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Berufserfolg und die Planung eines aktiven Ruhestands

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Lebensdeutung und Lebensplanung in der Lebensmitte
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Zusammenfassung

Ob Erfolg im Beruf eine aktive Ruhestandsplanung fördert, wird in einer Kohorte von 3240 des 10. Schuljahres 1969 im 16. Lebensjahr untersucht, von denen wurden 1301 im 30., 43. und 56. Lebensjahr über ihren Lebensweg und über ihre Ruhestandspläne wiederbefragt. Aktivität des Ruhestands wurde als Fortsetzung des Berufs, zivilgesellschaftliches Engagement und produktive private Aktivität erhoben. Prädiktoren waren Berufserfolg, Freizeitpräferenz, Gesundheit, sowie soziale Herkunft, kognitive Fähigkeiten und Lebensplanung im 16. Lebensjahr. Eine aktive Ruhestandsplanung wird durch den Berufserfolg nicht gefördert, aber durch die Freizeitpräferenz vermindert und eine zielorientierte Lebensplanung im 16. Lebensjahr gefördert. Der fehlende Einfluss des Berufserfolgs im 56. Lebensjahr auf die Ruhestandsplanung ist nicht durch einen kurzen Planungshorizont, sondern dadurch bedingt, dass der Ruhestand anders geplant wird als die berufliche Laufbahn.

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Notes

  1. 1.

    Die Grenze zwischen Kunstausübung und Hobbys ist fließend. Wer Bilder malt, ist ebenso marktfähig wie der, der Modellschiffe bastelt oder Gurken züchtet. Aber vermutlich kommt es bei den Aktivitäten, die unter „Hobby“ klassifiziert und von den Befragten selber häufig so bezeichnet wurden, vor allem auf den Vollzug und nicht auf das Produkt an, sodass die Frage der Marktfähigkeit sich nicht stellt; wer sich als „Hobbymaler“ bezeichnet, will sich vermutlich eher beschäftigen als eine Kunst ausüben. Deshalb wurde „Hobby“ schließlich als konsumtiv klassifiziert. Diese Probleme der Klassifikation werden im Anhang diskutiert.

  2. 2.

    Durch die Mehrfachnennungen ergeben sich schwache Phi-Korrelationen unter den zusammengefassten Zielen. „Fortsetzung Beruf“ und „Zivilgesellschaft“ korrelieren −,13; „Fortsetzung Beruf“ und „Produktiv-Privat“ −,04; „Zivilgesellschaft“ und „Produktiv-Privat“ −,18.

  3. 3.

    Durch die Mehrfachnennungen ergeben sich schwache Phi-Korrelationen unter den Kategorien. Sie liegen auf der zweiten Ebene zwischen −,18 und ,13.

  4. 4.

    Die Freizeitaktivitäten in der Bevölkerung wurden mit Vorgaben, die Ruhestandspläne der ehemaligen Gymnasiasten offen erfragt. Wie der Unterschied zwischen Planung und Realisierung, werden auch diese Unterschiede der Grundgesamtheit und der Erhebungsform ausgeblendet, um den Unterschied der Lebensphasen herauszuarbeiten.

  5. 5.

    In der Zeitbudgeterhebung des Statistischen Bundesamts (2006, S. 1–8) 2001 nimmt die Teilhabe an Organisationen 3,8 % der täglichen Freizeit ein. In Auszählungen Fragen des BAT-Freizeitinstituts, welche Aktivitäten man mindestens einmal pro Woche ausgeführt hat, werden „Ehrenamt“ und „Engagement“ sowie „Musizieren“ – die einzige mir bekannte Vorgabe einer Kunstausübung in der täglichen Freizeit – 1986, 1994, 2004 und 2007 von weniger als 5 % der Bevölkerung genannt (Opaschowski 2008, S. 41–43; sowie Sonderauswertungen von Ulrich Reinhardt).

  6. 6.

    Die Kriterien können im Prinzip auch Hypothesen über den Zusammenhang zwischen den Planungen begründen. Etwa: Je mehr die 56-Jährigen produktive Pläne wählen, desto seltener wählen sie konsumtive. Derartige Hypothesen lassen sich aber nur prüfen, wenn beide Arten unabhängig voneinander erfragt wurden. Das ist bei mehreren Kategorien, die zur Auswertung einer offenen Frage entwickelt wurden, nicht der Fall. Die Wahl einer Kategorie muss hier mit der Wahl einer anderen negativ korrelieren.

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Anhang: Kategorienschema für die offenen Antworten zu Plänen für den Ruhestand – Analysen und Hypothesen

Anhang: Kategorienschema für die offenen Antworten zu Plänen für den Ruhestand – Analysen und Hypothesen

1.1 A1 Konstruktion und Verteilung

Das Kategoriensystem umfasst drei Ebenen. Es ist in Tab. 19.5 mit den prozentuierten Häufigkeiten der ersten und zweiten Ebene aufgeführt. Sie addieren sich aufgrund der Mehrfachnennungen zu mehr als 100 %.Footnote 3 Auf der zweiten Ebene, auf der nur wenige Doppelnennungen auftreten, können die Prozentwerte überschlägig addiert werden.

Auf der ersten Ebene werden berufsbezogene (Kategorie 1) und außerberufliche Aktivitäten unterschieden. Letztere umfassen öffentlich-zivilgesellschaftliche (Kategorie 2), privat-spezifische Aktivitäten (Kategorie 3) und private-allgemeine Lebensmaximen (Kategorie 4).

