Bei der Vielfalt der in diesem Essential vorgestellten diagnostischen Zugänge stellt sich die Frage, wie für einen konkreten Coachingprozess relevante Verfahren sinnvoll ausgewählt werden können. Dazu wird zum einen das „Kasseler Coaching Raster“ vorgestellt, das eine Systematisierung verschiedener Verfahren leistet und so Orientierung bei der Auswahl gibt. Darüber hinaus wird mit dem „Kasseler Coaching Inventar“ ein Leitfaden für die Eingangsdiagnostik vorgeschlagen, der, ähnlich einem Anamnese-Bogen in der Psychotherapie, einen ersten Überblick über verschiedene diagnostisch relevante Bereiche des Coachinganliegens gibt.

5.1 Systematisierung diagnostischer Verfahren im Coaching: Das „Kasseler Coaching Raster“

Das im Folgenden vorgestellte „Kasseler Coaching Raster“ soll eine Übersicht bieten, wie die verschiedenen Verfahren systematisiert werden können. Darüber hinaus kann es eine Orientierung liefern, wie passende Zugänge im konkreten Coachingfall ausgewählt werden können.

Die unterschiedlichen diagnostischen Zugänge können entlang dreier Fragen beschrieben und systematisiert werden: 1. Was wird erfasst? 2. Womit wird es erfasst? 3. Durch wen wird es erfasst?

  1. 1.

    Was wird erfasst?Der Inhalt

Diese Frage bezieht sich auf den Inhalt der Diagnostik: Geht es vorrangig darum, das Individuum, also die Person des Coachee mit seiner Motivstruktur, Persönlichkeit, seinen Kompetenzen (z. B. wie bei den Kompetenzenbilanzen) zu erfassen? Geht es vor allem darum, einen Blick auf die Schnittstelle zwischen Person und Organisation zu richten, also seine Funktion, Rolle und Einbettung im Team (z. B. mittels Rollogramm, Rollenatom oder Teamaufstellung) zu erhellen? Oder ist der Fokus auf das organisationale Umfeld (z. B. Analyse von Formalstruktur, informeller Seite und Schauseite der Organisation) zu setzen?

  1. 2.

    Womit wird dieser Inhalt erfasst?Das Instrument

Hier ist die Frage, was das diagnostische Instrument ist, mit dem exploriert und untersucht wird. Dabei lässt sich entlang eines Kontinuums unterscheiden, ob eher die Coaches selbst als Instrument fungieren, also Beziehungsdiagnostik betrieben wird (Gegenübertragungsanalyse in der Sprache der psychodynamischen Beratung, Kontaktdiagnostik in der Sprache der gestaltorientierten Beratung), oder ob ein standardisiertes diagnostisches Testverfahren (z. B. der TAT, ein psychometrischer Persönlichkeitsfragebogen oder eine standardisierte Interaktionsanalyse) eingesetzt wird.

  1. 3.

    Durch wen wird dieser Inhalt erfasst?Die Informationsquelle

Die Informationsquelle kann einerseits die Coachee selbst sein, die über sich Auskunft gibt oder sich selbst einschätzt, z. B. im Rahmen des Karriereankers oder eines Persönlichkeitsfragebogens. Aber auch eine Fremdeinschätzung von Eigenschaften und Verhalten kann in der Eingangsdiagnostik im Coaching erfolgen, etwa mittels Potenzialanalysen, 360°-Feedbacks oder auch Verhaltensstichproben im Rahmen von Rollenspielen oder Job Shadowing.

Verortet man jedes einzelne diagnostische Verfahren entlang dieser drei Fragen, ergibt sich ein spezifisches Profil für jedes Verfahren. Für einen psychometrischen Persönlichkeitsfragebogen wie das Bochumer Inventar zur berufsbezogenen Persönlichkeitsbeschreibung (BIP) etwa veranschaulicht Abb. 5.1 das Verfahrens-Profil.

Abb. 5.1
figure 1

Verfahrensprofil des Bochumer Inventars zur berufsbezogenen Persönlichkeitsbeschreibung (BIP)

Die Ermittlung der spezifischen Profillinien diagnostischer Verfahren erleichtert die Systematisierung und den Vergleich verschiedener Verfahren.

