Zusammenfassung
Jugendarbeit (näher definiert und rechtlich kodifiziert in §§ 1, 11 KJHG) agiert im Allgemeinen nach ihrem methodologischen Selbstverständnis und Bildungsauftrag nicht unter dem Vorzeichen von Prävention. Dort aber, wo Jugendliche mit menschenfeindlichen Orientierungs- und Handlungsmustern durch Angebote der Jugendarbeit erreicht werden, kann dies auch unter präventiven Gesichtspunkten einer beziehungsorientierten und zielgruppenspezifischen „Förderung positiver Lebensverhältnisse“ geschehen. Die akzeptierende Jugendarbeit mit Jugendlichen in rechtsextremen Jugendcliquen ist diesen Weg gegangen.
Jugendarbeit (näher definiert und rechtlich kodifiziert in §§ 1, 11 KJHG) agiert im Allgemeinen nach ihrem methodologischen Selbstverständnis und Bildungsauftrag nicht unter dem Vorzeichen von Prävention (vgl. Lindner 2005, S. 254–262). Dort aber, wo Jugendliche mit menschenfeindlichen Orientierungs- und Handlungsmustern durch Angebote der Jugendarbeit erreicht werden, kann dies auch unter präventiven Gesichtspunkten einer beziehungsorientierten und zielgruppenspezifischen „Förderung positiver Lebensverhältnisse“ (vgl. Lindner 2005, S. 259) geschehen. Die akzeptierende Jugendarbeit mit Jugendlichen in rechtsextremen Jugendcliquen ist diesen Weg gegangen. Im Folgenden wird versucht, dieses Konzept auf die Jugendarbeit mit Jugendlichen mit (neo-)salafistischenFootnote 1 Orientierungs- und Handlungsmustern zu übertragen. Bislang liegen für diese Art von zielgruppenspezifischer Jugendarbeit keine gesicherten empirischen Erkenntnisse vor, eine Praxisforschung und wissenschaftlich überprüfte Konzeptionsentwicklung stehen noch aus.
Die Auseinandersetzung mit Spezialthemen (Rechtsextremismus, [Neo-]Salafismus etc.) in Regeleinrichtungen und -angeboten der Jugendarbeit, d. h. in Einrichtungen der Offenen Jugendarbeit sowie in der aufsuchenden Jugendarbeit, und Schule ist abhängig von Ressourcen, aber auch „von den verschiedenen Perspektiven und Arbeitsaufträgen, die für die Arbeit mit den Zielgruppen bestehen, sowie den Handlungsformen, die das jeweilige Berufsfeld als konstituierenden Rahmen zur Verfügung stellt“ (Palloks 2009, S. 271). Übertragen auf das Thema (Neo-)Salafismus würde der Anspruch einer Verzahnung zwischen Spezialthemen und Regeleinrichtungen der Jugendarbeit bedeuten, das Wissen um (neo-)salafistische Orientierungs- und Handlungsmuster zumindest in Bezug auf eine allgemeine Sensibilität und das berufliche Handeln vom Status eines Sonderthemas zu befreien und grundlegende Standards der Auseinandersetzung zu integrieren. Spezialisierte Ergänzungsstrukturen (wie z. B. spezifische Beratungsangebote) sowie sozialraumorientierte Vernetzung nehmen dabei eine herausragende Rolle ein. Die folgenden Überlegungen versuchen dieser Verzahnung und Bedarfsorientierung gerecht zu werden.
(Neo-)salafistische Orientierungs- und Handlungsmuster als Phänomen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit
Für Roy stellt religiöser Fundamentalismus ein „Phänomen der Exkulturation“ (2011, S. 167) dar. Religiöses Wissen wird demnach aus einem kulturellen Kontext herausgelöst und die Religion auf einen summarischen Kodex von universalistischen Regeln gegründet. Das hat für Roy zur Folge, dass der Beitritt zwar ein individueller freiwilliger Schritt ist, die Gruppierungen aber gleichzeitig und verstärkt mit Verfahren der Exkommunizierung ‚spielen‘, im (Neo-)Salafismus das sogenannte „takfir“. Das Unterscheidungsmerkmal in „Wir“ und „Ihr“ wird zur aktiven Orthopraxie, etwas dazwischen gibt es nicht, denn der Glaube muss eindeutig erkennbar sein. (Neo-)salafistische Milieus sind durch diesen Dogmatismus einer geschlossenen Gesellschaft geprägt, der sich hinsichtlich der Anwendung des „takfir“ unterscheidet. Die dualistische Differenzierung in „Wir“ und „Ihr“ verstärkt und legitimiert religiös begründete Ungleichheitskonstrukte vor dem Hintergrund einer gruppenbezogenen Abwertung von Nichtmuslimen, den sogenannten „Ungläubigen“ (vgl. Clement und Dickmann 2015). Der ausschnitthafte, verkürzte Kontinuitätsbezug zu den sogenannten „as-salaf aṣ-ṣalih“ garantiert diesem subkulturellen Milieu in der Öffentlichkeit sowie in der islamischen Community besondere Aufmerksamkeit.
