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Interdisziplinarität als Induktion – Von Ingenieuren und Philosophen

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Zusammenfassung

Am Anfang dieses Beitrags wurde darauf verwiesen, dass sich die Methode interdisziplinärer Forschung nicht deduktiv am Reißbrett zeichnen lässt. Vielmehr entwickelt sich in einem Prozess des Austausches eine gemeinsame Herangehensweise an den Forschungsgegenstand. Aus den verschiedenen Strängen der Einzelbetrachtung erwachsen Aussagen, die sich interdisziplinär treffen lassen können. Im Falle der Oberflächenlagerung und dieser zunächst bidisziplinären, ingenieurwissenschaftlichen und philosophischen Auseinandersetzung lassen sich die Wechselwirkungen interdisziplinären Arbeitens induktiv erkennen. Beide Disziplinen tauschen ihre Gründe, Perspektiven und Methoden aus, um in einem gegenseitigen Lernprozess differenziertere Aussagen treffen zu können. Dabei zeigt sich auch, wie stark gerade die Philosophie in der Reflexion auf die vorausblickende und konkrete Forschung der Ingenieurwissenschaft angewiesen ist, wenn sie sich am Diskurs um technische Fragestellungen beteiligen möchte. Zur gleichen Zeit eröffnet der interdisziplinäre Austausch immer neue Aspekte und Kriterien, die in die Beurteilung einer Entsorgungsoption miteinfließen. Die gebotene multikriterielle Bewertung gewinnt, neben der empirischen Erforschung von technischen Parametern, mit jeder Disziplin an Dimensionen und neuen Bewertungsmaßstäben. So entstehen eine Reihe von interdisziplinären Kriterienkatalogen, die iterativ gegeneinander verhandelt und abgeglichen werden. Die bidisziplinäre Auseinandersetzung mit dem MiniMax-Kriterium zeigt dies exemplarisch.

Weiterhin wurden in diesem Beitrag zwei Grundprobleme der Oberflächenlagerung skizziert: Die Notwendigkeit ihrer inter- und transdisziplinären Betrachtung und das Argument für die sorgfältige Planung einer langfristigen Oberflächenlagerung. Der transdisziplinäre Gehalt der Option Oberflächenlagerung erschließt sich schon aus den oben behandelten Implikaten. Die Notwendigkeit ihrer Erforschung trägt sich aus der fast trivialen lebensweltlichen Notwendigkeit an die Wissenschaft heran, dass radioaktive Reststoffe gelagert werden müssen. Gleichzeitig weist die Auseinandersetzung wieder in die Gesellschaft zurück, indem die verschiedenen Bewertungsmaßstäbe der Option gesellschaftliche Aushandlungsprozesse und Entscheidungen fordern. Das Argument für die Oberflächenlagerung als langfristig geplante Maßnahme ergibt sich aus einer gewissen Unzufriedenheit mit dem Status quo, ohne zunächst die Zuverlässigkeit der bestehenden Zwischenlager für ihren Zweck in Frage stellen zu wollen. Allerdings erscheint die Zwischenlagerung mit Blick auf die Dauer bis zur Bereitstellung eines Tiefenlagers zu kurz angelegt und es drängt sich die Frage auf, wie mit den relativ kurzen Genehmigungszeiträumen der Zwischenlager im Rahmen einer Entsorgungsstrategie umzugehen ist. Hierbei birgt die Option einer langfristigen Oberflächenlagerung den Vorteil der Entkoppelung von einem noch nicht verfügbaren „Endlager“ und wird so zu einer eigenständigen Option, die den Zeithorizonten und Aporien der dauerhaften Entsorgung Rechnung trägt. Wird die Lagerung an der Oberfläche verzeitlicht – das heißt auch, an die Zeithorizonte der Radiotoxizität gebunden – so muss in Konsequenz die Frage gestellt werden, wie weiter mit den Reststoffen verfahren wird. Dies gilt allerdings für alle Entsorgungsoptionen, solange sie auf Instandhaltungsmaßnahmen angewiesen sind. Auch ein „wartungsfreies“ Tiefenlager ist erst nach seinem vollständigen Verschluss wartungsfrei.

Werden die beiden Hauptlinien dieses Beitrags verbunden, so führt das auf die Frage der Bewertungsmaßstäbe zurück, die an die Option Oberflächenlagerung angelegt werden. Diese Bewertung ist ein interdisziplinär-iterativer Prozess und erfordert eine umfassende, multikriterielle Analyse. Die Ergebnisse dieser Analyse müssen zugleich transdisziplinär iterativ in die gesellschaftliche Debatte eingespeist werden, auch um zu prüfen, ob sie plausibel sind und sich auf dem Forum der Öffentlichkeit zu überzeugenden Argumenten herausbilden können.

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Notes

  1. 1.

    Sukopp spricht im Anschluss an Mittelstraß von methodischer Transdisziplinarität, wenn verschiedene Disziplinen zusammenarbeiten, der Gegenstand aber außerhalb der Wissenschaft entstanden ist und gleichzeitig in einem gesellschaftlich-politischen Rahmen verhandelt werden muss (vgl. Sukopp 2010, S. 25).

  2. 2.

    Chaudry et al. betonen die gesellschaftliche Relevanz der Transdisziplinarität und die daraus resultierende Aufgabe der Wissenschaft, ihre Ergebnisse auch einer breiteren Öffentlichkeit verständlich zu publizieren. Demnach stünde die Wissenschaft, die an Problemen mit hoher gesellschaftlicher und politischer Relevanz forscht, auch an der Schnittstelle zur Partizipation (vgl. Chaudry et al. 2016).

  3. 3.