Darüber hinaus kann diese Systematik auch bei der Auswahl der passenden diagnostischen Zugänge im Einzelfall helfen. Um die oben aufgeführten Vorteile einer systematischen Diagnostik zu nutzen, erscheint es sinnvoll, die Verfahren so zu kombinieren, dass alle drei inhaltlichen Aspekte (Person, Organisation und die Schnittstellen dazwischen, also Rolle und Team) berücksichtigt sind. Auch hinsichtlich des Instruments und der Informationsquelle sollten die eingesetzten diagnostischen Zugänge sich ergänzen. Das Abtragen der jeweiligen Verfahrensprofile kann so dazu dienen, eine passende Kombination diagnostischer Verfahren für den konkreten Einzelfall zu ermitteln. Geht es im Coaching einer Führungskraft z. B. um die Gestaltung der eigenen Führungsrolle innerhalb des Teams, so könnte das BIP gut durch ein „Bild meines Teams“ ergänzt werden. Ergeben sich aus der Kontaktdiagnostik innerhalb der Coach-Coachee-Beziehung Hinweise auf größere Diskrepanzen zwischen Selbst- und Fremdeinschätzung der Führungskraft und wird als ein Ziel für das Coachings die Verbesserung in der Gestaltung von Teamsitzungen und anderen Meetings definiert, könnte zudem eine Interaktionsanalyse mittels act4teams in Erwägung gezogen werden. Abbildung 5.2 veranschaulicht diese Kombination diagnostischer Zugänge mit Hilfe des Kasseler Coaching Rasters.

Abb. 5.2
figure 2

Verfahrensprofile im Vergleich

5.2 Systematische Eingangsdiagnostik für die Praxis: Das „Kasseler Coaching Inventar“

Der Einsatz diagnostischer Instrumente ist meist nicht der erste diagnostische Schritt im Coaching. Fer diesen ersten Schritt schlagen wir als Leitfaden für die Praxis das „Kasseler Coaching Inventar“ vor. Dieses kann zusammen mit dem „Kasseler Coaching Raster“ als Grundlage dafür dienen, vertiefende diagnostische Verfahren auszuwählen.

Mit dem „Kasseler Coaching Inventar“ schlagen wir einen Leitfaden für die Praxis vor, der, ähnlich wie ein Anamnesebogen in der Psychotherapie, für die Eingangsdiagnostik im Coaching im Sinne eines „Minimalvorgehens“ genutzt werden kann. Je nach Fragestellung kann dies bereits völlig ausreichend sein oder aber durch spezifische, in vorherigen Kapiteln dieses Buches beschriebene Verfahren ergänzt werden. Darüber hinaus kann dieser Leitfaden die Dokumentation und – durch die strukturierte Erfassung der Ausgangssituation – die praktische Evaluation von Coachingprozessen erleichtern. Es kann unter http://extras.springer.com/ (nach Eingabe der ISBN 978 3-642-37965-9) heruntergeladen werden.

Das „Kasseler Coaching Inventar“ ist unterteilt in fünf Abschnitte: Coachinghintergrund, Berufsbiographie und organisationale Einbettung, (persönliche) Kurzbiographie, Interaktionsdiagnostik und Managementaufgaben.

Im Folgenden wird die jeweilige Relevanz der einzelnen Aspekte erläutert.

  1. 1.

    Coachinghintergrund

Alter

Je nach Lebensphase sind die Optionen beruflicher Lebensgestaltung höchst unterschiedlich. Befindet sich der Kunde/die Kundin in der beruflichen Aufbauphase, hat er/sie Bilanzierungsthemen zur Mitte beruflicher Entwicklung, will er/sie sich neu orientieren oder geht es um die Gestaltung der letzten Phase beruflichen Tätigseins? Will sie noch Kinder zur Welt bringen oder ist die Familienplanung abgeschlossen?

Kunde/Kundin wurde empfohlen durch …

Diese Frage kann Hinweise geben auf die eigene Netzwerkstruktur, das Fruchten von Marketingstrategien, aber auch ggf. implizite Erwartungen deutlich machen, wenn z. B. die Empfehlung durch eine Kundin erfolgte, deren Coachingprozess besonders erfolgreich verlief.