Die politischen und religiösen Positionierungen und Suchprozesse von Jugendlichen in Einrichtungen der Offenen Jugendarbeit und in der aufsuchenden Jugendarbeit decken eine große Bandbreite ab: Von einem unpolitischen und nicht religiösen Selbstverständnis über unklare Positionen verbunden mit einem Interesse an Politik oder Religion, der Affinität zu einer politischen oder religiösen Überzeugung, politische oder religiöse Selbstdefinitionen bis hin zu politisch oder religiös legitimierten Mustern gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Dazu gehören auch Jugendliche mit (neo-)salafistischen Orientierungs- und Handlungsmustern. Auch hier ist die Bandbreite weit gefächert. Gegenwärtige (neo-)salafistische Orientierungs- und Handlungsmuster konturieren sich im Allgemeinen als Gegenentwurf zum Projekt einer demokratisch verfassten, sozial und kulturell heterogenen Migrationsgesellschaft. Werden diese Muster als „Spitze des Eisbergs“ aufgefasst, dann müssen auf politischer Ebene offensive Auseinandersetzungen, insbesondere über sozial-, bildungs- und integrationspolitische Ermöglichungsbedingungen von (Neo-)Salafismus einsetzen.
1 Zur Entstehung der akzeptierenden Jugendarbeit
Das Konzept einer akzeptierenden Jugendarbeit wurde von Franz Josef Krafeld als Versuch entwickelt, einen niederschwelligen sowie lebenswelt- und beziehungsorientierten Zugang zu Jugendcliquen mit einer rechtsextremen Orientierung in Bremer Stadtteilen zu erhalten. Hervorgegangen ist das Konzept aus einem Projekt an der Hochschule Bremen, dessen Ziel es war, den Aufbau eines Bürger- und Sozialzentrums im Stadtteil Huchting zu unterstützen und zu begleiten. In der Sozialraumanalyse wurde festgestellt, dass das Gelände, auf dem das neue Zentrum errichtet werden sollte, gar nicht so unbenutzt war, wie vermutet wurde. Auf dem Gelände traf sich regelmäßig eine Jugendclique, die mit rechtsextremen Äußerungen und Praktiken auffällig geworden war (vgl. Krafeld 1996, S. 46).
Darüber hinaus entwickelte sich im Stadtteil Mahndorf und in der Straßensozialarbeit in Horn-Lehe ab 1988/1989 eine cliquenorientierte, aufsuchende Jugendarbeit, die den Grundstein für eine akzeptierende Jugendarbeit legte. Die konzeptionelle Entwicklung wurde durch eine wissenschaftliche Begleitforschung komplettiert. Durch die Gründung des „Vereins zur Förderung Akzeptierender Jugendarbeit“ (VAJA) im Juli 1992 setzte eine Professionalisierung und Verstetigung ein (vgl. Krafeld 1996, S. 62–63). Schnell stieß der akzeptierende Ansatz auf bundesweites Interesse und es wurden Versuche unternommen, das Konzept insbesondere im Zusammenhang mit dem „Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt“, in ostdeutsche Kontexte zu transferieren.
Grundlegende Kritik am akzeptierenden Ansatz
Von Beginn an wurde der Ansatz der akzeptierenden Jugendarbeit sowohl in der (Fach-)Öffentlichkeit als auch in der Politik kontrovers diskutiert. Die Kritikpunkte waren, dass der Ansatz auf pädagogisch nicht angemessenen Prämissen basiere, das Phänomen Rechtsextremismus entpolitisiere und das Risiko nicht ausgeschlossen werden könne, Rechtsextremismus zu stabilisieren, anstatt einzudämmen (vgl. Krafeld 2007, S. 305–308).
Es wurde also befürchtet, akzeptierende Jugendarbeit enthalte das Risiko, Rechtsextremismus, Gewalt und sogenannte „national befreite Zonen“ zu unterstützen und zu fördern. Mit Beginn des „Aktionsprogramms gegen Aggression und Gewalt“, mit dem die Bundesregierung ab 1992/1993 auf Pogrome, wie etwa in Hoyerswerda und Rostock reagierte, kam es zum Eklat, als bekannt wurde, „dass in Projekten (…) Sozialarbeiter mit rechtsextremer Gesinnung beschäftigt wurden (…)“. (IDA o. J., S. 3). So lautete der Vorwurf, der Ansatz befördere die Logik der „Kumpanei“ und eine Rekrutierungsbasis für rechtsextremistische Akteure. Es wird davon berichtet, dass Rechtsextremisten „ein Jugendzentrum [bekamen] und Rechtsrock-Bands Übungsräume. Teilweise leisteten SozialarbeiterInnen logistische Unterstützung, indem sie ihr Klientel mit dem Bus zu Kameradschaftstreffen fuhren oder in lokalen Verteilungskämpfen finanzielle Mittel auf Kosten andersgesinnter Jugendlicher erstritten“ (IDA o. J., S. 4).
Krafeld und weitere Vertreter (vgl. Scherr 2007, S. 330) haben wiederholt darauf hingewiesen, dass weniger das Konzept einer akzeptierenden Jugendarbeit problematisch sei, sondern seine unreflektierte und teilweise naive Übertragung. Auch sei der Ansatz einer akzeptierenden Jugendarbeit als Deckmantel für die Ausblendung politischer Aspekte missbraucht worden. „Seither wird von ‚akzeptierender Jugendarbeit‘ ganz häufig ausgerechnet dort geredet, wo auf den Abbau rechtsextremistischer Orientierungen und entsprechender Gewaltbereitschaft verzichtet oder kein Gewicht gelegt wird (…)“ (Krafeld 2001, S. 277; zitiert nach IDA o. J., S. 7; Hervorhebung im Original). Vor dem Hintergrund dieser Debatte führt Krafeld ab 2000 den Begriff der Gerechtigkeitsorientierung als Wertebasis in die akzeptierende Jugendarbeit ein, um die pädagogische wie politische Dimension des Problemzusammenhangs zu betonen und stärker zu berücksichtigen (vgl. 2000, S. 266–268).