Tab. 19.5 Kategorienschema der Pläne für den Ruhestand

Auf der zweiten und dritten Ebene sind die Angaben selbsterklärend – bis auf die Aufgliederungen der Kategorie 2. Sie werden auf der zweiten Ebene nach dem Angebot in Vorhaben ohne Verbandsbezug (Kategorie 2.1) und Ehrenämter in Vereinen (Kategorie 2.2) unterschieden. Die Ehrenämter werden auf der dritten Ebene nach der Art der Vereine und dem mutmaßlich korrespondierende Motiv der Nachfrager unterteilt: Dienstleistungsvereine, deren Zweck auch das Interesse der Mitglieder ist (z. B. Sportklubs, Berufsverbände; Kategorie 2.2.1) und Wohlfahrtsvereine, deren Zweck andere Personen als die Mitglieder begünstigt (Z. B. Amnesty International, Rotes Kreuz; Kategorie 2.2.2).

Die Kategorien 1 und 2 gelten als produktiv; innerhalb der Kategorie 3 wurde zwischen produktiven – Lernen und Studium (Kategorie 3.1), Kunstausübung (Kategorie 3.2) – und konsumtiven – allen übrigen – Aktivitäten unterschieden. Die Kategorien 4 und 5 – allgemeine Maximen und Sonstige – fassen Angaben zusammen, die keine Aktivitäten spezifizieren und indirekte Antwortverweigerungen darstellen.

Alle Angaben wurden auf der dritten Ebene verkodet. Das geschah durch zwei voneinander unabhängige Verkoder. Die Übereinstimmung zwischen ihnen über alle Angaben betrug für drei Stellen 74 %, für zwei Stellen 90 %. Beides ist eine Unterschätzung. Denn bei den Mehrfachangaben haben die Verkoder zuweilen die Reihenfolgen vertauscht, sodass Übereinstimmungen an ungleichen Rangplätzen der Angaben als Nichtübereinstimmung gewertet wurden. Da die Angaben nur auf der ersten oder zweiten Stelle weiter verarbeitet werden, ist die Übereinstimmung also durchaus befriedigend. Bei Nichtübereinstimmung legten die beiden Verkoder gemeinsam den endgültigen Kode fest (Tab. 19.5).

Die höhere Ausbildung der Befragten hat wahrscheinlich bewirkt, dass mehr Antworten (44,8 %) gegeben wurden, als in einem Bevölkerungsquerschnitt gegeben worden wären. Aber sie hat – bis auf die Kategorie 3.1.1 „(Zweit)-Studium“, für das ein Abitur Regelvoraussetzung ist – die Verhältnisse der Häufigkeiten der Kategorien wohl nur geringfügig verschoben.

Zur Beschreibung und Erklärung der Verteilung sollen die Kategorien unabhängig von der Ebene aussagekräftig zusammengefasst werden. Auf der ersten Ebene ergibt sich folgende Rangfolge der Häufigkeiten: Privat-spezifische Aktivitäten mit 67,5 % vor zivilgesellschaftlichen Aktivitäten mit 22,9 %, privat-allgemeinen Maximen mit 14,6 %, berufsbezogenen Aktivitäten mit 8,7 % und Sonstigem mit 8,3 %. Daraus ergeben sich drei Schlüsse für die weitere Betrachtung. Erstens müssen vor allen die privat-spezifischen Aktivitäten auf der zweiten Ebene aufgegliedert werden. Zweitens ist es nicht erforderlich die zivilgesellschaftlichen Aktivitäten nach Vorhaben und Ehrenämtern weiter aufzuteilen – zumal der Anspruch der Aktivität sich wohl kaum nach dem Verbandsbezug unterscheidet. Drittens sind Maximen und Sonstige kein Ziel und müssen als Antwortverweigerungen gewertet werden. Dann verbleiben acht Kategorien: Beruf (Kategorie 1), Zivilgesellschaft (Kategorie 2), Lernen/Studium (Kategorie 3.1), Kunstausübung (Kategorie 3.2), Kunstrezeption (Kategorie 3.3), Hobby (Kategorie 3.4), Reisen (Kategorie 3.5) und Sport (Kategorie 3.6).

Unter diesen acht Kategorien ist Reisen die homogenste Kategorie. Während alle übrigen Kategorien auf der zweiten bzw. dritten Ebene ein Spektrum von Alternativen zusammenfassen, lässt sich „Reisen“ auf der dritten Ebene nur nach der für die Aktivität nebensächlichen Spezifizierung eines Ziels aufgliedern. „Reisen“ ist zudem in den meisten Fällen die eigene Formulierung der Befragten und keine analytische Kategorie, unter der in der Auswertung unterschiedliche Aussagen zusammengefasst werden. „Reisen“ kann mit Blick auf den Ruhestand nur räumliche Mobilität ohne beruflichen Anlass meinen. Keiner der Befragten sagt daher ausdrücklich Urlaubs- oder Ferienreise; aber fünf Befragte betonen „mehr reisen“, zwei „mehr von der Welt sehen“. Trotz dieser Konkretheit ist Reisen mit 28,4 % die häufigste Kategorie. Die Spitzenstellung des Reisens unter den Aktivitäten für den Ruhestand findet sich auch in einer amerikanischen Studie (Staats und Pierfelice 2003, S. 489).