Coachinganlass

Hier findet zunächst die subjektive Konstruktion der Problembereiche des Kunden ihren Platz. Sinnvoll ist es, schon hier auf Akzentuierungen zu achten: Wie dramatisch oder aber affektisoliert wird die Arbeitssituation geschildert? Gibt es Hinweise auf Wahrnehmungsverzerrungen? Welche Themenfelder werden ganz ausgelassen? Wie lange währt die Problematik schon? Die Coachinganlässe implizieren oft schon die Ziele der Beratung. Wie realitätsangemessen sind diese? Kann ich mich als Coach ihnen anschließen? Beispiel: „Ich möchte Mitarbeiter entlassen können, ohne Schuldgefühle zu entwickeln.“ Sinnvoll kann es sein, hier auch wörtliche Rede des Coachee mitzunotieren.

Zeitpunkt der Anfrage

Warum kommt die Kundin gerade jetzt und nicht früher oder später? Welche subjektiven Theorien hat die Klientin zum Hintergrund ihres Beratungsanliegens? Stimmen diese mit meinen mentalen Modellen als Coach überein oder gibt es (gravierende) Diskrepanzen? Welche Erklärungsmodelle zieht sie heran? Wird eher external oder internal attribuiert? Gab es eine auslösende Schlüsselszene, die den Entschluss, sich Unterstützung zu suchen, initiierte?

Bisherige eigene Lösungsversuche

An dieser Stelle können die Coaches sich davor schützen, Lösungsimpulse zu setzen, die bereits durch die Coachees erfolglos erprobt wurden. Durch die Analyse des „Scheiterns“ der Selbsthilfeversuche der Kunden erlangen die Coaches ein vertieftes Verständnis der Ausgangssituation und werden zur gezielten Hypothesengenerierung angeregt.

Vorerfahrungen mit Coaching

Die Einstellung zum Beratungsformat Coaching wird maßgeblich durch eventuelle Vorerfahrung geprägt. Auch Gerüchte um dieses Format und das Wissen aus dem Hörensagen, wie es in der Firma und/oder dem Bekanntenkreis erzeugt wird, ist hier von Relevanz. Welchen Ruf hat Coaching für den Klienten: Ist es in seiner/ihrer subjektiven Repräsentation eher Nachhilfeunterricht für defizitäre Führungskräfte oder ein probates Mittel zur Bewältigung komplexer Aufgaben?

Coachingziel(e)

Die Ziele des Coachings lassen sich aus den Anlässen ableiten und sicher auch direkt erfragen. Oft machen es aber projektive Verfahren wie die Wunderfrage oder die Drei-Wunsch-Probe leichter, auch weniger bewusstseinsfähigen Aspekten der Wunschwelt der Klientin Ausdruck zu verleihen. Hilfreich ist zudem die Antizipation von Zukunft: „Wenn wir einen erfolgreichen Beratungsprozess miteinander gestaltet haben, wie wäre es dann? Woran würden Sie bemerken, dass wir erfolgreich gearbeitet haben?“

  1. 2.

    Berufsbiographie und organisationale Einbettung

Professioneller Werdegang

Die Kenntnis von Ausbildungsverläufen, beruflichen Entscheidungen, absolvierten Weiterbildungen und erworbenen Spezialisierungen ist sicherlich wichtig im Hinblick auf die beruflichen Ressourcen, auf denen das Coaching aufbauen kann. Die Frage nach Professionalisierungswegen gibt uns aber zudem Auskunft darüber, wie unsere Kund_innen die Welt betrachten. Dies tut ein/e Ingenieur_in sicherlich sehr anders als ein/e Theolog_in. Über die Kenntnis des beruflichen Werdegangs erhalten wir eine Idee davon, auf welche Wissensbestände wir im Beratungsverlauf bauen können und welche uns als Coach leitende Referenztheorien eventuell erklärt werden müssen. So stellt bei Psycholog_innen die Kenntnis über Motivstrukturen von Mitarbeiter_innen sicherlich ein geteiltes Wissen dar, das u. U. bei Physiker_innen erst aufgebaut werden muss.

