Zusammenfassung
Der Beitrag setzt sich mit optimistischen Einschätzungen der demokratisierenden Effekte digitaler Kartographie auseinander. Im Fokus steht die Frage, inwiefern bestimmte Deutungsangebote in das Format der verwendeten Daten eingeschrieben sind und welche Bedingungen dies für die darauf aufbauenden Schritte der Verarbeitung und Visualisierung schafft. Ausgangspunkt der Überlegungen bildet eine Gegenüberstellung der Begriffe Akkumulation (als geplante und systematische Organisation von Wissensbeständen) und Aggregation (als ungeplante Entstehung von Ordnungsschemata). Am Beispiel historischer situationistischer Karten und aktueller Projekte aus dem Bereich der Neo-Kartographie wird das Potenzial digitaler Kartographie für die Hervorbringung genuin neuer Ordnungen diskutiert.
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In den USA und Großbritannien sind die Portale data.gov und data.gov.uk seit 2009 in Betrieb, in Deutschland ging das entsprechende Portal govdata.de im Februar 2013 als Betaversion online.
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Entsprechende Debatten finden in den letzten Jahren verstärkt unter den Stichworten „Neogeography“, „Neocartography“ oder auch „Public Participation GIS“ statt. Eine für den deutschsprachigen Raum einschlägige Tagung fand unter dem Titel „Mapping Maps: What’s new about Neocartography?“ im Januar 2011 in Siegen statt.
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Lisa Gitelman hat Bowkers Zitat als Titel für einen Band gewählt, dessen Beiträge genau diese Fragen behandeln (Gitelman 2013).
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Eine ausführliche Analyse dieser „Benennungsmacht“ der Karte am konkreten Beispiel der Schweiz findet sich bei Gugerli und Speich (2002), insbesondere im Kap. „Die Macht der Karte“.
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So lautet die Übersetzung von „Centers of Calculation“ in Latour (2009).
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Klar ist, dass diese Schritte mit Verlusten einhergehen – „Der Ausdruck ‚1.456.239 Babys‘ besteht nicht mehr aus schreienden Säuglingen […]. Dennoch stellt der Ausdruck, sobald er in die Erhebung eingegangen ist, einige Verbindungen zwischen dem Büro des Demografen und den schreienden Babys des Landes her“ (Latour 2009, S. 139, Herv. i. O.). Wichtig ist, dass „einige“ Verbindungen ausreichen, um die Relation zwischen Schreibtisch und Baby aufrechtzuerhalten.
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Im Paderborner Graduiertenkolleg, das diesen Untertitel trägt, werden solche Kulturtechniken unter dem Begriff ‚Automatismen‘ verhandelt. Diese umfassen sowohl individuelle als auch kollektive Phänomene, bei denen durch Verdichtung Komplexität reduziert wird, allerdings ohne dass in diese Prozesse top-down steuernd eingegriffen wird. Auf der individuellen, psychologischen Ebene werden derartige Phänomene beispielsweise von Schematheorien beschrieben, die von einer Bündelung von Eindrücken zu en bloc abrufbaren psychologischen Schemata ausgehen (Rumelhart 1980). Ähnliche Phänomenbeschreibungen finden sich auf kollektiver Ebene in soziologischen Praxistheorien, die davon ausgehen, dass einzelne Handlungssequenzen zu Blöcken zusammengefasst werden, die – ohne Beteiligung von Bewusstsein oder Intention – von Akteuren abgerufen bzw. ausgeführt werden (Reckwitz 2003). Motor hinter diesen Prozessen wäre jeweils die Knappheit spezifischer Ressourcen (z. B. kognitiver Art), die Verdichtung und Bündelung als effizienteren Umgang mit diesen Ressourcen nahelegen. Vgl. Bublitz et al. (2010).
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Strittig bleibt allerdings weiterhin, was unter „related things“ zu verstehen ist. Sind diese Relationen bereits in den Dingen angelegt oder werden sie – unter Zuhilfenahme bestimmter Kategorien und Vergleichskriterien – durch den Beobachter gestiftet? Siehe hierzu auch die Diskussion bei Rutherford (1994).
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Krajewski (2007) spricht, allerdings aus technischer Sicht wenig überzeugend, objektorientierten Datenbanken eine „neue Unabhängigkeit vom Format“ zu: „Man vermag die Objekte genuin zu modellieren, ohne sie wiederum in ihre Bestandteile zerlegen zu müssen. Gewonnen ist – neben der mitunter fehleranfälligen medialen Transformation, die sich erübrigt hat – eine neue Unmittelbarkeit der Datenverarbeitung“ (Krajewski 2007, S. 52 f., beide Herv. i. O.).
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Den theoretischen Rahmen hierzu bilden Debords Ausführungen in „Introduction to a Critique of Urban Geography“ (1981a) und „Theory of the dérive“ (1981b). Fokussiert man statt der politischen auf die technischen bzw. handwerklichen Aspekte von Mapping-Mashups, so sind die Vorgänger allerdings eher im Bereich der kartographischen „Overlays“ zu suchen; vgl. Elwood et al. (2012, S. 582) mit Verweis auf Steinitz et al. (1976).
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Röhle, T. (2018). „Data should be cooked with care“ – Digitale Kartographie zwischen Akkumulation und Aggregation. In: Mämecke, T., Passoth, JH., Wehner, J. (eds) Bedeutende Daten. Medien • Kultur • Kommunikation. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-11781-8_5
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