    Aristoteles trifft in seiner Handlungstheorie die Unterscheidung zwischen Poiesis als zweckgebundenem herstellenden Handeln und Praxis als Handeln um seiner selbst willen: „Denn das Hervorbringen [Poiesis] hat ein Endziel außerhalb seiner selbst, beim Handeln [Praxis] kann dies nicht so sein, denn wertvolles Handeln ist selbst Endziel“ (Aristoteles 1969, S. 129).

  4. 4.

    Luhmann bezeichnet Sicherheit als Leerbegriff, wenn er dem Begriff des Risikos entgegengestellt wird, analog zu krank vs. Gesund (vgl. Luhmann 1991, S. 29). Man könnte diesen Gedanken dahingehend weiterentwickeln, das Postulat Sicherheit als normativ trivial zu bezeichnen.

  5. 5.

    Definition der Zuverlässigkeit nach DIN EN 1990 (2010), S. 14: „Fähigkeit eines Tragwerks oder Bauteils die festgelegten Anforderungen innerhalb der geplanten Nutzungsdauer zu erfüllen.“

  6. 6.

    Die Wärmeleistung der Reststoffe muss beispielsweise auf einen lagerkonzept- und wirtsgesteinabhängigen Grenzwert sinken, bevor die Stoffe in ein Tiefenlager verbracht werden können.

  7. 7.

    Während die Genehmigung für das Zwischenlager in Gorleben bereits 2034 ausläuft, wird die Einlagerung der Abfälle nach einer Aussage der AG 3 der Kommission Lagerung hoch radioaktiver Abfallstoffe frühestens zwischen 2075 und 2130 abgeschlossen sein (vgl. Kommission Lagerung hoch radioaktiver Abfallstoffe 2015, S. 4).

  8. 8.

    Das MiniMax- oder MaxiMin-Kriterium wurde 1950 von Abraham Wald in die risikoethische Debatte eingeführt und insbesondere von Hans Jonas und John Rawls in der Entscheidungstheorie weitergedacht. Gerade Jonas erhebt das Kriterium im Prinzip Verantwortung (1979) zur normativen Grundlage der konservativen Schätzung, wenn es gilt, Katastrophen zu vermeiden – in dubio contra proiectum (vgl. Nida-Rümelin et al. 2012, S. 95 f.).

  9. 9.

    Luhmann bindet im Anschluss an Becks Risikogesellschaft das Begriffspaar RisikoGefahr an die Akteursebenen von Entscheidern und Betroffenen. Damit ist der Übernahme eines Risikos immer eine aktive Entscheidung vorgeschaltet, während man Gefahren lediglich passiv ausgesetzt und damit zur Betroffenen wird (vgl. Luhmann 1991, S. 111 ff.).

  10. 10.

    Vom 23. Juli 2013 (BGBl. I S. 2553).

  11. 11.

    Singulär ist hier im Sinne eines einzelnen Bauwerks zu verstehen. Die einzelnen Bauwerke müssen in bestimmten Intervallen erneuert werden, um ihre Schutzfunktion langfristig zu erhalten. Gordon Edwards etwa plädiert für perpetuierte Oberflächenlagerung als eine Form von rolling stewardship. Im Gegensatz zur Tiefenlagerung bedeutet dies, dass die Verantwortung für die radioaktiven Reststoffe bewusst vererbt wird. In seiner Argumentation wird aus einer Schwäche der Oberflächenlagerung, ihrem hohen Wartungssaufwand, genau ihre Stärke – die Reststoffe werden nicht entsorgt (abandoned), sondern über Generationen gehütet (vgl. Edwards und Del Tredici 2013).

  12. 12.

    Der Begriff Instandhaltung wird in diesem Artikel sinngemäß nach der im Bauwesen üblichen Definition verwendet, wonach alle Maßnahmen zur Bewahrung und Wiederherstellung des Soll-Zustandes sowie zur Feststellung und Beurteilung des Ist-Zustandes betrachtet werden. Der Begriff beinhaltet also gleichermaßen die Inspektion des Bauwerks sowie Wartungs-, Instandsetzungs- und Verbesserungsmaßnahmen (vgl. DIN 31051 2012, S. 4).

  13. 13.

    Beispielsweise haben die Betreiber der Zwischenlager bei der zuständigen Genehmigungsbehörde (BfS) Änderungsanträge zur Erweiterung des baulichen Schutzes gegen Störmaßnahmen oder sonstige Einwirkungen Dritter eingereicht. Unter anderen Maßnahmen ist der Bau von ca. 10 m hohen und mindestens 85 cm dicken Stahlbetonwänden im Abstand von ca. 3 m zu den bestehenden Zwischenlagern vorgesehen (vgl. z. B. BfS 2014a oder BfS 2014b).

  14. 14.

    Abweichende Meinung der RSK-Mitglieder R. Donderer und K.-D. Bandholz in den Sicherheitstechnischen Leitlinien für die trockene Zwischenlagerung bestrahlter Brennelemente in Behältern aus dem Jahr 2001: „[…] haben wir uns der Mehrheitsposition, die die „Reduzierung der Schadensauswirkungen“ durch den Behälter bzw. durch eine Kombination von Behälter und Gebäude für ausreichend hält, nicht anschließen können. Im Sinn der bestmöglichen Schadensvorsorge halten wir grundsätzlich eine geeignete Auslegung des Lagergebäudes für erforderlich“ (RSK 2001, S. 36).

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Riemann, M., Köhnke, D. (2016). Interdisziplinarität als Induktion – Von Ingenieuren und Philosophen. In: Smeddinck, U., Kuppler, S., Chaudry, S. (eds) Inter- und Transdisziplinarität bei der Entsorgung radioaktiver Reststoffe. Energie in Naturwissenschaft, Technik, Wirtschaft und Gesellschaft. Springer Vieweg, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-12254-6_11

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