2 Grundsätze und Handlungsansätze akzeptierender Jugendarbeit mit Jugendlichen mit (neo-)salafistischen Orientierungs- und Handlungsmustern
Bisher ist deutlich geworden, dass der Begriff der Akzeptanz bzw. des Akzeptierens dazu zwingt, genauer zu differenzieren. Denn mit dem Ansatz prallen gegensätzliche Verständnislinien aufeinander, Krafeld spricht hier von einem „paradoxen Ebenenwechsel“ (1998, S. 44). Eine ähnliche Ambivalenz haftet dem Milieubegriff an: „Milieugeborgenheit und -zusammenhalt darf nicht auf kosten anderer gehen (…)“ Böhnisch (1997, S. 84).
Die Fokussierung auf die Ausbreitung von Rechtsextremismus und Gewalt in der Gesellschaft impliziert die Forderung, „daß man das nicht akzeptieren darf, was da passiert (…). Und das stimmt ja auch! – Wer dagegen Jugendliche im Blick hat, die mit rechtsextremistischen Orientierungen und Gewalt auffallen, der muß von der erwähnten sozialarbeiterischen Grundregel ausgehen, daß man ‚die Klienten dort abholen muß, wo sie stehen‘“ Böhnisch (1997, S. 43; Hervorhebung im Original). Im Sinne Krafelds heißt Akzeptieren dreierlei: Erstens verlangt eine Jugendarbeit, die das Akzeptieren betont, Fachkräfte mit sehr gegensätzlichen Auffassungen und Verhaltensweisen und eben nicht nach „gleichgesinnten Nationalsozialarbeitern“ Böhnisch (1997, S. 45). Zweitens heißt es, den Blick nicht auf politische oder religiöse Orientierungen und Verhaltensweisen zu fixieren ‚die ich überhaupt nicht akzeptieren kann‘, sondern sich als Personen füreinander zu interessieren und aufeinander einzulassen – Akzeptieren stellt keine Einbahnstraße dar. Drittens begreift eine akzeptierende Jugendarbeit die Orientierungsmuster und Verhaltensweisen der Jugendlichen „als deren subjektiv geleitete Versuche, sich in ihrer Welt zurechtzufinden und Wege zu entfalten, aus dem eignen Leben etwas zu machen. (…) Ihre dabei entwickelten Auffassungen und Verhaltensweisen holen sie sich fast durchweg aus der Gesellschaft“ Böhnisch (1997, S. 46).
Akzeptieren umschreibt schließlich einen niederschwelligen Zugang zu einem Jugendmilieu, ist also vor allem auch eine Methode einer lebenswelt-, cliquen- und milieuorientierten Ansprache von Jugendlichen.
„Es geht um Probleme dieser Jugendlichen, nicht um Probleme, die sie machen“ – zentrale Grundsätze akzeptierender Jugendarbeit
Die angesprochene Grundregel, Jugendliche dort abzuholen, wo sie stehen, basiert darauf, dass „sie irgendwann auch woanders ankommen“ (Krafeld 2007, S. 309). Für die Jugendarbeit mit Jugendlichen mit rechtsextremen Orientierungs- und Handlungsmustern – und dies gilt gleichermaßen für Jugendliche in (neo-)salafistischen Milieus – heißt dies zunächst davon auszugehen, dass jene milieuspezifischen Orientierungs- und Handlungsmuster vielen Jugendlichen im Moment subjektiv überzeugendere Orientierungen und Zugehörigkeitsgefühle bieten als andere Orientierungsmuster. Böhnisch hebt im Hinblick auf Jugendliche, die zur Lebensbewältigung und Sozialisation auf den sozialen Nahraum sowie die Jugendclique angewiesen sind, den Aspekt der Milieubindung hervor. „Milieustrukturen sind durch intersubjektive, biografische und räumliche Erfahrungen charakterisiert und als solche hoch emotional besetzt. Milieubeziehungen bestimmen (…) die Lebensbewältigung, strukturieren das Bewältigungsverhalten bei psychosozialen Belastungen und in kritischen Lebensereignissen“ (Böhnisch 1997, S. 84). In Milieus formieren sich Normalität ebenso wie soziale Ausgrenzung, d. h. es „entwickeln sich Deutungsmuster bezüglich dessen, was konform und was als abweichend gelten kann“ (Böhnisch 1997, S. 84). Dies impliziert für Krafeld, dass sich Menschen meist nur dann ändern, „wenn es subjektiv für sie Sinn macht, das heißt: wenn sie selbst sich etwas davon versprechen“ (Krafeld 2007, S. 309; Hervorhebungen im Original).