Am zweithäufigsten wird das zivilgesellschaftliche Engagement mit 22,9 % genannt. An dritter bis fünfter Stelle folgen etwa gleich häufig Lernen und Studium mit 15,9 %, Hobby mit 14,7 % und Kunstausübung mit 14,2 %. Den sechsten und siebten Platz nehmen Sport und Beruf mit 10,9 % und 8,7 % ein; den achten Platz Kunstrezeption mit 3,9 %. Diese Prozentwerte und ihre Rangfolge sind in der ersten und zweiten Spalte der Tab. 19.6 dargestellt. Die Rangfolge sollte sich durch Charakteristika der Aktivitäten, die zugleich als Motive der Planung und der Praxis wirken können, erklären lassen, die in der dritten und vierten Spalte dargestellt sind und in Abschnitt A2 erläutert werden. In Abschnitt A3 werden Hypothesen entwickelt, wie die Pläne den angenommenen Motiven entsprechend nach Eintritt in den Ruhestand verwirklicht werden.

Tab. 19.6 Zuordnung der Kategorien für den Ruhestand zu Kriterien ihrer Wahl

1.2 A2 Erklärung der Rangfolge

1.2.1 Ansprüche und Beliebtheit von Aktivitäten in der Freizeit und im Ruhestand

Von 1997 bis 2009 jährlich wiederholte Bevölkerungsbefragungen zeigen: In der täglichen Freizeit – also im Querschnitt überwiegend während des Berufslebens – werden Aktivitäten umso häufiger ausgeübt, je weniger Ansprüche sie stellen (Meulemann 2012). Ansprüche bedeuten Mühe und Anstrengung, kurz: psychische Kosten für den Akteur. Wenn man die Häufigkeiten der Pläne für den Ruhestand an diesem Kriterium misst, so ist ihre Rangfolge überraschend. Auf der einen Seite werden berufliche Aktivitäten, zivilgesellschaftliches Engagement, Lernen/Studium und Kunstausübung – also anspruchsvolle, Konzentration, Beharrlichkeit und Enttäuschungsfestigkeit verlangende Aktivitäten – häufig geplant. Auf der anderen Seite werden Hobby, Sport und Kunstrezeption – Aktivitäten, die geringe Ansprüche stellen – selten geplant. In diese Gegenüberstellung passt nur das Reisen nicht, das geringe Ansprüche stellt und dennoch die häufigste Aktivität ist. Davon abgesehen aber gilt: Für den Ruhestand werden Aktivitäten umso häufiger geplant, je mehr Ansprüche sie stellen. Das Anspruchsniveau der Aktivitäten hängt mit der Praxis der täglichen Freizeit negativ, mit der Planung für den Ruhestand positiv zusammen. Warum kehrt sich der Zusammenhang um, wenn man „freie Zeit“ nicht mehr während des Berufslebens, sondern im Ruhestand betrachtet?Footnote 4

Offenbar verschafft der Ruhestand Aktivitäten, die bereits in der täglichen Freizeit praktiziert werden konnten, keine zusätzliche Attraktivität und bietet anspruchsvollen Aktivitäten erstmals Raum für eine intensive Praxis. Anspruchsarme Aktivitäten werden vom Beruf in den Ruhestand mitgenommen, anspruchsvolle neu aufgegriffen; weiterhin wirksame Motive der täglichen Freizeit werden von ruhestandstypischen überlagert. Der größere Spielraum im Ruhestand gibt gerade den Aktivitäten mehr Attraktivität, die höhere Ansprüche stellen. Das lässt sich untermauern, wenn man Häufigkeitsrangfolgen zwischen den Aktivitäten, die von den ehemaligen Gymnasiasten für den Ruhestand geplant, und den Aktivitäten, die von der Bevölkerung für die tägliche Freizeit praktiziert werden, im Detail vergleicht.

Auf der einen Seite sind die fünf beliebtesten Aktivitäten der täglichen Freizeit der Bevölkerung – Fernsehen, Musikhören, Tageszeitung lesen, Zeitschriften lesen und gut essen gehen – Routinen der täglichen Entspannung und tauchen unter den Zielen für den Ruhestand überhaupt nicht auf. Auf der anderen Seite sind berufsbezogene Aktivitäten und Lernen/Studium, die zusammen von mehr als einem Fünftel für den Ruhestand avisiert werden, lebensphasenspezifische Aufgaben und fallen definitionsgemäß nicht in die tägliche Freizeit. Und zivilgesellschaftliches Engagement sowie Kunstausübung, die von fast einem Viertel bzw. einem Siebtel für den Ruhestand avisiert werden, sind außeralltägliche Selbstverpflichtungen und werden in der täglichen Freizeit so selten ausgeübt, dass sie in den meisten Befragungsinventaren nicht einmal vorgegeben und in den seltenen Fällen, wo sie vorgegeben wurden, fast nie gewählt werden.Footnote 5 Zwischen beide Seiten, zwischen Routinen der Entspannung und lebensphasenspezifische Aufgaben sowie außeralltägliche Selbstverpflichtungen fallen Hobbys, Sport und Kunstrezeption, die für Freizeit wie Ruhestand mit mittlerer Häufigkeit gewählt werden. Die Aktivitäten fallen also in drei Gruppen: typische Aktivitäten der täglichen Freizeit, beiden gemeinsame Aktivitäten und typische Aktivitäten des Ruhestands.

