaus interessante soziologische Einsichten zu den „Kontingenzen von Kirchen“ bereithält.

  24. 24.

    Mit der Integration der Kirchenstruktur ins „Glaubensgut“, dem „vollständigen Lehrgehalt der christlichen Offenbarung“, ist auf einen weiteren wichtigen Begriff im Zusammenhang des Vergangenheitsbezugs der katholischen Kirche verwiesen: ihre (Lehr-)Tradition. Diese hat Schneider (2004, S. 458 f.) insbesondere mit Blick auf das Intersubjektivitätsproblem textinterpretativer Religionen aufschlussreich diskutiert: „Die Autorität der Tradition, wie sie etwa die katholische Kirche beansprucht, fungiert hier als Limitativ, das die Auslegung der Schrift reguliert und ihr Grenzen setzt. Vergangene Auslegungen definieren so den Rahmen für das, was gegenwärtig und zukünftig an Auslegungen möglich ist“. Durch die entscheidungsrelevante Stellung ihrer Lehrtradition gehört die katholische Kirche, so DiMaggio (1998, S. 12), in „the last sector in modern society in which tradition is a legitimate source of authority“ (ähnlich so auch Demerath und Schmitt 1998, S. 393).

  25. 25.

    Kaufmann führt an dieser Stelle das interessante Beispiel der (west-)deutschen Bischofskonferenz an: „Jede organisatorische Veränderung muß [dort] entweder im Bereich des theologisch- und insbesondere kirchenrechtlich nicht eindeutig Definierten ansetzen, oder es müssen quasi-theologische Legitimationen aufgebaut werden, um bestimmte zweckmäßige Veränderungen durchzusetzten“ (Kaufmann 1974, S. 34, Einf. d. Verf.). Dies ist ein weiterer Hinweis darauf, dass selbstverständlich nicht alle Organisationsstrukturen in der katholischen Kirche sakralen und damit unabänderlichen Status besitzen. Eine Aufzählung an „organisierbaren“, d. h. entscheidbaren Sachbereichen findet sich bei Nassehi (2009, S. 216); eine Unterscheidung von „‚geistlichen‘ und ‚weltlichen‘ Entscheidungsprozessen in der Kirche“ versucht Hermelink (2008, Zitat: ebd., S. 215, Herv. i. Orig.).

  26. 26.

    Wir treffen hier auf den ursprünglichen Wortsinn von religio (lat., wörtl.: „Rückbindung“): „Die Rückbindung des Unbezeichenbaren an das Bezeichenbare – das ist, in welcher kulturellen Ausformung immer, im weitesten Sinne ‚religio‘“ (Luhmann 1997, S. 232).

  27. 27.

    Die Unveränderlichkeit des göttlichen Rechts setzt, wie Pree (1995, S. 113 m. Anm. 10) zu Recht bemerkt, auch die Unveränderlichkeit seines Urhebers, Gott, voraus. Aus dessen Unveränderlichkeit folgt, dass er trotz seiner Allmächtigkeit seinen ewigen Willensentschluss nicht ändern, keine neuen Pläne fassen und die gefassten auch nicht abändern kann (vgl. ebd.; zum göttlichen Attribut der Unveränderlichkeit vgl. auch Seils 2001).

  28. 28.

    Wie in diesem Zusammenhang zu erwarten, ist hier mit „Kanonisierung“ also nicht die ebenso interessante, bereits sehr viel früher einsetzende Praxis der Kanonbildung von Religionsgemeinschaften gemeint, die Schneider (2004, S. 451 f.) im Hinblick auf die Transformation der Alternative von Konformität und Abweichung in die religiöse Unterscheidung von Orthodoxie und Heterodoxie (bzw. Häresie) untersucht hat.

  29. 29.

    Zum Jurisdiktionsprimat und zur Infallibilität vgl. de Wall und Muckel (2012, S. 108 m. Anm. 107, 132 f., 184 ff.) sowie zum ersteren auch Freitag (2004) mit weiterer Literatur. Für die Abdrucke der angesprochenen Konzilsdekrete, den dogmatischen Konstitutionen Pastor aeternus (1870) und Lumen Gentium (1964) vgl. Denzinger und Hünermann (2005, S. 3050 ff.) resp. Rahner und Vorgrimler (2008, S. 123 ff.); zu Konzilsdekreten und ihrer Bezeichnung aus kirchenrechtlicher Sicht im Allgemeinen Gehr (2004).