Krafeld und seine Studierendengruppe gingen nun davon aus, dass „die Entfaltung von Jugendszenen und Jugendkulturen gerade heute in einer Phase gesellschaftlicher Erosionen und Umbrüche den wohl deutlichsten, im Lebensalltag von Jugendlichen praktisch werdenden Versuch darstellt, sich subjektgeleitet gesellschaftliche und soziale Wirklichkeit handelnd anzueignen“ (Heim et al. 1992, S. 71). Diese Annahme geht auf den durch Heitmeyer geprägten individualisierungs- und modernisierungstheoretischen Erklärungsansatz von Extremismus zurück. „Der Individualisierungsdruck ist gesellschaftlich, die Suche nach neuen sozialintegrativen Mustern eher vom Subjekt und seiner biografischen Befindlichkeit geprägt“ (Böhnisch 1997, S. 83). Krafeld spricht hier von einer geschichtlichen Situation, „in der sich das Aufwachsen nicht mehr selbstverständlich in einer kalkulierbaren Abfolge von Sozialisations-, Bildungs- und Ausbildungsinstanzen vollzieht“ (Krafeld 2007, S. 307). Die Berücksichtigung der milieubildenden Struktur von Jugendcliquen ermöglicht nicht nur eine Reflexion der aktuellen Lebenswelt der Jugendlichen, sondern auch des Spannungsfeldes zwischen unterschiedlich geschichteten radikalisierungsbegünstigenden Faktoren. Frindte et al. 2016 zeigen, dass individuelle Radikalisierungsverläufe einem multifaktoriellen Bedingungsgefüge unterliegen. Theoretisch und empirisch verdeutlichen die Autoren dies anhand einer sozialpsychologischen und soziologischen Mehrebenenanalyse hinsichtlich makro-, meso- und mikro-sozialer sowie individueller.
Krafeld et al., die sich hier auf Möller beziehen, postulieren, dass Jugendarbeit mit rechtsextremen Jugendlichen deren Stile, Rituale und Symbolpraktiken entsprechend als provokativen Charakter in ihren oft ungelenkten „Formulierungen eines diffusen sozialen Protestes gegen eine empfundene Perspektivlosigkeit des Daseins“ (Heim et al. 1992, S. 67) wahrzunehmen hat. El-Mafaalani analysiert (Neo-)Salafismus in einer ähnlichen Weise als eine Jugendsubkultur, die im Ergebnis als ein Wechselspiel zwischen dem jugendphasentypischen Bedürfnis nach jugendkultureller Provokation einerseits sowie der Abgrenzung von der Eltern- und Erwachsenengeneration andererseits, verstanden werden kann (vgl. 2014, S. 355 ff.) Bohnsack, der bei Bourdieu anknüpft, beschreibt diese adoleszenzspezifischen Prozesse als eine „Suche nach habitueller Übereinstimmung“ (2014, S. 64). Krafeld et al. sprechen daher „von ‚Jugendarbeit in rechten Jugendcliquen‘, um die in deren Cliquen gängigen Alltagsgestaltungs-, Orientierungs- und Lebensbewältigungsmuster skizzierend einzuordnen, ohne gleich substantielle Bewertungen und Beurteilungen damit zu implizieren, die das Verhältnis zu solchen Jugendlichen vordefinieren“ (1992, S. 71; Hervorhebung im Original).
Zielformulierungen akzeptierender Jugendarbeit
Akzeptierende Jugendarbeit wird grundlegend von zwei Hypothesen, die gleichsam die zentralen Zielformulierungen darstellen, getragen: Dass „mit wachsenden Integrations- und Selbstentfaltungschancen durchweg auch Bereitschaften und Fähigkeiten zu sozialverträglichen Verhaltensweisen zunehmen, und daß mit wachsenden Kompetenzen und Möglichkeiten zu entfaltender Lebensbewältigung auch die Bedeutung rechtextremistischer Deutungsmuster abnehmen“ (Heim et al. 1992, S. 72–73). Dazu dient nicht zuletzt die in den akzeptierenden Ansatz eingebettete personale Konfrontation mit dem „tiefgreifenden Anderssein, die wir ihnen bieten. Wir treten nicht als Besserwisser und Zurechtweiser auf, sondern als Personen mit anderen Grundhaltungen, Wertorientierungen und Verhaltensweisen, mit anderen Vorstellungen und Mustern der Alltags- und Lebensbewältigung.“ (Krafeld 1996, S. 15. Zum konfrontativen Ansatz siehe Toprak/Weitzel in diesem Band). Die Veränderung riskanter, gewaltbereiter und menschenfeindlicher (neo-)salafistischer Orientierungs- und Handlungsmuster wird nicht als Bedingung, sondern als Ziel eines pädagogischen Prozesses verstanden.
VAJA beschreibt die Ziele akzeptierender Jugendarbeit als die Sicherung der Distanz bzw. die Förderung von Distanzierungsprozessen gegenüber rechtsextremen und menschenfeindlichen Orientierungen. Dazu gehören u. a. eine
verlässliche und emotional positive Beziehung zu den Eltern, (…) sinnstiftende Schulerfahrungen mit der Möglichkeit zum Aufbau von Selbstwert, (…) politische und gesellschaftliche Teilhabemöglichkeiten, (…) extremismus-, ausgrenzungs-, und gewaltdistanzierende Haltungen des sozialen Umfelds, u. a. auch der Peers, (…) die Entdeckung biografisch neuartiger Quellen von Selbstwerterleben und Anerkennung außerhalb rechtsextrem (und menschenfeindlich) geprägter Cliquen (…) (VAJA 2007, S. 5).
