Zusammenfassung
Die Bühnen der Neuzeit werden also durch die Inszenierungen des seiner selbst bewussten Individuums beherrscht und die entstehende Psychologie steht im Bann dieses Individuums. Dies kann natürlich nicht verwundern, denn sie ist ja die Wissenschaft vom Individuum. Aber sie wird diese Wissenschaft in einem spezifischen Sinne und lässt mögliche Alternativen ungenutzt. Der von Michel de Montaigne begonnene Weg ist zwar immer wieder aufgenommen worden, hat sich aber nie zur Dominanten des disziplinaren Selbstverständnisses der Psychologie entwickeln können. Am Ende des 18. Jahrhunderts hatte etwa mit seinem autobiographisch-psychologischen Roman „Anton Reiser“ und mit seinem Journal „Magazin zur Erfahrungsseelenkunde“ die psychischen Problemlagen des sich in einer neuen gesellschaftlichen Ordnung suchenden bürgerlichen Individuums ins Zentrum gerückt: Diese Werke stellen Sammlungen authentischer Lebens- und Erfahrungsberichte sozialer Außenseiter dar, sie knüpften vor allem an der Lebenssituation jener Mensch, die aus niederen Ständen in die bürgerliche Intelligenz aufsteigen, kein gesichertes Auskommen erwarten können und für die es ein schmerzlicher Prozess war, die sich neu entwickelnde Individualitätsform zu leben. Die Auflösung der festgefügten ständischen Ordnung schuf ungeheure neue Chancen auf eine selbstbestimmte Lebensform für Schichten, für die das in der Vergangenheit undenkbar war, aber das Herausgerissensein aus allen traditionellen Bindungen schuf auch leidvolle Situationen der Desorientierung, der Erfahrung, ein Spielball nicht berechenbarer Zufälligkeiten zu sein und dem Sturz ins Bodenlose, der durch kein soziales Netz aufgefangen wurde. Moritz versucht diese psychischen Grunderfahrungen, „das Leiden an der Gesellschaft mit der Unordnung in der Gesellschaft zu erklären“ und diese Einsicht „führt ihn, da eine gesellschaftliche Alternative in rückwärtsgewandter Perspektive nicht mehr überzeugt, eine Überwindung der gerade erst entstehenden bürgerlichen Gesellschaft noch nicht denkbar ist, zur Konzeption einer Immunisierung des Individuums gegen das Leiden, einer Strategie des Überlebens, bis sich mehr Handlungsmöglichkeiten eröffnen“
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Keupp, H. (2016). Die Psychologie betritt die wissenschaftliche Weltbühne. In: Reflexive Sozialpsychologie. essentials. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-12932-3_3
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