Das aus dem Alt-Indischen stammende Wort „Mantra“ bezeichnet ein heiliges Wort oder Vers. Durch seine regelmäßige Wiederholung, gesprochen oder geschrieben, hofft der Gläubige auf die Erlangung spiritueller Kraft. Vielen erfolgreichen Unternehmen sind heute auch ihre Marken gewissermaßen heilig. Was steckt aber hinter dem Erfolg starker Marken, die sowohl Kunden begeistern als auch den Unternehmen enorme Profite bescheren? Diese Frage wird in Praxis und Wissenschaft seit den Ursprüngen der Disziplin mit dem Mantra der Markenführung beantwortet: Kontinuität. Wir sind davon überzeugt, dass dieses Mantra zwar nach wie vor von großer Wichtigkeit ist, es aber durch einen zweiten Aspekt ergänzt werden muss. Die digitale Welt zwingt Unternehmen dazu, die reine Stabilitäts- und Kontinuitätsfunktion der Markenführung um Freiräume für Anpassungsfähigkeit und Handlungsschnelligkeit zu erweitern. Mit der agilen Markenführung stellen wir ein Konzept vor, das einen Lösungsansatz zum Umgang mit dem Spannungsfeld zwischen Kontinuität und Dynamik aufzeigt . Werfen wir zunächst einen kurzen Blick zurück, um zu zeigen, welche Entwicklungen zu diesem Paradigmenwechsel geführt haben.

Das Konstrukt „Marke“ war schon immer etwas Abstraktes. Die klassischen Modelle und Instrumente der Markenführung hatten einen sehr verständlichen und wirksamen Lösungsansatz, um das Phänomen „Marke“ greifbar zu machen. Die Marke wurde vermenschlicht, sie bekam Persönlichkeit, Werte, eine Identität. Diese stabile Identität war die Basis für eine auf Kontinuität fokussierte Markenführung. War die Markenidentität definiert, konnte man sich daran machen, diese positiv in der Wahrnehmung der Kunden zu verankern.

Auf der vermenschlichten Ebene lässt sich auch gut beschreiben, wie vorgegangen wurde, um eine Marke langfristig erfolgreich am Markt zu positionieren. An der Marke wurde im Hinterzimmer getüftelt, sie wurde fein gemacht für die Welt da draußen. Dies dauerte so lange, bis das vermeintliche Optimum erreicht war. Dann wurde die Tür geöffnet und die Marke betrat die Bühne des Marktes. Idealerweise gefiel den Kunden, was sie sahen und sie kauften. Kaufte nach einem mehr oder weniger langen Zeitraum niemand mehr oder zumindest nicht mehr genügend Menschen, ging es für die Marke zurück ins Hinterzimmer. Dort wurde sie entweder für einen neuen Anlauf ‚umgestylt‘ oder sie kam nie wieder aus dem Hinterzimmer heraus.

FormalPara Die Markenlandschaft von heute

Erfolgreiche Marken können sehr unterschiedliche Werdegänge haben. Da gibt es zahlreiche Beispiele, die den Erfolg des Kontinuitäts-Mantras zeigen. Marken wie Coca-Cola, Nike oder BMW haben auf sehr unterschiedlichen Märkten Erfolg mit einer kontinuierlichen Markenführung. Genauso existiert aber auch die dunkle Seite der Kontinuität: Kodak ist hier das klassische Beispiel. Die Marke beherrschte ihren Markt, verpasste aber trotz bester Voraussetzungen den Wandel, als die Digitalfotografie die Kundenbedürfnisse revolutionierte. Ähnlich schlecht bekam Nokia und Blackberry ihre Kontinuität angesichts des Smartphone-Booms in den vergangenen Jahren. Nun sind die ehemaligen Marktführer ein Schatten ihrer selbst und andere Marken haben das Rennen gemacht, wie Apple oder Samsung.

Kommen wir wieder auf die Gewinnerseite. Auf dieser finden sich einige Marken, die scheinbar weniger Wert auf Kontinuität legen und trotzdem überaus erfolgreich sind: Google und Facebook haben außer ihrem enormen Wachstumstempo gemeinsam, dass sie neben ihren Kernleistungen immer wieder neue Angebote entwickeln und auf den Markt werfen. Kommt ein Angebot beim Nutzer an, bleibt es im Portfolio. Erreicht es nicht die gesetzten Ziele, haben die Unternehmen kein Problem damit, es schnell wieder vom Markt zu nehmen. Dieses Vorgehen ist keine Markenführung aus dem Lehrbuch, hat den Marken aber bisher nicht wesentlich geschadet. Darüber hinaus ist es bemerkenswert, dass Google und Facebook ihre Kernleistungen für den Endnutzer kostenlos anbieten. Das will gar nicht zur klassischen Funktion einer starken Marke passen, durch einen wahrgenommenen Zusatznutzen beim Kunden im Vergleich zu konkurrierenden (unmarkierten) Angeboten ein Preis-Premium zu erzielen.