Diese Zielformulierungen unterstreichen die These, dass menschenfeindliche Orientierungen „nur dann adäquat bearbeitbar [sind], wenn man sie als Prozessmomente und Resultate von Lebensgestaltungsversuchen ansieht“ (VAJA 2007, S. 5.). D. h., die grundsätzliche Klärung der aktuellen Lebenssituation und eine aussichtsreiche Bearbeitung existenzieller Notlagen „sind in der Regel Voraussetzung, um politische Einstellungen und Verhaltensweisen überhaupt thematisieren und konstruktiv bearbeiten zu können“ (VAJA 2007, S. 20). So verstanden, richtet sich das Projekt JamiLFootnote 2 mit seiner Jugendarbeit an „Jugendliche und junge Erwachsene, die sich in religiösen Hinwendungsprozessen zum Islam befinden. Diese Jugendlichen stehen in einer Auseinandersetzung mit Fragen von Identität, Glaube und Zugehörigkeit und sympathisieren dabei möglicherweise mit dem Gedankengut des politischen oder dschihadistischen Salafismus“ (JamiL und VAJA o. J.).
Somit entfaltet eine akzeptierende Jugendarbeit mit Jugendlichen in (neo-)salafistischen Milieus dann eine präventiv-deradikalisierende Wirkung, wenn sie auf die Orientierungs- und Sinnsuche von Jugendlichen eingeht. Dabei darf sie Diskurse über Religiosität und soziale Anerkennung nicht ausklammern und muss die Jugendlichen sowohl in ihrer Subjektwerdung als auch bei ihrer Lebensbewältigung unterstützten.
Handlungsebenen und Handlungsansätze akzeptierender Jugendarbeit
Die folgenden vier zentralen Handlungsebenen, die nicht isoliert voneinander bearbeitet werden sollten, charakterisieren für Krafeld die akzeptierende Jugendarbeit: Das Angebot sozialer Räume, die Beziehungsarbeit, die Akzeptanz bestehender Gruppen sowie die lebensweltorientierte infrastrukturelle Arbeit (vgl. 1996, S. 17 ff.). Die letztere Handlungsebene wurde zu einer „einmischenden Jugendarbeit“ weiterentwickelt, die stärker das zivilgesellschaftliche Umfeld betont und einbezieht (vgl. Krafeld 2007). Die sozialintegrative und bildungstheoretische Anerkennung des Jugendlichen als Subjekt durchzieht die vier Handlungsebenen und die sich daraus ergebenen Handlungsansätze. Diese Subjektwerdung wird durch die Zugehörigkeit zu wichtigen gesellschaftlichen Teilsystemen und sozialen Einheiten, durch die Partizipation an den von ihnen zur Verfügung gestellten Ressourcen und an öffentlichen Diskurs- und Entscheidungsprozessen sowie durch die Anerkennung als gesellschaftlich relevantes Subjekt und als Persönlichkeit, die als Individuum wertgeschätzt wird, erreicht.
Wie lassen sich die bisherigen theoretischen Anknüpfungspunkte und Grundsätze akzeptierender Jugendarbeit in der pädagogische Praxis umsetzen?
Sozialraumorientierte, infrastrukturelle Vernetzung
Ausgehend von der vierten Handlungsebene einer lebensweltorientierten infrastrukturellen Arbeit ist die akzeptierende Jugendarbeit stark von einer Sozialraum- und Ressourcenorientierung geprägt. Es kann aktuell beobachtet werden, dass Regeleinrichtungen (Jugendarbeit, Schule) mit spezialisierten Modellprojekten/Sonderprogrammen („JamiL“, „180 Grad Wende“ u. v. m.) sowie Beratungsangeboten (z. B. die „Wegweiser“-Beratungsstellen des Verfassungsschutzes des Landes NRW) immer enger kooperieren. Zum einen wird ein interdisziplinärer Fachaustausch und Wissenstransfer angestrebt, zum anderen können einzelne Fälle gemeinsam erörtert oder, wie zurzeit in Bonn erprobt wird, im Rahmen einer sogenannten Fallkonferenz lösungsorientiert besprochen werden.
Die akzeptierende Jugendarbeit versteht sich als Lobbyist für Jugendliche im Gemeinwesen. Dort, wo die Probleme, die die Jugendlichen haben, aus dem Blickfeld geraten, muss sich Jugendarbeit dafür einsetzen, diese Probleme in den Mittelpunkt zu rücken. Dies schließt ein, Vertretern der Politik, Verwaltung und der Polizei das professionelle Akzeptanz- und Beziehungsverhältnis als notwendige Dispositionen für die pädagogische Arbeit mit diesen Jugendlichen zu erläutern, ebenso die Aufklärung über aktuelle Lebenswelten von Jugendlichen, verbunden mit dem Ziel diese zu nachhaltig zu verändern.
Cliquenarbeit, Gruppenangebote und Einzelfallhilfe
Akzeptierende Jugendarbeit findet sozialraumbezogen oder auch sozialraumübergreifend statt, einerseits wo ein besonderer Bedarf der Jugendlichen an einer Auseinandersetzung mit Fragen des Glaubens, der Identität und Zugehörigkeit besteht, und andererseits dort, wo soziale Desintegration und milieubedingte Normalisierungsprozesse menschenfeindlicher Orientierungen besonders gefährden. „Die Straßensozialarbeit von JamiL folgt dabei der Mobilität der Jugendlichen an ihren Treffpunkten in den Stadtteilen und begleitet sie in ihrem Freizeitverhalten“ (JamiL und VAJA o. J.). Die Grundlage für diese Arbeit ist Beziehungsarbeit, die als personales Angebot verstanden wird. Für Krafeld ergibt sich, dass inhaltsvolle Gespräche nur dann stattfinden können, „wenn dabei vorrangig persönliche Begegnung, persönlicher Austausch stattfindet. Die Jugendlichen wollen Meinungen und Auffassungen von vertrauten Personen kennenlernen, um daraus Anregungen und Anstöße für sich zu ziehen. Nicht um sachbezogenes Überzeugen, sondern um personenbezogenen Austausch geht es hier also vorrangig“ (Krafeld 1996, S. 18).