Berufliche Stationen

Die unterschiedlichen beruflichen Stationen sind ebenfalls unter der Ressourcenperspektive bedeutsam. Mit welchen Branchen und Organisationstypen ist der Coachee vertraut? Welche Erfahrungen in Rollen und Funktionen hat er gemacht? Welche Bewegungen hat es in Hinblick auf Statuszuwachs oder -einbruch gegeben? Welche beruflichen Entscheidungen waren nötig: z. B. hinein in die Selbstständigkeit, die Kündigung eines Beamtenstatus’? Welches Studienfach studierte der Coachee? Wie leicht oder schwer sind diese Entscheidungen gefallen? Gibt es Entscheidungen, die der Coachee bereut, und wie bewertet er die einzelnen Etappen? Wie viel Mobilität hat es gegeben? Waren die Karriereverläufe eher vertikale oder horizontale oder spielte Zentralität eine Rolle? Gibt es einen roten Faden in der beruflichen Biographie?

Welche berufliche Funktion und welche beruflichen Aufgaben hat der/die KlientIn aktuell inne?

Eine wichtige Frage ist die nach der Klarheit der Definition der Funktionen und Aufgaben. Zudem ist für die Ausrichtung des Coachings wichtig, auf welcher Stufe der Hierarchie sich die Coachee befindet. Topmanager_innen haben andere Fragestellungen als Gruppenleiter_innen. Wichtig ist es ebenso, die Zufriedenheit mit der Position zu erfragen und Aufstiegswünsche zu erfahren. Für weiterhin bedeutsam halten wir folgende Fragen: Wie groß ist die Führungsspanne? Über welche Unterstützungssysteme verfügt die Klientin? Welche Aufgaben und Rollenanforderungen gibt es, und wo sieht sie konflikthafte Bereiche? Welche Verantwortungsbereiche fallen in ihre Funktion, und welche Befugnisse im Sinne von Entscheidungskompetenzen hat die Funktionsträgerin? Wie ist ihr informeller Status im Unternehmen? Eine Vertiefung im Hinblick auf Managementaufgaben bietet sich unter Punkt 5 an.

Organisationstyp

Wichtige Aspekte zur Charakterisierung der Organisation sind die Branche, die Größe (Mitarbeiterzahl) und Organisationsform des Unternehmens und ihre Systemumwelt. Handelt es sich um ein Dienstleistungsunternehmen, eine Produkt- oder eine schöpferische Organisation, ein Verwaltungssystem mit den jeweiligen spezifischen Dynamiken? Für den Coachingprozess ist wichtig zu erfahren, wie alt das Unternehmen ist. Handelt es sich um einen Pionierbetrieb oder ist das Unternehmen in der Differenzierungs- oder Integrationsphase? Zentral ist die Aufbau- und Ablauforganisation, die samt Organigramm erhoben und am besten auf einem Flipchart oder Extrablatt festgehalten wird.

Team- und Organisationsklima

Hier werden Fragen der Zusammenarbeit wichtig: Wie ist das Betriebsklima in der Gesamtorganisation und im Bereich der Coachees? Wofür erhält man in seiner/ihrer Organisation Anerkennung? Für welches Verhalten wird man ggf. bestraft? Welche Aspekte der Arbeit werden vor allem betont: Schnelligkeit, Kosten, Qualität? Welche Wertschätzung erfährt der/die Klient_in? Ist er/sie als Expert_in und/oder Führungskraft anerkannt?

  1. 3.

    Kurzbiographie

Beruf des Vaters und der Mutter, Stellung in der Geschwisterreihe

Folgen wir Foulkes (1992), dann versucht der Einzelne unbewusst, die in der jeweiligen Primärgruppe erfahrenen Interaktionsmuster, die „verinnerlichte Gruppenmatrix“, in jeder neuen Gruppe, also auch in der Arbeitsgruppe zu aktualisieren. Üblicherweise stellen wir in unseren beruflichen Zusammenhängen unsere Familienmatrix oftmals unbewusst wieder her. So neigt (zugegebenermaßen etwas holzschnittartig beschrieben) eine ältere Schwester dazu, stets Probleme zu lösen, auch wenn sie niemand darum gebeten hat, ein Einzelkind mag sich über die zu teilende Aufmerksamkeit seines Chefs wundern und ein zu kurz gekommenes Sandwichkind genau diese Erfahrung immer wieder herstellen. Eine Sensibilisierung für die Stellung in der Geschwisterreihe kann manch einen Interaktionsstil oder bestimmte Übertragungsmuster zu erklären helfen.