  30. 30.

    Ein weiteres, bereits oben kurz angesprochenes Beispiel (vgl. i. d. Kap., Anm. 21) für entsprechende Problemlösungsversuche der katholischen Kirche stellt sicherlich die Ritualisierung von Situationen und Kommunikationen der Entscheidung dar. „Rituale“, so schreibt Luhmann (1997, S. 235) „ermöglichen Kommunikationsvermeidungskommunikationen. Die einschlägige Literatur hebt hervor, daß Formen stereotypisiert und andere Möglichkeiten ausgeschlossen werden, also Kontingenz auf Notwendigkeit reduziert wird.“ Ritualisierungen teilen daher mit Dogmatisierungen in der Kirche „die Funktion, Negationsrisiken zu kontrollieren“. Wird im ersten Fall „Negationsausschaltung durch Entsprachlichung, Rhythmisierung, Körperbeteiligung und Stereotypisierung versucht, setzt man im zweiten Fall auf „Negationsverbote, die nach Möglichkeit begründet, zumindest aber im Corpus der Dogmatik durch Konsistenz und Kohärenz abgesichert werden (vgl. Luhmann 1977, S. 86 f., Zitate: ebd., Herv. i. Orig.). Forschungen zu Ritualen in der katholischen Kirche haben sich bisher insbesondere auf den Messeritus konzentriert (vgl. etwa Hahn 1988; Fuchs 1992; Krech 2007). Zur Selbstverständlichkeit „sakrale[r] Begleitpraktiken“ in Entscheidungssituationen in vormodernen Gesellschaften vgl. Tyrell (2005, S. 34, Einf. d. Verf.).

  31. 31.

    Die „Unentscheidbarkeit“ von Entscheidungsprämissen ist in dieser Arbeit stets als ein Merkmal zu verstehen, das diesen von der Kirche und der Kanonistik zugeschrieben wird, und nicht als eines ihrer soziologischen Qualifikation. Mit „unentscheidbaren Entscheidungsprämissen“ sind in unserem Zusammenhang also immer Teile der kirchlichen Formalstruktur gemeint, die von der Organisation als indisponibel verstanden und behandelt werden, und nicht etwa Teile der kirchlichen „Organisationskultur“ – ein Begriff, den Luhmann (2000c, S. 239 ff.) nach einem Vorschlag von Darío Rodríguez (1991) eben genau als „Komplex der unentscheidbaren Entscheidungsprämissen“ definiert und damit von jenem der „entscheidbaren Entscheidungsprämissen“ (Programme, Kommunikationswege, Personal) unterschieden hat. In seiner Organisations- und Entscheidungstheorie differenziert Luhmann insgesamt zwischen individueller und prinzipieller Unentscheidbarkeit. Während mit dem Begriff der „Organisationskultur“ die individuelle Unentscheidbarkeit von „organisationsspezifischen […] Entscheidungsprämissen“ angesprochen ist (Luhmann 2000c, S. 240), bezeichnet prinzipielle Unentscheidbarkeit die Voraussetzung der Möglichkeit des Entscheidens überhaupt und ist gleichzeitig die Ursache dessen sachlogischer Paradoxie: „Entscheidungen gibt es nur, wenn etwas prinzipiell Unentscheidbares (nicht nur: Unentschiedenes!) vorliegt. Denn anderenfalls wäre die Entscheidung schon entschieden und müsste nur noch ‚erkannt’ werden.“ (Luhmann 1993, S. 308; vgl. auch Luhmann 2000c, S. 132) Mir geht es hier und im Folgenden, so könnte man formulieren, um „organisationsspezifische“ Annahmen einer „prinzipiellen Unentscheidbarkeit“ bestimmter Entscheidungsprämissen der Kirche. Gerade weil diese – im Gegensatz zu Strukturen der „Organisationskultur“ (vgl. ebd., S. 240) – auf bestimmte „Entscheidungen“ zugerechnet werden, fehlt auch ihnen die Positivität; gerade weil diese als bereits „entschieden“ verstanden werden, gelten sie der Kirche als „prinzipiell unentscheidbar“ und müssen als „Entscheidungen“ Gottes nur (noch) „erkannt“, „festgestellt“ und „verwirklicht“, nicht aber von ihr entschieden werden.