Die erste Gruppe – die in der Freizeit häufigen und im Ruhestand seltenen Aktivitäten – werden im Ruhestand vielleicht länger praktiziert, sind aber kaum Gegenstände bewusster Planung der gewonnenen Zeit. Sie sind zu kurzfristig und zu schnell erledigt, um längere Zeit zu absorbieren. Routinen der Entspannung sind im Beruf naturgemäß mehr gefragt als im Ruhestand. Sie werden im Ruhestand zwar fortgeführt, aber nicht mehr als Gegengewicht zur Last des Alltags gebraucht. Wer während seines Berufslebens jeden Abend zwei Stunden ferngesehen hat, wird es auch im Ruhestand tun und vielleicht etwas früher beginnen und etwas länger dabeibleiben. Aber er wird Fernsehen kaum zum Inhalt des Ruhestands erheben.

Die zweite Gruppe – die in Freizeit wie Ruhestand mittelhäufigen Aktivitäten – lassen sich ebenfalls im Ruhestand länger praktizieren. Da ihnen schon während des Berufslebens mehr Zeit und Aufmerksamkeit gegönnt wurde als den Routinen der Entspannung, können sie zum Inhalt des Ruhestands werden. Lang gehegte Wünsche und Vorsätze haben endlich die Chance, kontinuierlich verfolgt zu werden. Wer am Feierabend Zeit und Spannkraft für Gartenpflege, Sport oder Theater gelegentlich aufgebracht hat, sieht im Ruhestand die Gelegenheit, Abend und Tag mit ihnen zu füllen.

Die dritte Gruppe – die in der Freizeit seltenen und im Ruhestand häufigen Aktivitäten – umfasst lebensphasenspezifische Aufgaben und außeralltägliche Selbstverpflichtungen, die Zeit in größeren Tranchen und Planung verlangen. Sie waren für die tägliche Freizeit des Berufslebens zu sperrig und können im Ruhestand erstmals ohne zeitliche Restriktion praktiziert werden.

Aktivitäten der ersten Gruppe wurden in unserer Erhebung nicht genannt. Sie werden sicher im Ruhestand praktiziert, aber sie sind kein Ziel, auf das hin man den Ruhestand plant. Sie werden daher im Folgenden nicht mehr betrachtet und sind in Tab. 19.6 nicht aufgeführt. Die zweite und dritte Gruppe haben gemeinsam, dass der Zeitgewinn des Ruhestands ihnen mehr Raum gibt. Aber sie unterscheiden sich danach, ob sie konsumtiv oder produktiv sind.

1.2.2 Produktiv versus konsumtiv

Produktiv – also wertschöpfend – sind nach der ökonomischen Theorie (Bass und Caro 2001) Aktivitäten, die dem Akteur auf dem Markt von einem anderen abgekauft werden könnten – selbst wenn er sie dort nicht anbietet. Die Marktfähigkeit ist der Test auf die Produktivität. Da zertifizierte Lernergebnisse, zu Deutsch: Zeugnisse, die Marktfähigkeit erhöhen, soll Zertifzierbarkeit hier als Element der Marktfähigkeit angesehen werden. Um den Wert einer Aktivität festzustellen, muss man fragen: würde mir jemand dafür etwas zahlen oder etwas bescheinigen? Das ist für das Klavierspiel Alfred Brendels, aber nicht meines Nachbarn der Fall.

Nach dem Kriterium der Marktfähigkeit sind berufsbezogene Aktivitäten, zivilgesellschaftliches Engagement, Lernen/Studium und Kunstausübung produktiv; Hobby, Reisen, Sport und Kunstrezeption hingegen konsumtiv. Die relativ häufigen Nennungen der ersten Gruppe ließen sich also aus ihrer Produktivität, die relativ seltenen Nennungen der zweiten aus ihrer Konsumqualität erklären. Wie anspruchsvolle so würden auch produktive Aktivitäten im Ruhestand bevorzugt gewählt. Aber dem steht wiederum die Beliebtheit des Reisens entgegen, das als konsumtive Aktivität am häufigsten gewählt wird.

Lassen sich weitere Kriterien finden, die die Rangfolge der Beliebtheit von Aktivitäten für den Ruhestand dort erklären, wo das Kriterium der Produktivität versagt? Genauer: Wie lässt sich erklären, dass die konsumtive Aktivität des Reisens im Ruhestand beliebter ist als die produktiver Aktivitäten des zivilgesellschaftlichen Engagements und der Kunstausübung?

1.2.3 Der besondere Nutzen des zivilgesellschaftlichen Engagement und der Kunstausübung im Ruhestand: Selbstbindung

Zivilgesellschaftliches Engagement und Kunstausübung verlangen eine gewisse Anstrengung, die sie in die Nähe der beruflichen Arbeit rückt. Ziele müssen kontinuierlich verfolgt und Enttäuschungen, die immer wieder auftreten, überwunden werden. Zivilgesellschaftliches Engagement muss gemeinschaftlich geplant; Kunstausübung muss geübt werden. Beide Aktivitäten sind mit psychischen Kosten verbunden, sodass sie allein aufgrund dieses Kriteriums selten als Aktivität für den Ruhestand avisiert werden sollten. Aber beide Aktivitäten bringen nicht nur diese Kosten, sondern auch einen Nutzen mit sich, der die Kosten ausgleichen kann. Ihr Nutzen resultiert aus der Selbstbindung, die sie verlangen.

