Zusammenfassung
Eine sich entwickelnde systemtheoretisch orientierte Textsortenlinguistik wird aktuellen Denkrichtungen in der Textlinguistik gerecht, die Texte in ihren Weltbezügen, also gesellschaftsbezogen erforschen. Dabei wird der Bezug zu anderen Disziplinen wie der Soziologie oder der Kommunikationswissenschaft hergestellt. Der Beitrag gibt einen ausschnitthaften Überblick über die Ansätze der Textsortenlinguistik und ihr begriffliches Instrumentarium. Im Zentrum stehen Textsorten als Strukturen der Kommunikation in sozialen Systemen, die auf der Grundlage der Differenz von Kommunikation und Handlung sowie einer kommunikationswissenschaftlichen Mehrebenenheuristik bestimmt werden.
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Notes
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Der Terminus Kommunikationsbereich ist in der wissenschaftlichen Literatur zur Stilistik und Textlinguistik eingeführt und etabliert. Wie die letzten beiden Auflagen der „Linguistischen Textanalyse“ von Klaus Brinker et al. (7 2010, S. 127; 8 2014, S. 141) zeigen, werden in dominant handlungstheoretischer Perspektive im Rahmen kontextueller Kriterien zur Beschreibung von Textsorten die Kategorien „Kommunikationsform“ und „Handlungsbereich“ aufgeführt. Interessant ist dabei, dass in der siebten wie in der achten Auflage dem Handlungsbereich in Klammern „(Kommunikationsbereich)“ beigefügt ist. Dies impliziert die Gleichsetzung von Handlungs- und Kommunikationsbereich. In diesem Beitrag erfolgt in systemtheoretischer Ausrichtung eine Trennung und Differenzierung von Kommunikations- und Handlungssystem.
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Der Anschluss an die Kommunikationswissenschaft erscheint auch aus dem Grunde sinnvoll, da in der Sprachwissenschaft die Ebenenbezeichnungen gleichfalls verwendet werden, jedoch in einem anderen Sinn interpretiert und gefasst werden. Zudem werden in soziolinguistischen und sozialtheoretischen Ausführungen zwar Mikro- und Makroebene voneinander unterschieden, die Mesoebene wird jedoch ausgespart. So diskutiert Habscheid (2000) das Mikro-Makro-Problem im Rahmen der Gesprächsforschung auf der Grundlage der Makrotheorien Systemtheorie und Handlungstheorie und nutzt die Strukturationstheorie Giddens (1992) als Vermittlungstheorie, was sinnvoll erscheint. Die Mikroebene wird an interaktivem Handeln festgemacht. Für die Überbrückung von der Mikroebene zur Makroebene eignet sich nach Habscheid (2000, S. 144) der Begriff des Sprachhandlungsmusters. „Unter Sprachhandlungsmustern werden soziale Organisationsformen (‚Strukturen‘) für sprachliches Handeln verstanden, welche die Bearbeitung von gesellschaftlich rekurrenten Problemen prägen, ermöglichen und restringieren. (Bestimmte) Sprachhandlungsmuster können in der Perspektive gesellschaftlicher Zweckbereiche unter ‚Institutionen‘ subsumiert werden. Die Reichweite von Handlungsstrukturen erstreckt sich aber auch auf die Selektion, Kombination und Herausbildung von Praktiken in Stilen und Varietäten, die Personen, Gruppen, Organisationen usw. symbolisch konstituieren.“ Um die Strukturationstheorie Giddens als Vermittlungstheorie zwischen Handlungs- und Systemtheorie anzuwenden, wird in diesem Beitrag etwas anders vorgegangen, indem nämlich – wie gezeigt – mit Struktur und Strukturmoment eine abstrakt virtuelle Größe von einer der Umsetzung von Mustern unterschieden wird.
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Es ist davon auszugehen, dass die Regularitäten der Kommunikation des jeweils übergeordneten funktionalen Teilsystems in den Textsorten reproduziert werden.
Von daher ist es für die Untersuchung von Textsorten wesentlich, sich die Systemlogik der einzelnen gesellschaftlichen Teilsysteme bewusst zu machen. Die Systemtheorie bietet dafür vielfältige Anregungen. Nach Luhmann wird die Systemlogik funktional ausdifferenzierter Teilsysteme der Gesellschaft wie Recht, Politik, Wirtschaft, Religion, Kunst, Erziehung oder Wissenschaft u. a. mit den Kategorien Funktion, Leistung, Medium, Code, Programm beschrieben. Die Funktion eines Systems besteht darin, für ein spezifisches Problem „funktional äquivalente Problemlösungen“ (Krause 2005, S. 151) anzubieten. Der Aspekt Leistung sagt etwas über die Beziehungen von Systemen aus. Systeme stellen für andere (psychische oder soziale) Systeme Leistungen zur Verfügung. Das Medium in der Systemrationalität meint ein symbolisch generalisiertes Medium, ein Erfolgsmedium. Es konditioniert die Motivationen und Selektionen unbestimmter Kommunikationen und ist entscheidend für die Annahme von Kommunikation. Aus dem Medium leitet sich der Code, die binäre Leitdifferenz des Systems her. Programme sind die flexibelsten Bereiche funktional ausdifferenzierter Systeme. Sie versorgen das System mit zulässigen Regeln des Kommunizierens. Die Tabelle (Tab. 2) gibt einen Überblick der Beschreibung für die Funktionssysteme Wissenschaft und Erziehung.
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Adamzik (vgl. 2016, S. 134) bezweifelt die Möglichkeit der Abgrenzung von Textsorten der konventionalisierten, institutionell geregelten Anschlusskommunikation von solchen der strukturellen Kopplung. Sie verweist völlig zu Recht auf die Existenz nicht-konventionalisierter Textsortenketten im Sinne der „genre chains“ Fairclough (2004). Mit dem Konzept der genre chains nach Fairclugh (2004) ist die Möglichkeit angesprochen, Textsortenketten in andere Zusammenhänge zu setzen, sie zu rekontextualisieren und zu modifizieren. Derartige Aspekte können in diesem Beitrag durch die systematische Anbindung an die kommunikationswissenschaftliche Ebenenheuristik nicht berücksichtigt werden. In diesem Sinne ist Adamzik zuzustimmen, wenn sie schreibt, dass es sich bei dem Begriff der Textvernetzungen „um ein ganzes Bündel von Phänomenen handelt, denn Texte sind auf vielfältige Weise miteinander verknüpft“ (2016, S. 334). Hier soll davon ausgegangen werden, dass Textvernetzungen von Beziehungen zwischen Texten (z. B. intertextueller Art) zu trennen sind, ja getrennte Beobachtungen und Beobachtungskategorien erfordern. Deshalb sollen die oben aufgeführten Begrifflichkeiten nach jetzigem Erkenntnisstand beibehalten werden.
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Angeregt durch paradigmatische und syntagmatische Relationen zwischen Ausdrücken entwickelt Adamzik (2011, S. 374; 2016, S. 341) den Begriff der Textsortenkette für syntagmatische Relationen zwischen Textsorten. Der Ansatz kann hier für Textsorten der konventionalisierten, institutionell geregelten Anschlusskommunikation greifen, die Einbindung in einen kommunikationswissenschaftlichen Rahmen setzt allerdings andere Prämissen.
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Gansel, C. (2018). Systemtheoretisch orientierte Textsortenlinguistik. In: Schach, A., Christoph, C. (eds) Handbuch Sprache in den Public Relations. Springer Reference Sozialwissenschaften. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-15745-6_3
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