Zusammenfassung
In der Absicht, die weitgehend getrennten und z. T. sogar entgegengesetzten Stränge der Ideologiekritik und Ideologietheorie wieder zusammenzuführen, wird eine Neulektüre der Ideologiekritik der Kritischen Theorie versucht, die sich auf die fruchtbaren Überschneidungen sowie Unterschiede mit ideologietheoretischen Ansätzen im Gefolge von Gramsci, Althusser und dem Projekt Ideologietheorie konzentriert. Das Institut für Sozialforschung hatte das Verdienst, entgegen dem vorherrschenden Marxismus der II. und III. Internationalen an Marxʼ kritischem Ideologiebegriff festzuhalten. Im Unterschied mit der Dialektik der Aufklärung einsetzenden Entwicklung war der frühe Horkheimer stark an den inneren Widersprüchen der ideologischen Werte interessiert. Entgegen einer weitverbreiteter Interpretation war er nicht so sehr von Lukácsʼ totalisierendem Konzept der Verdinglichung beeinflusst, sondern kann eher einer „Praxis-Philosophie“ im Sinne Labriolas und Gramscis zugeordnet werden. Von ca. 1939 an tendierten Horkheimer und Adorno dazu, die überwältigende Hegemonie des US-amerikanischen Fordismus theoretisch zu reproduzieren, indem sie Ideologie und Massenkultur als ein „lückenlos geschlossenes Dasein“ nach Art eines tragischen Schicksals behandelten. Nach ihrer Rückkehr nach Deutschland verkündeten sie 1954 einen Abschied vom Ideologiebegriff, führten aber in Wirklichkeit ihre Ideologiekritik als radikal verallgemeinerte Kritik an „instrumenteller Vernunft“ und „Identitätsdenken“ fort. Zu Recht kritisierte Habermas ihr monolithisches Vernunftkonzept, aber seine Dichotomie von Arbeit und Interaktion, instrumentelle und kommunikative Vernunft beraubte die Kritische Theorie ihres ideologiekritischen Stachels und ebnete den Weg zu ihrer normativen Re-Ideologisierung.
Das Manuskript wurde im Sommersemester 2015 in meinem Blockseminar „Ideologiekritik, Ideologietheorie und Hegemonieanalyse“ am Philosophischen Seminar der FU Berlin diskutiert. Für Kritik und wertvolle Hinweise bedanke ich mich insbesondere bei W. F. Haug, Michael Rahlwes, Max Köhler, Ines Schwerdtner, Daniel Queiser, Janna Hilger, Henrike Kohpeiß, Martin Küpper, Myriel Ravagli und Almut Woller.
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Rehmann, J. (2019). Ideologiekritik. In: Bittlingmayer, U., Demirović, A., Freytag, T. (eds) Handbuch Kritische Theorie. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-12695-7_38
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