Selbstbindung ist – wörtlich genommen – eine Verpflichtung vor sich selber. Wenn ich die Verpflichtung vor mir selber widerrufe, bekomme ich Gewissensbisse oder verliere meine Selbstachtung. Beide Folgen kann ich zwar selber beeinflussen, sodass sie manchmal kein starker Damm gegen einen Widerruf sind. Die Selbstbindung auf dem inneren Forum der Person kann aber verstärkt werden, wenn ich sie vor anderen äußere. Der Widerruf hat dann nicht nur die Kosten des Gewissensbisses oder des Selbstachtungsverlusts, sondern auch soziale Kosten: Ich verliere an Gesicht (Becker 1960). Nach dem eigenen Gewissen bindet das Wissen der anderen.

Zivilgesellschaftlichem Engagement ist Selbstbindung durch andere inhärent, weil es in einer Gemeinschaft verfolgt wird, die ein Ziel setzt und den Erfolg plant, koordiniert und evaluiert. Wie sehr die anderen mich wertschätzen, hängt davon ab, wie gut ich mich einfüge. Daher kann, wer sich für eine Sache oder einen Verband engagiert, nicht mehr nach Belieben über seine Zeit verfügen. Er muss sich an die Forderungen der Sache und die Spielregeln der Gemeinschaft halten.

Auch der Kunstausübung ist Selbstbindung durch andere inhärent, wenn sie – wie Theaterspiel – nur in Gemeinschaft praktiziert werden kann. Wenn Kunstausübung indes – wie Malen oder Schreiben – solistisch ist, verlangt sie eine starke Selbstbindung auf dem inneren Forum der Person. Wer seine Maltechnik nicht schult, wird nie ein guter Amateur. Auch die solistische Kunstausübung tendiert zudem auf eine Selbstbindung durch andere hin. Wer eine Kunst erfolgreich ausüben will, muss anderen die Standards, denen er folgt, offenlegen. Denn erst wenn die anderen ihm bestätigen, dass er seine Standards erreicht hat, hat er Erfolg. Deshalb sucht er ein Publikum. Deshalb möchte auch der Hobbymaler ausstellen und auch der Gelegenheitsschriftsteller publizieren – wofür Romane und Autobiografien, die als „books on demand“ erscheinen, und Seiten von Tageszeitungen, in denen Amateur-Schriftsteller publizieren können, Belege sind.

Die Selbstbindung, die zivilgesellschaftliches Engagement und Kunstausübung verlangen, hat im Ruhestand einen besonderen Nutzen. Sie legt die frei gewordene Zeit wieder fest und stabilisiert das breit gewordene Spektrum der Möglichkeiten in einem sinnvollen, nämlich produktiven Bereich. Sie schafft, wo der alte Lebensrhythmus abgebrochen wurde, einen neuen Stundenplan. Der Ernst des Lebens, der mit dem Beruf gegangen ist, kommt wieder. Wie früher der Beruf, so gibt nun die Selbstbindung dem Tag, der Woche, dem Jahr eine Ordnung. Sie interpunktiert die Zeit und konzentriert die Sachalternativen aufs Produktive. Sie schafft sich selber eine Ordnung, wo zuvor eine Ordnung von außen auferlegt war. Sie schützt vor Langeweile. Der Nutzen der Selbstbindung im Ruhestand ist der Gewinn einer neuen Struktur des Alltags. Dieser Nutzen kann die Kosten des hohen Anspruchs von Tätigkeiten übersteigen. Er kann erklären, warum zivilgesellschaftliches Engagement und Kunstausübung trotz ihres hohen Anspruchs häufiger als Hobby, Sport und Kunstrezeption gewählt werden – aber er ist nicht vereinbar mit dem Ergebnis, dass Reisen am häufigsten gewählt wird. Womit kann das Reisen zivilgesellschaftliches Engagement und Kunstausübung übertrumpfen?

1.2.4 Der besondere Nutzen des Reisens im Ruhestand: Suspension des Alltags, Spannung auf Neues

Zunächst ist Reisen gegenüber den beiden Konkurrenten im Nachteil, weil es nicht den Nutzen der Selbstbindung bringt. Es ist keine gemeinschaftliche, sondern individuelle Aktivität. Anders als das zivilgesellschaftliche Engagement verbindet Reisen nicht mehrere Personen durch eine gemeinsame Aufgabe. Auch in einer Reisegruppe reist jeder für sich, nämlich für seinen Genuss. Anders als die Kunstausübung verlangt das Reisen nicht, dass man sich selber Standards setzt, die man erreichen möchte und deren Erreichen man gerne von anderen bestätigt haben will. Die „Kunst des Reisens“ bezieht sich nicht auf ein Produkt, sondern auf den Genuss des Vollzugs. Als individuelle und selbst gesetzten Standards nicht verpflichtete Aktivität verlangt Reisen also keine Selbstbindung. Man mag an freien Tagen oder im Urlaub so viel reisen, wie man will. Die Zeit wird dadurch gefüllt, aber nicht geordnet.

Wo Selbstbildung fehlt, haben Präferenzen freien Raum. Reisen erfüllt vielleicht am besten von allen Aktivitäten die Definition von Freizeit als Zeit, in der man tun und lassen kann, was man will. Es wird, bei einem gegebenen Niveau von Ressourcen, durch Präferenzen bestimmt. Wenn man weiß, was man sich erlauben kann, reist man, wohin man will. Reisepläne sind Gegenstand des Gesprächs in der Arbeitspause und des Familienrats. Man teilt sie anderen aus allem möglichen Motiven mit – nur nicht aus dem Motiv, sich selbst zu binden. Wenn man es sich anders überlegt, kann man seine Pläne in „letzter Minute“ ändern und verliert kein Gesicht. Reisen ist eine Erfüllung der Freiheit und eine Nische der Sinngebung – neben der Religion und dem Beruf. Aber solange man im Beruf ist, ist der Zeitschlitz dafür eng und Zwängen unterworfen. Man kann nur solange reisen, als der tarifvertragliche Urlaub dauert, und nur, wenn es betrieblich möglich ist. Die Präferenzen werden durch die Lebensphase eingeschränkt. Der besondere Reiz des Reisens im Ruhestand erschließt sich also, wenn man es mit dem Reisen in den beiden früheren Lebensphasen der Jugend und des Erwachsenenlebens vergleicht.