Genogramm

Die Mehrgenerationenperspektive kann in Hinblick auf die Ressourcen des Coachees betrachtet werden. Kinder aus Handwerkerfamilien haben sehr viel früher ein Bild von Arbeit gewonnen als Kinder von Verwaltungsangestellten. Die Einstellung zum Tätigsein bildet sich recht früh, abhängig vom sozialen Milieu aus. Auch der Umgang mit Topmanager_innen kann einem Coachee mit Aufstiegsbiographie deutlich schwerer fallen als der Tochter eines Vorstandvorsitzenden. Die frühen Erfahrungen mit Macht und Einflussnahme gestalten die impliziten Bilder von Führung; sie können sowohl unbeachtete Ressourcen darstellen, die für die eigene Rollengestaltung nutzbar sind, als auch die berufliche Entwicklung blockieren.

Bedeutsame Lebensereignisse

An dieser Stelle gilt es sowohl die beruflichen Erfolge zu erheben als auch Krisen und Brüche in der Karriere zu betrachten. Eine bewältigte Krise betrachten wir als eine Wachstumsmöglichkeit. Sie kann Orientierung in späteren Belastungssituationen geben und mitunter zu einer Widerstandsressource werden. Berufliche Biographien enthalten aber auch Kränkungen, Verletzungen und nicht gelöste Konfliktsituationen, und die Beschädigungen können und sollten im Coachingprozess gemildert werden.

Aktuelle Lebenssituation

Angaben zur derzeitigen Lebenssituation, zu Kindern und der Einstellung und Beziehung zu ihnen, ein Kinderwunsch, der Familienstand, die Wohnsituation, die Freizeitgestaltung, die finanzielle Situation und die Zufriedenheit mit der Bezahlung spielen für berufliche Entscheidungen eine große Rolle. Ein Bild über die aktuelle Lebenssituation gewonnen zu haben, hilft, eine Hintergrundfolie für das Coaching zu bekommen. Diese stellt den Grund, vor dem die Figur Coaching sich gestaltet.

Biophysisches System

Ein Bild vom Gesundheitszustand der Coachees zu haben, lässt berufliche Beratung realitätsangemessen werden. Die unterschiedliche Stressanfälligkeit der Beratungskund_innen muss im Coaching Berücksichtigung finden. Die Beschaffenheit und Zufriedenheit mit seiner/ihrer Work-Life-Balance ist als Kontextvariable für das Coaching bedeutsam. Auch Fragen möglicher „Déformations professionelles“, die sich im biophysischen System niederschlagen, können im Coaching Berücksichtigung finden.

Motivationsmuster, Normen und Werte, Stärken und Schwächen

Nach einer Bestandsaufnahme zur Frage „Was konnte ich über Motivationsmuster, Normen und Werte, Stärken und Schwächen des Klienten bereits im Erstgespräch herausfinden?“ macht es abhängig von der Zielstellung des Coachings Sinn, ggf. mit diagnostischen Zusatzinstrumenten, wie wir sie in diesem Band vorgestellt haben, zu arbeiten (Karriereanker, TAT, Persönlichkeitstests, Potenzialanalyse, …). Ein klares Bild der Talente, Kompetenzen, Motivstruktur und Wertsysteme ist die Basis eines professionellen Coachings.

Lebensträume, Lebensziele

Was sind die Vorstellungen von „gutem Leben“, mit denen eine Coachingklientin in die Beratung kommt? Lebt sie kongruent mit ihrer Wertestruktur oder ist es gerade ein Diskrepanzerleben der Anlass, ein Coaching aufzusuchen? Welche Potenziale sind u. U. noch nicht entwickelt und gelebt? Zudem kann Coaching nur dann gelingen, wenn die Angebote kompatibel mit den meist impliziten Vorstellungen der Kund_innen sind.

  1. 4.