Es geht sogar noch diskontinuierlicher: Eine Marke wie z. B. Netflix hat innerhalb ihres vergleichsweise kurzen Bestehens schon mehrmals ihr Kernangebot stark anpasst bzw. sogar ganz verlassen. Gestartet als Versender physischer Datenträger für Filme über das Internet, hat sich das Unternehmen zu einem führenden Streaming-Anbieter gewandelt, der darüber hinaus auch eigene Inhalte wie die Erfolgsserie „House of Cards“ produziert.

FormalPara Eine neue, erweiterte Art der Markenführung

Erfolgs- und Misserfolgsgeschichten wie diese sind für uns das Indiz, dass sich über Jahrzehnte bewährte Techniken und Prinzipien der Markenführung und -positionierung deutlich weiterentwickeln müssen. Das Marketing ist durch die Veränderungen auf technologischer, kommunikativer und gesellschaftlicher Ebene besonders stark betroffen. Ein zunehmend ausdifferenziertes und wechselhaftes Kundenverhalten, verschärfter Wettbewerb, eine komplexe Medien- und Vertriebslandschaft: In einem solch dynamischen Umfeld, das von zahlreichen Beziehungen und Abhängigkeiten gekennzeichnet ist, halten wir den ‚Hinterzimmer-Ansatz‘, der mit einem solchen Markenverständnis einhergeht, nicht mehr für effektiv genug. Marken müssen sich heute auf Märkten bewegen, die wie ein fein gesponnenes Netzwerk aufgebaut sind. Marken können sich deshalb nicht mehr aus dem Elfenbeinturm der Markenführung hinunter auf den Markt begeben, sie müssen ein aktiver Akteur mit Netzwerk-Kompetenz werden. Natürlich braucht jede erfolgreiche Marke nach wie vor etwas, was für den Kunden klar und langfristig Attraktivität und Identifikationspotenzial bietet. Aber die Marke definiert sich auch zu großen Teilen über die Verbindungen zur eigenen Leistungsfähigkeit, den Umsetzungsaktivitäten des Unternehmens sowie über ihre Rolle und Position im Wettbewerb.

Unter „Agilität“ verstehen wir nicht Aktionismus, Nervosität oder Hektik, sondern eine angemessene, zielgerichtete und schnelle Reaktion auf sich verändernde Marktsituationen. Das Ziel der agilen Markenführung ist das Erreichen eines angemessenen Gleichgewichts aus Planen und Handeln sowie aus Stabilität und Veränderung.

FormalPara Zum Aufbau des Buches

Im anschließenden Kap. 2 werden zunächst einige grundlegende Begriffe und Themen geklärt: die Bedeutung des Konzeptes „Marke“ für Unternehmen sowie die Aufgaben und Instrumente der Markenführung. In Kap. 3 werden zentrale Entwicklungen und Herausforderungen für das Marketing aufgezeigt, die als Auslöser für den Weiterentwicklungsbedarf hin zur agilen Markenführung zu sehen sind. Analysiert wird dabei der Wandel in den Bereichen des Kundenverhaltens, der Wettbewerbsstruktur und der Marketingmittler. Auf Basis der dargelegten Herausforderungen werden in Kap. 4 die Konsequenzen für die Weiterentwicklung der Markenführungspraxis abgeleitet und erläutert. Kapitel 5 ist der zentrale Abschnitt des Buches. Zu Beginn stellen wir unser Verständnis von Agilität in der Markenführung im Detail vor. Im Anschluss werden ausführlich die Erfolgsfaktoren der agilen Markenführung erläutert, die Marken-Entscheider dabei unterstützen, den geforderten Paradigmenwechsel zu meistern. Jeder der Erfolgsfaktoren wird mit einer ausführlichen Handlungsempfehlung verbunden, die der Leser für seine Berufs- und Management-Praxis nutzen kann. Den Abschluss des Kapitels und des Buches bildet eine Zusammenfassung der Erfolgsfaktoren der agilen Markenführung, die mit einigen wichtigen Hinweisen zur Anwendung der Prinzipien verbunden ist.

Zur Veranschaulichung der Inhalte werden speziell gekennzeichnete Praxisbeispiele eingesetzt, die separat als Ergänzung zum Haupttext herangezogen werden können. Besonders wichtige inhaltliche Punkte sind außerdem in jedem Abschnitt speziell hervorgehoben und ermöglichen eine schnelle Rekapitulation jedes Kapitels.