In der Jugend, also vor dem Eintritt in Beruf und der Gründung einer eigenen Familie, ist Reisen ein Mittel der Identitätssuche. Wer sich selber sucht, braucht Vorbilder. Vorbilder kann man zu Hause, bei Eltern und Lehrern, Nachbarn und Freunden erleben, aber auch in der Ferne suchen. Reisen erweitert die Palette der Vorbilder und vergrößert die Kontraste – genauso wie Lektüre, aber mit der Chance eigener Erfahrung. Reisen bietet die Chance, fremde wie heimische Vorbilder zu erfahren. Es bietet die Chance, im Vergleich die heimischen Vorbilder und sich selbst genauer zu sehen und schließlich sicherer und überlegter eine Identität zu wählen. So wie das Moratorium die Zeit für die Identitätssuche schafft, so erweitert Reisen die Erfahrungsbasis dafür. So wie das Moratorium mit der Identitätsfindung endet, so hört mit ihr das Reisen auf, als Mittel der Identitätssuche zu dienen. So wie das Moratorium nicht unendlich verlängert werden kann und auch ohne erfolgreiche Identitätssuche endet, so ist auch das Reisen als Mittel der Identitätssuche begrenzt. Reisen in der Jugend ist Teil der Reise ins Erwachsenenleben, die früher oder später ihr Ende hat.

Im Erwachsenenleben hat das Reisen nicht nur den Fluchtpunkt der Identitätssuche, der ihm in der Jugend seinen Sinn gab, verloren; auch die Chancen sind durch Beruf und Kindererziehung eingeschränkt. Mit dem Ruhestand – und mit dem Ende der aktiven Elternschaft, die in der Regel schon vorausgegangen ist – wird Reisen erstmals unabhängig vom Beruf möglich, also ohne den Turnus von Ferien und Urlaub und ohne den Zweck der Erholung. Anders als die Urlaubsreise während des Berufslebens kennt die Reise im Ruhestand keine durch die Lebensphase erzwungene Wiederkehr mehr, sodass auch Start und Ziel flexibel werden (Nimrod 2008, S. 862, 864 f., 871). Reisen im Ruhestand ist unbeschwertes Reisen; was in früheren Lebensphasen Privileg des Aussteigers, Abenteurers oder Weltenbummlers war, wird im Ruhestand zur Chance für alle. In den Grenzen seiner Mittel kann man reisen, wann, wohin und wie lang man will. Die Präferenzen regieren ohne Einschränkungen der Lebensphase.

Wer unbeschwert reist, verlässt nicht nur den Ort, sondern den ganzen bisherigen Lebensraum (Nimrod 2008, S. 867 f.). Er suspendiert das Leben zu Hause, die Lebensbasis in Beruf, Familie, Gemeinde und Umgebung. Wer im Ruhestand reist, suspendiert ebenfalls das Leben zu Hause – also die um den Beruf geschmälerte Lebensbasis. Er bringt nicht nur das bisherige Leben, sondern auch die weiterlaufenden Lebensstränge hinter sich; und die Routinen, die weiterhin den Alltag durchziehen, also alle Obligationsarbeiten von der Essenszubereitung über die Enkelbetreuung bis zur Steuererklärung und die sozialen Nahkontakte, bleiben zurück. Reisen verhält sich zum Leben zu Hause wie der Traum zur Realität; einige unserer Befragten brachten das zum Ausdruck, indem sie sich für den Ruhestand eine „Traumreise“ wünschten. Weil man nicht wiederkehren muss, glaubt man leicht, immer wegbleiben zu können. Selbst wenn die Reise mit Freizeitaktivitäten vom Sprachenlernen bis zur Jagd „korrespondiert“ (Nimrod 2008, S. 872 f.), womit gemeint ist: durch die Freizeit zu Hause motiviert ist, bleibt bestehen, dass sie die Kontinuität des heimatlichen Lebens unterbricht. Jedes Reisen mag den Alltag suspendieren und in eine Welt jenseits des Alltags führen. Aber das unbeschwerte Reisen im Ruhestand verspricht, dies dauerhaft zu tun. Die Suspension des Alltags ist ein erstes Kriterium, das erklärt, warum Reisen am häufigsten als Aktivität im Ruhestand gewählt wird.