    Interaktionsdiagnostik

Erster Eindruck

Wir plädieren dafür, den sogenannten ersten Eindruck, den der Kunde auf uns macht, äußerst wichtig zu nehmen. Die Antwort auf die Frage „Wie wirkt der/die Klient_in auf mich?“ raten wir zu notieren, auch wenn sich diese Eindrücke noch nicht sinnverstehend verwenden lassen. Oftmals verstehen wir dies erst im Verlauf des Prozesses. Weitere Fragen können lauten: Wie passiv oder aktiv gestaltet der Coachee die Erstgesprächsszene? Erlebe ich ihn als psychisch beweglich oder eher starr? Wie sind seine Introspektionsfähigkeit und sein Reflexionsniveau ausgeprägt? Kann ich die Selbstwertstabilität einschätzen? Wie groß ist sein Leidensdruck? Wie sieht es aus mit dem Veränderungswunsch und der Kooperationsfreude im Hinblick auf das Coaching?

Wie gestaltet der/die Klient_in den Kontakt zu mir?

Die Frage „Wie behandelt mich die Coachee?“ – z. B. als Dienstleister_in, Hohepriester_in oder Freund_in – lässt Rückschlüsse auf mögliche Übertragungen in der Coach-Coachee-Beziehung zu. Darüber hinaus bekommen wir als Berater_innen Hinweise auf die Art und Weise, wie die Coachee Interaktionen auch außerhalb der Beratungssituation gestaltet. Tritt sie selbstbewusst, kritisch, ängstlich, idealisierend oder konkurrierend auf?

Gegenübertragung

Welche Phantasien tauchen in der ersten Begegnung beim Coach auf? Den Satz zu vervollständigen „Im Kontakt mit der Klientin erlebe ich mich als zögerlich, unter Erfolgsdruck, mütterlich, …“ lässt eine beziehungsbasierte Diagnostik zu. In der psychoanalytischen Theorie unterscheiden wir die konkordante und die komplementäre Gegenübertragung (Racker 2002). Im konkordanten Gegenübertragungsmodus identifiziert sich der Coach mit dem Coachee. Im komplementären Gegenübertragungsmodus hingegen identifiziert er/sie sich mit den signifikanten Interaktionspartnern in Biographie und aktueller Lebenswelt.

Einstellungen und Erwartungen an das Coaching

Wie will die Coachee von dem Coaching profitieren? Wie lauten ihre Erwartungen? Vielleicht sind im Verlauf des Gesprächs „Bilder“ oder Metaphern (vgl. Möller 2013) hinsichtlich Coaching aufgetaucht. Ist Coaching für den Klienten/die Klientin ein Reparaturbetrieb, ein Schutzraum, ein Fitnessstudio für Führungskräfte…? Die Bilder verdeutlichen Prozessphantasien, die Einfluss auf die gemeinsame Arbeit nehmen.

  1. 5.

    Checkliste Managementaufgaben

Zentrale Aufgaben einer Führungskraft lassen sich aus der Theorie der transaktional-transformationalen Führung (Bass und Avolio 1994; Felfe 2006; Judge und Piccolo 2004) ableiten. Danach soll die Führungskraft als Ziel- und Aufgabenmanager, Problemlöser, Visionär, Förderer und Unterstützer sowie als Vorbild fungieren (Dörr 2007).

Malik (2006) unterscheidet darüber hinaus zwischen Managementaufgaben (u. a. für Ziele sorgen, entscheiden, kontrollieren, messen und beurteilen, Menschen entwickeln und fördern) und Werkzeugen wirksamer Führung (u. a. Sitzungsleitung, schriftliche Kommunikation, Budgetierung, „systematische Müllabfuhr“).

Zu Beginn eines Coachings ist es sinnvoll, die Führungskraft einschätzen zu lassen, welche der Aufgaben ihr leicht fallen, an welcher Stelle sie sich schwer tut und welche Fertigkeiten noch entwickelt werden müssen. Was geht mir glatt von der Hand? An welchen Stellen tue ich mich schwer? Was muss ich lernen? Was muss ich ggf. verändern? Auf diese Weise ist es leicht, sich einen Überblick über die Managementkompetenzen zu verschaffen und einen Fahrplan für das Coaching zu entwickeln.