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Der Marxist Adorno und die Erziehung zur Aufklärung

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Zusammenfassung

Theodor W. Adornos Sammlung von Vorträgen und Radiogesprächen „Erziehung zur Mündigkeit“ ist jüngst auf Hebräisch erschienen. Im Rahmen des kurzen vorliegenden Artikels möchte ich das Erziehungsideal „Aufklärung“ erörtern, welches Adorno in allen acht, der in der Sammlung enthaltenen Aufsätzen deutlich hervorhebt, ein traditionelles Ideal der bürgerlichen Gesellschaft (das in Kants Schrift von 1784, auf welche sich Adorno selbst beruft, paradigmatisch vorgestellt wird). Warum hat sich Adorno, der marxistische Philolsoph und Soziologe (den man nachgerade als „orthodoxen Marxisten“ sehen darf, der sich an der Auffassung des Proletariats als „Subjekt der Revolution“ hielt) auf den bürgerlichen „Aufklärungswert“ der Mündigkeit als das wichtigste Erziehungsideal, ja auf das wichtigste Gesellschaftsideal schlechthin, bezogen?

In meiner hier vorgetragenen Antwort stütze ich mich u. a. auf Äußerungen Herbert Marcuses, Adornos Kollegen und Freund, im Hinblick auf die systembedingte Aussichtslosigkeit einer marxistischen Befreiungsrevolution in den 1960er-Jahren und in absehbarer Zukunft, und gelange zur Schlussfolgerung, dass die Aufklärung Adornos als eine Art Vermittlungsfaktor diente, eine notwendige (freilich nicht ausreichende) Bedingung, um der Jugend emanzipatorisches Bewusstsein beizubringen, zunächst aber ihren Schullehrern und den sich universitär ausbildenden Anwärtern aufs Lehramt. Aber auch Adornos Auffassung gemäß – wie ich sie deute – will es scheinen, dass die in den Kategorien der petitio principii und des Teufelskreises definierte Sackgasse, in welche die marxistische Befreiungsauffassung (auch in den 1960er-Jahren, und zwar trotz der Studentenrevolte, der Heraufkunft der Neuen Linken etc.) geraten war, auch den Versuch, das sozial-pädagogische Ideal „Aufklärung“ den Erziehern und der Jugend zu vermitteln, wie bereits seinen in der „Dialektik der Aufklärung“ von Max Horkheimer und ihm deutlichen Äußerungen zu entnehmen ist, kennzeichnete.

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Notes

  1. 1.

    Das Absurde leitet sich davon ab, dass der von Archimedes gemeinte „archimedische Punkt“, der Prozesse bewegen kann – in der geistigen wie in der materiellen Welt, wenn ich recht verstehe –, sich außerhalb des Systems befinden muss, gleichsam als „fester Punkt“ für den Antrieb des System selbst. Bei der Aufklärung jedoch, ähnlich wie beim „ego cogito“ Decartes’, wird dieser „feste Punkt“ als im Innern des Systems verortet aufgefasst.

  2. 2.

    Das Absurde, das in Camus’ Denken das Verhältnis im Individuum zwischen der Gewissheit des nahenden Todes und seinem von Wert und Bedeutung bestimmten Daseins (vor dem Hintergrund seines Bewusstseins der Todesgewissheit) kennzeichnet, wird von mir im hier erörterten Zusammenhang auf die emanzipatorische Aktivität von Marxisten im spätkapitalistischen Sein vor dem Hintergrund ihres Bewusstseins des Absurden ihres Kampfes, d. h. der systembedingten Aussichtslosigkeit, ihren Kampf um die Befreiung des Menschen in absehbarer Zukunft zu verwirklichen, angewandt. So gesehen, erfüllen sie das spezifische Verhältnis zum Absurden von Camus: Das Absurde ist eine vom Menschen bestimmte Gewissheit, die er nicht annimmt; „Das Absurde hat nur insoweit einen Sinn, als man sich mit ihm nicht einverstanden erklärt“ (Camus [1942]/1959, S. 36). In einem seiner Vorträge (der im Nachlass publiziert wurde) bezog sich Marcuse auf den emanzipatorischen Kampf im Spätkapitalismus in Kategorien des „Absurden“ im Sinne Camus’ (Marcuse [1968] 1999, S. 111–113).

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Tauber, Z. (2019). Der Marxist Adorno und die Erziehung zur Aufklärung. In: Bittlingmayer, U., Demirović, A., Freytag, T. (eds) Handbuch Kritische Theorie. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-12695-7_78

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