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Koalitionen und Wahlverhalten in Deutschland. Eine Analyse der Bundestagswahlen von 1961–2009

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Bürgerinnen und Bürger im Wandel der Zeit

Zusammenfassung

Im deutschen Mehrparteiensystem stehen Wähler vor vergleichsweise komplexen Entscheidungen. Wenn sie die zukünftige Regierung auswählen wollen, sollten sie nicht nur Parteien und deren Kandidaten beurteilen, sondern auch mögliche Koalitionen bewerten und in ihre überlegungen einbeziehen. Mit der Ausdifferenzierung des deutschen Parteiensystems seit den 1960er Jahren wurde diese Herausforderung eher noch größer. In diesem Beitrag werden zunächst die Koalitionspräferenzen der Wähler in den vergangenen 50 Jahren untersucht. Dabei zeigt sich eine hohe Volatilität, die nicht zufällig war, sondern sehr stark durch das politische Angebot bestimmt war. Die dynamische Entwicklung der Koalitionsbewertungen deutet darauf hin, dass Koalitionspräferenzen keine einfachen Ableitungen der – vergleichsweise deutlich stabileren – Parteipräferenzen sind. Das bestätigt sich auch bei der Analyse der Stärke der Präferenzen: Wähler bilden zum Teil sehr starke Präferenzen für bestimmte Koalitionen aus. Sie bewerten ihre bevorzugte Koalition häufig sogar höher als ihre bevorzugte Partei. Schließlich zeigen die Analysen des Wahlverhaltens einen starken Anstieg des Stimmensplittings in den vergangenen 50 Jahren. Dieser Anstieg ist zum großen Teil darauf zurückzuführen, dass Wähler vermehrt mit ihrer Zweitstimme von ihrer eigentlich bevorzugten Partei abgewichen sind – ganz im Sinne einer Koalitionswahl. Die Komplexität des deutschen Wahlsystems führt also nicht dazu, dass sich Wähler auf einfachere Parteibewertungen zurückziehen und sich keine ausgeprägten Präferenzen zu möglichen Koalitionen bilden. Vielmehr bilden sich viele Wähler eigenständige Koalitionspräferenzen, die auch das Wahlverhalten mitbestimmen.

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Notes

  1. 1.

    Dabei ist strittig, ob das fehlende Wissen über die beiden Stimmen auch Auswirkungen auf das Wahlverhalten und das Wahlergebnis im Aggregat haben (vgl. Pappi 2011; Huber 2012).

  2. 2.

    Bei Nachwahlstudien muss zudem bedacht werden, dass das abgefragte Wissen über die Bedeutung der Stimmen auch erst nach der Wahl erlangt worden sein kann, beispielsweise durch die Berichterstattung über die Wahlergebnisse.

  3. 3.

    In Deutschland waren und sind fast ausschließlich die Direktkandidaten der CDU/CSU und der SPD aussichtsreich beim Erringen des Direktmandats, in Ostdeutschland zum Teil auch die Linke (Herrmann und Pappi 2008).

  4. 4.

    Das Wahlsystem basiert mit seinen beiden Säulen ja gerade darauf, dass zwei unterschiedliche Urteile unabhängig voneinander gefällt werden und getrennt voneinander ausgezählt werden. Es ist kein Präferenzwahlystem, bei dem man etwa mit der Erststimme seine Erstpräferenz wählt und mit der Zweitstimme seine Zweitpräferenz. Genauso ist das Wahlsystem nicht darauf angelegt, dass Wähler mit Stimmensplitting ihre Präferenz für eine bestimmte Regierungskoalition zum Ausdruck bringen. Die Parteien sind bei ihren Koalitionsverhandlungen nicht daran gebunden, für welche Parteienkombination die Wähler am häufigsten ihre Stimmen aufgeteilt haben.

  5. 5.

    Das gilt insbesondere, wenn die Präferenzen der Befragten nicht eindeutig (Chernev 2003), wenn die Entscheidungen komplex (Greifeneder et al. 2010) oder wenn schwierige Trade-offs einzubeziehen sind (Scheibehenne et al. 2010).

  6. 6.

    Plausibel erschiene natürlich auch die umgekehrte Annahme, dass ein differenziertes Parteiensystem die Wählerpräferenzen besser abbildet und daher eher zum Wählen motiviert.

  7. 7.

    Je komplexer die Koalitionssituation vor Wahlen ist, desto eher werden wahrscheinlich auch verschiedene Koalitionsoptionen thematisiert, die den Wählern bis dahin nicht so geläufig waren (vgl. zum Beispiel die Diskussion um Dreier-Koalitionen wie „Ampel“ oder „Jamaika“). Hinzu kommt die Schwierigkeit, dass das Parteiensystem seit der Wiedervereinigung stark regionalisiert ist und sich bei Landtagswahlen in Ost- und Westdeutschland unterschiedliche Koalitionslager herausgebildet haben.

  8. 8.

    Die verwendeten Wahlstudien sind: 1961: ZA0056; 1965: ZA0556; 1969: ZA0426; 1972: ZA0635; 1976: ZA0823; 1980: ZA1053; 1983: ZA1276; 1987: ZA1537; 1990: ZA1919; 1994: ZA3065; 1998: ZA3066; 2002: ZA3861; 2005: ZA4302; 2009: ZA5303.

  9. 9.

    Zwölf Prozent geben der bevorzugten Partei und dem bevorzugten Kandidaten die gleiche höchste Bewertung, acht Prozent bewerten die bevorzugte Partei und die bevorzugte Koalition gleich hoch, zehn Prozent bewerten die bevorzugte Koalition gleich hoch wie den bevorzugten Kandidaten und 17 % bewerten alle drei politischen Objekte jeweils gleich hoch.

  10. 10.

    Nichtwähler werden aus der Analyse vollständig ausgeschlossen.

  11. 11.

    Wenn Wähler eine Rangplatzbindung auf der ersten Position haben, wird die Wahl jeder dieser Parteien als nicht-abweichend bewertet.

  12. 12.

    Das Abweichen von der bevorzugten Koalition wird wie folgt operationalisiert: 1: Wahl für eine Partei, die nicht Teil der bevorzugten Koalition ist; 0: Wahl für eine der Parteien der bevorzugten Koalition.

  13. 13.

    Dieser Befund deckt sich mit den jüngsten Ergebnisse von Debus und Müller (2012), die in einer interessanten Analyse die Koalitionspräferenzen auf Länderebene untersucht haben und zeigten, dass Wähler die Muster des politischen Wettbewerbs adaptieren.

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Huber, S. (2016). Koalitionen und Wahlverhalten in Deutschland. Eine Analyse der Bundestagswahlen von 1961–2009. In: Roßteutscher, S., Faas, T., Rosar, U. (eds) Bürgerinnen und Bürger im Wandel der Zeit. Veröffentlichung des Arbeitskreises "Wahlen und politische Einstellungen" der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW). Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-11276-9_5

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