Zur Suspension des Alltags kommt ein Anreiz in der Sache. Er liegt nicht in der Reise, sondern im Reisen – nicht im vorübergehenden Aufenthalt an einem Ziel, sondern in der Fortbewegung zu immer wieder neuen Zielen. Selbst wenn manche Befragte ein Ziel nennen, geht die Reise nicht „nach“, sondern „durch Südostasien“. Während das Reisen in der Lebensmitte Freizeitaktivitäten, die oft auch täglich zu Hause praktiziert werden können, auf eine längere Zeit an einem nicht heimatlichen Ort ausdehnt, ist die Reise im Alter oft eine Rundreise. Reisen ist nicht die Bewegung zum Ziel, sondern die Bewegung von Tag zu Tag. Sie gewinnt ihren Reiz als Folge von neuen Erlebnissen, die in der – häufig genannten – „Weltreise“ so lang wie möglich, auf alles in der Welt ausgedehnt wird. Dass solche Reisen meistens vorprogrammiert sind und geführt werden, schließt den Reiz des immer wieder Neuen nicht aus. Im Gegenteil: Programm und Führung, die offensichtlich die Anstrengung der persönlichen Planung ersparen, garantieren hintergründig, dass jeder Tag etwas Neues bringt. Sie haben für jeden Tag etwas Anderes parat. Während das Leben zu Hause bekannten Routinen folgt, kann das Leben auf Reisen jeden Tag etwas Neues bringen. Die Spannung auf Neues ist ein zweites Kriterium, das erklären kann, warum Reisen am häufigsten als Aktivität im Ruhestand gewählt wird.

Die beiden produktiven Aktivitäten zivilgesellschaftliches Engagement und Kunstausübung bieten weder die Suspension des Lebens zu Hause noch die Spannung des Lebens in der Fremde. Vielmehr bindet die ihnen inhärente Selbstbindung auch an Zuhause. Vermutlich verliert die Selbstbindung der produktiven Aktivitäten angesichts der Freiheitsversprechen des Reisens an Gewicht. Dann sollte bei der Planung des Ruhestands die Balance der Nutzen zugunsten des Ruhestands ausfallen. Wird sie es auch im Ruhestand bleiben?

1.3 A3 Die Nutzen in Balance – Hypothesen zur Verwirklichung der Pläne

Die Kriterien, die die Rangfolge der Pläne für den Ruhestand am Ende der Lebensmitte erklären, sind auch Basis dafür, Veränderungen dieser Rangfolge im Ruhestand vorauszusagen. Sie können Hypothesen begründen, wie die heute 56-Jährigen ihre Pläne verwirklichen werden.Footnote 6 Wird das Reisen seinen Reiz behalten, wenn man in den Ruhestand eingetreten ist? Wird das Übergewicht der Suspension des Alltags und der Spannung auf Neues über die Selbstbindung bleiben, wenn die Pläne realisiert werden können?

Zunächst setzt die schwindende Lebenskraft und das im Ruhestand häufig reduzierte Einkommen dem Reisen, das ja auch anstrengend und teuer sein kann, früher eine Grenze als alternativen Aktivitäten im Ruhestand, sodass es eher als sie an Reiz verliert. Aber auch zwei Besonderheiten des unbeschwerten Reisens selber legen eine negative Antwort nahe.

Erstens behält die Basis zu Hause, auch wenn sie um den Beruf geschmälert ist, ihre Lebensbedeutung. Irgendwo hat man eine feste Wohnung, auch wenn Künstler – wie Jean Paul Sartre und Simon de Beauvoir – sie ins Hotel oder Lebenskünstler – wie Nicolas Berggruen – sie in den Privatjet verlegen (DER SPIEGEL vom 07.02.2011). Irgendwo hat man sein Konto, auch wenn man überall in der Welt und vom PC aus Geld abheben kann. Irgendwo fordern Besitz oder Beziehungen, ein Haus oder ein Enkel, Aufmerksamkeit und Pflege. Irgendeinem Staat zahlt man Steuern und erhält von ihm einen Pass. Weil man sich mit dem Zuhause identifiziert, wo das bisherige Leben stattgefunden hat und noch heute die verbleibenden Lebensvollzüge fixiert sind, kann man nicht immer reisen, selbst wenn der Zeitpunkt der Rückkehr nicht erzwungen ist. Auch wer verreist ist, bleibt zu Hause verankert, wo er sein Leben geführt hat und weiter führen muss. Die Frage, was man nach der Rückkehr machen will, geht nicht aus dem Sinn.

Zweitens verliert die Unbeschwertheit des Reisens ihren Wert. Wenn man jederzeit beliebig lange überallhin fahren kann, wird nach jeder Rückkehr die Wahl eines neuen Ziels schwerer. Die Unbeschwertheit endet in Beliebigkeit. Der Reiz wird schal, die Spannung lässt nach. Selbst an einem Traumziel lässt sich bald die Frage nicht unterdrücken: Was habe ich hier verloren? Hier habe ich nicht gelebt, hier kann ich mein bisheriges Leben nicht fortführen. Der Sprung zum nächsten Traumziel wird daran nichts ändern. Wer so reist, dass er ohne Gedanken an die Rückkehr immer weiter fährt, gerät chronisch in einen Status der Inauthentizität. Wo er ist, da gehört er nicht hin; und wo er hingehört, da will er nicht sein. Mehr noch: Wo er ist, hat er keine Aufgaben; und wo er Aufgaben hat, da ist er nicht. Deshalb muss man auch ohne Zwang von außen, aus innerer Not früher oder später zurückkehren. Die Frage, was man machen will, lässt sich dann nur noch mit Aktivitäten zu Hause beantworten. Sie alle erhalten die Authentizität, den Faden des bisherigen Lebens. Für sie alle erweist sich nun als Vorteil, was bisher als Nachteil erschien. Wer zu Hause bleibt, arbeitet weiter für seine alten Obligationen und kann sich neue Aufgaben stellen, die ihn nicht dauernd okkupieren, aber immer wieder fordern. Er kann den Ruhestand durch Selbstbindungen strukturieren.