Akzeptierende Jugendarbeit kann Einzelfallhilfe, d. h. die ressourcenorientierte Unterstützung einzelner Jugendlicher bei Problemen in verschiedenen Lebensbereichen (etwa in Schule, Ausbildung oder im familiären Umfeld), ebenso wie eine freizeit-, sport- und erlebnispädagogische Adressierung von Jugendcliquen beinhalten. Insbesondere, wenn sich das Angebot einer akzeptierenden Jugendarbeit, an dem die Jugendlichen auf freiwilliger Basis teilnehmen, aus Sicht der Jugendclique (schließlich) als Freizeit- und Sozialisationsinstanz bewährt und subjektiv Sinn macht, wird ihr auch zunehmend Offenheit im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit menschenfeindlichen Orientierungs- und Handlungsmustern und deren Reflexion entgegengebracht. Nach Krafeld ist es diesbezüglich wichtig, „das eigene Funktions- und Aufgabenverständnis durchsichtig zu machen [und] die Jugendlichen immer wieder damit vertraut zu machen, daß wir andere Umgehensweisen und Konfliktregelungsmuster verwenden als sie – und daß wir diese auch vergleichsweise für geeigneter halten“ (1996, S. 27).
Daraus lässt sich schlussfolgern, dass neben der Adressierung der Jugendclique mit pädagogischen Angeboten, eine akzeptierende Jugendarbeit ebenfalls aktionsoffene soziale Räume ermöglichen sollte, die informelle Bildungsprozesse beinhalten. Mit dem Ansatz der Peer-Edukation, basierend u. a. auf dem cliquenorientierten Muster, wird der Aufbau eines solchen informellen Angebots gegenseitiger Peer-to-Peer-Unterstützung, Freizeitgestaltung und Einflussnahme unter Gleichaltrigen ermöglicht, auf das pädagogische Fachkräfte im Sinne eines modifizierten Rollenverständnisses zurückgreifen können (vgl. Clement und Dickmann 2015).
Aus der Arbeit mit Jugendcliquen erwächst darüber hinaus die Chance mit einzelnen Jugendlichen im Rahmen einer beziehungsorientierten Einzelfallhilfe zusammenzuarbeiten, um biografisch neuartige Bewältigungsmechanismen und äquivalente Anerkennungs- und Zugehörigkeitsmomente zu ermöglichen und gemeinsam zu entwickeln. Nicht selten geht dieser Einzelfallhilfe eine cliquenorientierte, mehrmonatige Kontakt- und Vertrauensphase voraus. Eventuell wird dabei ein Bedarf nach weiteren Hilfen der Jugendhilfe (sogenannte Hilfen zur Erziehung, §§ 27 KJHG) erkannt und im Familiensystem thematisiert.
Projekt- und Stadtteilarbeit sowie das Angebot neuer äquivalenter sozialer Räume
(Neo-)salafistische Orientierungs- und Handlungsmuster weisen einen integrativen Charakter auf. Vor diesem Hintergrund setzen nun Versuche einer ressourcenorientierten (Re-)Integrationsarbeit ein: „Junge Erwachsene sollen sich als Teil ihres Stadtteils und ihrer gesellschaftlichen Umgebung integriert, eingebunden und wertgeschätzt fühlen können“ (JamiL und VAJA o. J.). Jugendarbeit kann dazu beitragen, „solch ein zivilgesellschaftlich lebendiges Umfeld mit einer wachsenden Attraktivität von Vielfalt zu fördern“ (Krafeld 2007, S. 308). Durch stadtteilbezogene oder jugendpolitische Partizipationsprojekte werden neue soziale Räume und demokratische Milieus ermöglicht, in denen die Jugendlichen an demokratischen und alltagsnahen Entscheidungsprozessen teilnehmen. Akzeptierende Jugendarbeit erhält dann eine milieuvermittelnde Funktion, sowohl innerhalb der Jugendclique als auch zwischen Jugendclique und Erwachsenenwelt. Laut Sturzenhecker werden damit „klassische Formulierungen eines emanzipatorischen Bildungskonzepts aufgegriffen. Da Bildung nicht isoliert individuell, sondern im sozialen, gesellschaftlichen Zusammenhang entsteht, muss Bildung also auch die Mitverantwortung und Mitgestaltung der Gesellschaft und des sozialen Gemeinwesens beinhalten“ (2008, S. 152).
Wissenstransfer, Weiterbildung und Elternarbeit
In den Vorgängerprojekten des aktuellen Bundesprogramms „Demokratie leben!“ (Kurztitel) hat sich gezeigt, dass Angebote und Maßnahmen dann Aussicht auf Erfolg haben, wenn sie in den Alltag pädagogischer Regeleinrichtungen und Angebote einfließen und dort Nachhaltigkeit entfalten. Eine Vielzahl der damaligen sowie aktuellen Modellprojekte legen daher bewusst den Schwerpunkt auf die Fortbildung und Qualifizierung von pädagogischem Personal, das in der Regel bereits ein professionelles Beziehungs- und Vertrauensverhältnis entwickelt hat, sodass eine Einflussnahme auf Sozialisationsbedingungen möglich ist (vgl. Palloks 2009, S. 270 f.). Eine enge Kooperation und die Entwicklung von integrierten Konzepten zwischen Regeleinrichtungen und Ergänzungsstrukturen ermöglichen die Erweiterung beruflicher Handlungskompetenzen und die Vergrößerung der Wissensbasis.
