Zusammenfassung
Die Entstehung der Hilfsschule als Institution im ausgehenden 19. Jahrhundert wird aus einer modernisierungstheoretischen Perspektive betrachtet unter Einbeziehung der Volksschulgeschichte. Dies erweitert bisherige historiographische Ansätze, die entweder professionstheoretisch oder sozialgeschichtlich argumentieren. Die im Beitrag unterlegte kulturhistorische Betrachtungsweise geht von Modernisierungskrisen aus, die neue Wissensordnungen hervorbringen, die wiederum durch Rechtfertigungsnarrative konstituiert werden. Hier erscheint die Konstruktion des ‚schwachsinnigen Hilfsschulkindes‘ als Rechtfertigungsnarrativ zur Regulation des Sozialen, genauer: zur Bestimmung einer Gruppe der ‚Anormalen‘ (Foucault) gegenüber den ins Regelschulsystem eingeschlossenen ‚Normalen‘, die auf bestimmte Aufgaben und Ziele durch Abgrenzung von den Anormalen verpflichtet werden. Auf die Konstruktion dieses Rechtfertigungsnarrativs haben die sich zeitgleich organisierenden und professionalisierenden Hilfsschullehrkräfte kraft ihrer hohen Autonomie entscheidenden Einfluss und werden gegenüber den Volksschullehrkräften mit deutlich höheren Gehältern prämiert. Es wird die These vertreten, dass die Konstruktion des ‚Hilfsschulkindes‘ zur Bestimmung der ‚Anormalen‘ eine hohe Relevanz im Kontext der Herstellung neuer sozialer Ordnungen in den Großstädten besaß.
Der geschichtliche Wandel zehrt von den Besiegten.
(Reinhart Koselleck, Erfahrungswandel und Methodenwechsel (1988), zit. nach Klein 2010, S. 57.)
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Notes
- 1.
Den Aufbau eines staatlichen Volksschulwesens stellt Geißler insgesamt auch in den Kontext der sozialen Frage des 19. Jahrhunderts: „Die Massenschule ist […] eine Bedingung und ein Ergebnis der Existenz zunehmend durchstrukturierter Staatlichkeit im Wechsel von Agrar- zur Industriegesellschaft. Sie ist in aufstrebenden Industriestaaten auch eine Antwort auf die ‚soziale Frage‘, zumindest insoweit, als der Verwahrlosung und Nichtregierbarkeit der ‚unteren Klassen‘ begegnet werden soll.“ (Geißler 2011, S. 191)
- 2.
„Im Jahrzehnt vor der Jahrhundertwende erhöht sich die Zahl der Volksschulkinder um fast eine Million auf 8.829.812 Schülerinnen und Schüler, die der entsprechenden Schulen um 1601.“ (Geißler 2011, S. 191)
Quellen- und Literaturverzeichnis
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Ich danke Dr. Peter Franke und Michael Schallert für ihre Unterstützung bei der Literaturrecherche für diesen Beitrag.
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Moser, V. (2016). Die Konstruktion des Hilfsschulkindes – ein modernes Symbol zur Regulation des Sozialen?. In: Groppe, C., Kluchert, G., Matthes, E. (eds) Bildung und Differenz. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-10003-2_12
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