  32. 32.

    Dass solcherlei Bedenken nicht unbegründet sind, zeigt etwa ein Blick auf die Kirchenreform des deutschen Protestantismus der vergangenen Jahre, in deren Zusammenhang mit einigem Recht auch von einer „Selbstsäkularisierung“ der Kirche die Rede ist (vgl. die Beiträge in Hermelink und Wegner 2008 sowie Karle 2009; insb. Tyrell 2008b, S. 198 ff.). Auf die Rechtsstruktur (des) evangelischen Kirchenrechts konnte im Rahmen dieser Arbeit nicht näher vergleichend eingegangen werden; vgl. dazu aber de Wall und Muckel (2012, S. 238 ff., 244 ff., 251 f.). Im wesentlichen Unterschied zum kanonischen Recht „kennt das evangelische Kirchenrecht die Vorstellung unmittelbar geltenden göttlichen Rechts (ius divinum) nicht. Die Bekenntnisbindung beinhaltet aber eine begrenzende und steuernde Funktion des Evangeliums für das evangelische Kirchenrecht“ (de Wall und Muckel 2012, S. 252; vgl. dazu auch Pirson 2001, S. 335).

  33. 33.

    Vgl. mit Bezug auf die Einrichtung von Entscheidungsverfahren zur Feststellung oder aber Änderung von Recht und der daraus resultierenden „Bereitstellung“ von „Entscheidungspotential“ in diesem Zusammenhang auch Luhmann (1987, S. 143 f.).

  34. 34.

    Zur „inkongruenten Perspektive“ der Rechts- und der Organisationssoziologie vgl. Luhmann (1987, S. 10 f. resp. 1964, S. 18 f.). Der Begriff selbst geht zurück auf Kenneth Burke (vgl. insb. 1935, S. 95 ff.).

  35. 35.

    Zum ekklesiologischen Selbstverständnis der römisch-katholischen Kirche vgl. die dogmatische Konstitution Lumen Gentium, abgedr. bei Rahner und Vorgrimler (2008, S. 123 ff.), für dessen Bedeutung als Gegenstand des kanonischen Rechts de Wall und Muckel (2012, S. 99 ff.) sowie Aymans (2004c). Zu Problemen der Selbstbeschreibung religiöser Organisationen als Organisationen vgl. insg. Tyrell (2002, 2008b) sowie Petzke und Tyrell (2012). Zu den Unterschieden einer Beschreibung der Kirche als Organisation im Gegensatz zur Institution vgl. insb. Tyrell (2005). Letzterer Begriff scheint dem Selbstverständnis der Kirche, insb. im Hinblick auf Annahmen zur Variabilität und Disponibilität ihrer Strukturen, sehr viel näher als ersterer zu kommen (vgl. dazu ebd.; Tyrell 2008b, S. 194 f. sowie Krüggeler et al. 1999, S. 9).

  36. 36.

    Zu Selbstbeschreibungen der religiösen Organisation als „Nichtorganisation“ verweisen Petzke und Tyrell (2012, S. 275) sowie Tyrell (2008b, S. 180, Anm. 5) zu Recht auf Kieserling (2004b, S. 212 ff.). Beispielgebend sind hier in erster Linie Protestbewegungen (vgl. ebd., S. 213, Anm. 1). Auch diese mögen für sich beanspruchen „mehr als (die) Organisation“ zu sein, behaupten dann aber vornehmlich aus Gründen der „Hierarchie-Allergie“ – und dies unterscheidet sie dann etwa von der katholischen Kirche (jedenfalls noch bis zum Pontifikat Benedikts XVI.) – dafür gerade auf ein „weniger“ als auf ein „mehr an Organisation“ setzen zu müssen.

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Hecke, S. (2017). Zur Rechtsstruktur des kanonischen Rechts. In: Kanonisches Recht. Organisationsstudien. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-15749-4_4

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