„Ähnlich wie bei dem pädagogischen Personal ist auch im Hinblick auf Eltern das Bewusstsein dafür gestiegen, diese im Rahmen pädagogischer Projekte ebenfalls anzusprechen, um kontraproduktive Einflüsse durch die Elternhäuser zu vermeiden“ (Rieker 2007, S. 301).
3 Prozesse wahrnehmen, um Grenzen zu setzen
In der akzeptierenden Jugendarbeit werden Grenzziehungen als Entwicklungsprozesse zwischen der auf Akzeptanz beruhenden Beziehungsarbeit einerseits und dem Risiko, dass Normalisierungs- und Instrumentalisierungseffekte menschenfeindlicher Orientierungen einsetzen oder sich verstetigen könnten, andererseits reflektiert.
Krafeld zufolge ist das Bedürfnis nach eindeutigen und unverrückbaren Grenzziehungen häufig wirklichkeitsfremd, was nicht heißt, dass es keine Grenzziehungen geben soll (vgl. Krafeld 1992a, S. 185). Eine Grenzziehung sollte erfolgen,
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„wo konkret eine deutliche körperliche oder eine tief greifende psychische Verletzung ansteht,
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wo ein deutliches Risiko besteht, daß man selbst als Deckung oder zur Unterstützung bei rechtswidrigen Aktivitäten instrumentalisiert wird,
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wo Akzeptanz zur Einbahnstraße verkommt, also einem selbst, den eigenen Vorstellungen und Maßstäben gegenüber, keine ausreichende Akzeptanz entgegengebracht wird,
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wo einem eine Kumpelrolle abverlangt wird, die nicht die nötige Rollendistanz zuläßt,
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wo problematische Handlungsweisen zu Widerholungsritualen verkümmert sind und dadurch auf ein Senken der Akzeptanzgrenze drängen,
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wo gezielt rechtsextremistische politische oder politisch-propagandistische Wirkungen beabsichtigt sind“ (Krafeld 1996, S. 28).
In der akzeptierenden Jugendarbeit erleben die pädagogischen Fachkräfte aus dem Modellprojekt JamiL, dass „Jugendliche und junge Erwachsene, die sich in religiösen Hinwendungsprozessen befinden und auf der Suche nach Antworten sind, ein soziales Umfeld [benötigen], dem sie vertrauen und in dem sie ihre Gedanken frei äußern dürfen“ (JamiL und VAJA o. J.).
Vor diesem Hintergrund gelangt Krafeld zu dem Ansatz, dass die Grenzziehungen „jedenfalls nicht so eng gefaßt sein [dürfen], daß sie gängige, wesentliche oder gar zentrale Lebensäußerungen, Verhaltensstile, Symbole oder Rituale der jeweiligen Jugendcliquen abschneiden und ausgrenzen – welche auch immer das sein mögen: Grenzziehungen dürfen erst um etliches jenseits des Wesenskerns einer Clique beginnen“ (1992b, S. 186). Ferner vertritt Krafeld die Auffassung, dass Grenzen gezogen werden, ohne dabei Jugendliche auszugrenzen und ohne dass sie durch Cliquen hindurch verlaufen. Dies gilt insbesondere für eine aufsuchende Jugendarbeit, die stärker als die einrichtungsbezogene Jugendarbeit cliquen- und szeneorientiert ausgerichtet ist.
Die Haltung des Verstehenwollens
Für pädagogische Fachkräfte in der Jugendarbeit ergibt sich kontinuierlich die Notwendigkeit hinsichtlich der Beobachtung und Beurteilungen von wahrgenommenem Verhalten. Diesbezüglich können Erfahrungs- und Wissensdefizite festgestellt werden: Pädagogische Fachkräfte stehen vor der Aufgabe, zwischen selbstbestimmter Religionsausübung und subjektivierter Religiosität von (muslimischen) Jugendlichen einerseits und (neo-)salafistischen Orientierungs- und Handlungsmustern bzw. Hinwendungsprozessen andererseits zu differenzieren.
Als Haltungs- und Handlungskompetenz tritt Köttig daher für eine genaue Wahrnehmung einzelner Jugendlicher und deren Bezugsgruppen sowie für die Befremdung des eigenen Arbeitsfeldes ein. Sie plädiert dafür, den Handlungsdruck in Bezug auf die Bereitstellung von Angeboten zu reduzieren, um „zunächst einmal herauszufinden, welche politischen Handlungs- und Orientierungsmuster in der Gruppe vertreten sind“ (Köttig 2008, S. 265). Pädagogische Fachkräfte sollen ihr Arbeitsfeld bewusst befremden, um sich dabei als „Lernender zu begreifen, der in einen für ihn fremden Gesellschaftsausschnitt auf abgekürzte Weise partiell sozialisiert wird – dies im Sinne des Einwanderers, der sich in einer fremden Gesellschaft zurechtfinden muss“ (Schütze 1994, S. 223; zit. n. Köttig 2008, S. 266).
