Zusammenfassung
Im Kontext der Studentenbewegung Ende der 1960er Jahre wurden die Geschlechterverhältnisse sowie die vorherrschenden traditionellen Geschlechterrollen in privaten und öffentlichen Räumen von Frauen zu einem politischen Thema erhoben und politische Aktionen zur Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse initiiert. In dem vorliegenden Beitrag wird danach gefragt, ob und inwiefern Erfahrungen von Geschlechterdifferenz zu einem Motiv politischen Handelns werden können. An biographischen Erzählungen ehemaliger Mitglieder des Frankfurter Weiberrats wird exemplarisch aufgezeigt, welche Art von Differenzerfahrung diese Protagonistinnen sowohl in der Kindheit als auch im Jugendalter und schließlich im Kontext der Studentenbewegung an der Universität machten. Es wird dargelegt, welche Bedeutung diese Erfahrungen für die Entwicklung von politischen Handlungsorientierungen sowie für die Identitätsbildung dieser Frauen hatten und welche weiteren Erfahrungen das politische Handeln motivierten.
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Notes
- 1.
Die Untersuchung ist als Dissertation eingereicht worden und unter dem Titel „Das politisierte Geschlecht. Biographische Wege zum Studentinnenprotest von ‚1968‘ und zur Neuen Frauenbewegung“ im Mai 2013 erschienen; vgl. Dehnavi 2013. Um einen Zugang zu den handlungsleitenden Orientierungen von Aktivistinnen zu erhalten, habe ich zehn biographisch-narrative Interviews (vgl. Schütze 1987) mit Frankfurter Studentinnen geführt, die zwischen 1965 und 1972 ein Studium aufgenommen haben und im Frankfurter Weiberrat und/oder dem Frankfurter Frauenzentrum aktiv waren. Die Interviews wurden dann mit der Dokumentarischen Methode (vgl. Nohl 2006; Bohnsack et al. 2007) ausgewertet und eine fünfdimensionale Typologie über die Politisierung dieser Aktivistinnen erstellt.
- 2.
Vgl. in diesem Zusammenhang die biographischen Porträts von ehemaligen Aktivistinnen der Studentenbewegung in Kätzel 2002. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang beispielsweise Sigrid Fronius, die 1968 Vorsitzende des AStA der Freien Universität Berlin war, oder Sigrid Rüger, die 1966 als erste Sprecherin für die Studentenschaft im Akademischen Senat der Freien Universität Berlin agierte.
- 3.
In der Forschung wird die Phase der Studentenbewegung auf die Zeit von 1965 bis 1970 datiert. Dabei werden die Jahre zwischen 1967 und 1969/70 als Kernphase der Proteste beschrieben; vgl. dazu Groppe 2008, S. 122 und auch Schildt und Siegfried 2009, S. 281. Der Tod des Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 während der Demonstration gegen den Schah wird dann als Beginn und die Auflösung des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) 1969/70 als Ende der Protestphase bezeichnet.
- 4.
Diese Forschungslücke ist m. E. einerseits darauf zurückzuführen, dass neben den ereignis-, struktur- und diskursgeschichtlichen Forschungsarbeiten der letzten Jahre ein Großteil der bisherigen Forschung aus Erinnerungsliteratur und biographischen Darstellungen ehemaliger Akteurinnen besteht (vgl. Kätzel 2002; Notz 1999; Steffen 1998). Andererseits liegen für die historische Erforschung politischer Sozialisationsprozesse nur selten Quellen wie Tagebücher oder Briefe vor, die einen Zugang zu den Erfahrungen und Orientierungen ermöglichen.
- 5.
Das Frankfurter Frauenzentrum wurde vornehmlich von Mitgliedern des Frankfurter Weiberrats gegründet.
- 6.
Explizite politische Handlungen wurden von der Hälfte der untersuchten Frauen in der Jugendphase gezeigt, wobei sie sich hier entweder beispielsweise jugendpolitischen Verbänden anschlossen oder sich an den bereits seit Mitte der 1960er Jahre laufenden Schülerprotesten beteiligten; vgl. dazu Dehnavi 2013, S. 204 ff.
- 7.
Die Namen der interviewten Frauen wurden anonymisiert.
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Dehnavi, M. (2016). Zur Bedeutung von Geschlechterdifferenzerfahrungen für Identitätsbildung und politisches Handeln. In: Groppe, C., Kluchert, G., Matthes, E. (eds) Bildung und Differenz. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-10003-2_15
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