Das aber leisten unter den Alternativen zu Hause am ehesten die produktiven. Bei den konsumtiven Aktivitäten Hobby, Sport und Kunstrezeption ist Produktivität eine Möglichkeit, aber nicht die Regel. Wer seinen Garten pflegt, will in der Regel keine Blumen verkaufen; wer Sport treibt, will in der Regel nicht das Deutsche Sportabzeichen; und „Literaturkreise“, die ihre Mitglieder zum Lesen so wie die Anonymen Alkoholiker ihre Mitglieder zum Nichttrinken verpflichten, kennen keinen Markt, für den sie etwas zertifizieren könnten. Dagegen sind Lernen und Studieren zertifizierbar. Der Senior, der nur Vorlesungen hört und nie einen Schein will, betreibt ein Hobby; wer aber einen Schein macht, kann ihn auf dem Markt verwerten, auch wenn die Chancen für einen Senior nicht mehr hoch sind. Ebenso ist die Kunstausübung marktfähig; der Hobbymaler, der Bilder in der Galerie ausstellt, aber ein Bild an einen guten Freund verschenkt, hat einen pekuniären Wert vergeben. Die grobe Einteilung der privat-spezifischen Aktivitäten in konsumtive und produktive, die hier getroffen wurde, ist also berechtigt; die zitierten Fälle aus der Grauzone ließen sich nur auflösen, wenn man die Befragten im Detail weiter über ihre Aktivitäten und Motive befragt.

Die schwindenden Kräfte und Ressourcen der alternden Menschen und die mit ihrer Wiederholung nachlassende Anziehungskraft der Aktivität begründen zwei Gruppen von Hypothesen zum Verhältnis zwischen den Ruhestandsaktivitäten.

Die erste bezieht sich auf die Entwicklung der Aktivitäten von der Planung bis in den Ruhestand. Reisen sollte vor dem Ruhestand häufiger geplant als im Ruhestand praktiziert werden. Weil die Alternativen zum Reisen weniger kraft- und ressourcenzehrend sind, sollte das Reisen die Spitzenstellung unter den geplanten Aktivitäten unter den realisierten Aktivitäten nicht halten. Auf Kosten des Reisens sollten die produktiven Aktivitäten, die durch Selbstbindung den Alltag ordnen, und die weiteren konsumtiven, die Kräfte und Ressourcen mehr als das Reisen schonen, gewinnen. Was für den Vergleich zwischen Plan und Realisierung gilt, sollte auch für den Vergleich zwischen frühem und spätem Ruhestand gelten.

Die zweite Gruppe von Hypothesen bezieht sich auf den Einfluss der Pläne auf die Aktivitäten im Ruhestand. Die Planung jeder Aktivität sollte ihre Verwirklichung positiv, aber die Planung anderer Aktivitäten negativ beeinflussen. Wer vor dem Ruhestand konsumtive Aktivitäten plant, sollte im Ruhestand seltener produktive Aktivitäten realisieren. Wer vor dem Ruhestand produktive Aktivitäten plant, sollte seltener konsumtive Aktivitäten realisieren.

Nicht auf das Verhältnis zwischen den Ruhestandsaktivitäten, sondern auf ihren Zusammenhang mit psychischen Qualitäten bezieht sich eine dritte Gruppe von Hypothesen. Die Strukturierung des Alltags durch Selbstbindung in produktiven Aktivitäten kann positive psychische Folgen haben, die konsumtive Aktivitäten nicht mit sich bringen. Wer im Ruhestand Ziele verfolgt, ist eher zufrieden, als wer nur die Routinen des privaten Alltags kennt. Denn Zufriedenheit liegt – wie die Forschung zur „hedonic treadmill“ allgemein (Layard 2005) zeigt – eher im Streben nach Zielen als im Genuss eines erreichten Ziels. Je zufriedener jemand vor dem Ruhestand mit seinem Leben ist, desto eher sollte er produktive Aktivitäten und desto seltener sollte er konsumtive Aktivitäten für den Ruhestand planen. Was für die Korrelation zwischen Lebenszufriedenheit und Planung vor dem Ruhestand gilt, sollte auch für den Einfluss der Lebenszufriedenheit vor dem Ruhestand auf die Realisierung im Ruhestand gelten. Und was für die Lebenszufriedenheit gilt, sollte auch für die subjektiv empfundene Lebensqualität gelten.

Die Kriterien hinter der Rangfolge der acht Aktivitäten, die 56-Jährige für ihren Ruhestand planen, hat also Motive sichtbar gemacht, die nicht nur die Rangfolge in der Planung erklären, sondern auch Hypothesen begründen, wie sich die Verhältnisse zwischen den Aktivitäten nach Eintritt in den Ruhestand entwickeln können. Erst wenn die Kohorte erneut befragt worden ist, nachdem sie überwiegend in den Ruhestand eingetreten ist, also im 65. Lebensjahr im Jahre 2019, wenn also nach Meinung von Udo Jürgens und der Bevölkerung „das Leben anfängt“, lässt sich prüfen, ob tatsächlich das Reisen seine Attraktivität verloren hat und von Aktivitäten verdrängt worden ist, die Selbstbindung verlangen und den Nutzen der Selbstbindung bereitstellen.

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Meulemann, H. (2017). Berufserfolg und die Planung eines aktiven Ruhestands. In: Birkelbach, K., Meulemann, H. (eds) Lebensdeutung und Lebensplanung in der Lebensmitte. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-15362-5_19

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