„Es ist anzunehmen, dass Betreuende in der Offenen Jugendarbeit davon ausgehen, ihre Gruppe und das, was dort geschieht, gut zu kennen. Aus dieser vermeintlichen Vertrautheit des Feldes folgt in der Regel, dass die Bedeutung von Ereignissen oft vorschnell in bisherige Zuordnungsschemata eingeordnet und damit erklärt wird“ (Köttig 2008, S. 266). Die Haltung des Verstehenwollens soll dieser vorschnellen Interpretation und Wahrnehmungsverzerrung entgegenwirken. Dadurch entsteht Raum für Fragen und Reflexionen zu einem wahrgenommenen Phänomen.
Ausschluss aus dem Jugendzentrum
In ihrer Untersuchung kam Köttig zu dem Ergebnis, dass es Jugendlichen, die sich eindeutig dem rechtsextremen Spektrum zuwenden, in der Regel gelingt, Angebote der Jugendarbeit in ihrem Sinne zu nutzen und auch ihre Ziele umzusetzen. „Das jedoch erkennen die Mitarbeiter/innen (…) oft nicht, sondern gehen davon aus, dass ihre Arbeit gegen rechtsextremistische Tendenzen gerichtet ist“ (2008, S. 262). Die Folge ist dann, dass sich rechtsextremistische Orientierungen und Handlungsweisen weiter ausbreiten, daher empfiehlt Köttig, stärker mit einem Ausschluss von der Jugendarbeit zu arbeiten, um einer strategischen Funktionalisierung zu entgehen. „Im Hinblick auf den Umgang mit eindeutig rechtsextremen Jugendlichen und solchen, die die Offene Jugendarbeit strategisch für ihre Zwecke nutzen“ (ebd.), liegt für Köttig die Handhabe für die pädagogischen Fachkräfte vorwiegend in der Schadensbegrenzung.
Dies kann auch für die Jugendarbeit mit Jugendlichen mit (neo-)salafistischen Orientierungs- und Handlungsmustern gelten, insbesondere wenn Jugendliche wiederholt artikulieren, dass sie nicht an einer Jugendarbeit und pädagogischen Beziehungsarbeit interessiert sind, wenn sie sich abkapseln und versuchen andere Jugendliche gezielt zu agitieren bzw. zu rekrutieren und wenn menschenfeindliche Orientierungen und Handlungen den Alltag der Jugendarbeit immer mehr einnehmen und die Jugendarbeit zur Bühne für diese Ansichten verkommt. Dort, wo Jugendliche aus der Jugendarbeit ausgeschlossen werden, muss reflektiert werden, dass das Beziehungs- und Vertrauensverhältnis höchstwahrscheinlich abbricht.
4 Fazit
Es ist deutlich geworden, dass eine an den Alltags- und Lebenswelten der Jugendlichen orientierte akzeptierende Jugendarbeit eine Reflexion des Phänomens der Religion bzw. eine hermeneutische Sicht auf religiöse Orientierungs- und Handlungsmuster erfordert. Es geht also nicht darum, eine substanzielle Definition von Religion abzuliefern, sondern die Jugendarbeit muss sich auf die Funktionen der Religion beziehen. Vor diesem Hintergrund, so die These, müssen pädagogische Fachkräfte sowohl biografische Identitätsbildungsprozesse, adoleszenzspezifische Milieuorientierungen von Jugendlichen und subjektive, individuelle Aneignungsprozesse von Religion, als auch Problemlagen und Krisen in den Alltagswelten von Jugendlichen und die sich möglicherweise daraus ergebenden Radikalisierungs- bzw. Hinwendungsprozesse zu menschenfeindlichen, (neo-)salafistischen Orientierungsmustern reflektieren und in diesem Kontext pädagogisch intervenieren.
Notes
- 1.
Ceylan und Kiefer 2013, die sich auf den Neofundamentalismus-Begriff von Roy beziehen, haben den Begriff des Neo-Salafismus eingeführt. Die Verwendung, wie hier vorgeschlagen, des Arbeitsbegriffs „(neo-)salafistische Orientierungs- und Handlungsmuster“ scheint für eine pädagogische Praxis bislang geeignet zu sein, da diese Begriffsverwendung das Prozesshafte sowie das Suchende von Erklärungs- und Einstellungsmustern von Jugendlichen in den Vordergrund rückt. Eine andere, wenn auch verwandte, Begriffsverwendung haben Clement und Dickmann vorgeschlagen: Sie sprechen, in Anlehnung an Krafeld, von einer Jugendarbeit mit Jugendlichen in neo-salafistischen Gruppen (vgl. 2015, S. 71 ff.). Des Weiteren werden Hinwendungsprozesse zum Phänomen des Neo-Salafismus im Folgenden vor der Theorie der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit eingeordnet und bieten daher die Möglichkeit einer Vergleichbarkeit mit dem Phänomen des Rechtsextremismus.
- 2.
Das Modellprojekt JamiL (Jugendarbeit in muslimischen und interkulturellen Lebenswelten) wird durch das Bundesprogramm „Demokratie leben!“ (Kurztitel) gefördert und in Trägerschaft des Vereins VAJA durchgeführt.
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Clement, D.Y. (2017). Akzeptierende Jugendarbeit mit Jugendlichen mit (neo-)salafistischen Orientierungs- und Handlungsmustern. Theoretische Reflexionen zu pädagogischen Voraussetzungen. In: Toprak, A., Weitzel, G. (eds) Salafismus in Deutschland. Edition Centaurus – Jugend, Migration und Diversity. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-15097-6_11
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