Skip to main content

Erinnerungsarbeit: Wissen als körperliche Praxis im Balletttraining

  • Chapter
  • First Online:
Der Körper als soziales Gedächtnis

Zusammenfassung

Der Beitrag zum körperlichen Erinnern beim Einstudieren von Tanzfiguren im Rahmen des Ballett-Trainings qualifiziert das Einüben als Genese körperlichen Wissens. Mit Hilfe ethnographischen Materials wird zweierlei deutlich gemacht: Zum einen nimmt der Körper beim Erinnern ganz unterschiedliche Rollen und Funktionen ein, die sich mit der Rede von ›dem‹ Körpergedächtnis nur schwer abbilden und einfangen lassen. Zum anderen stellen Praktiken des Einübens und Trainierens hochgradig komplexe Prozesse dar, die auf verschiedenen Ebenen ablaufen und deren Analyse einen entsprechend praxistheoretisch geschulten Blick erfordert.

This is a preview of subscription content, log in via an institution to check access.

Access this chapter

Chapter
USD 29.95
Price excludes VAT (USA)
  • Available as PDF
  • Read on any device
  • Instant download
  • Own it forever
eBook
USD 39.99
Price excludes VAT (USA)
  • Available as EPUB and PDF
  • Read on any device
  • Instant download
  • Own it forever
Softcover Book
USD 49.99
Price excludes VAT (USA)
  • Compact, lightweight edition
  • Dispatched in 3 to 5 business days
  • Free shipping worldwide - see info

Tax calculation will be finalised at checkout

Purchases are for personal use only

Institutional subscriptions

Notes

  1. 1.

    Grundlage dieser Überlegungen bildet das Material meiner ethnographischen Studie zum Balletttraining.

  2. 2.

    Zitat aus einem Interview mit einer Tänzerin, das ich 2012 im Rahmen der oben genannten Ethnographie geführt habe.

  3. 3.

    So stellt auch die Soziologin und Ballettforscherin Anna Aalten (2005, S. 58) fest, dass »the theories of Pierre Bourdieu and Michel Foucault are definitely of major importance in the field.«

  4. 4.

    Guest (1984, S. 3) spricht hier aus tanzanalytischer Perspektive von einer »›kinetic logic‹, which involves its own ›parts of speech‹, its own organization of ›nouns‹, ›verbs‹,›adverbs‹ etc. into ›words‹, ›phrases‹, ›sentences‹ and ›paragraphs‹.« Das Spektrum der Mehrdeutigkeiten ist dabei entsprechend schmal, denn die korrekte Ausführung und die Positionierung jedes Körperteils ist bis ins Kleinste festgelegt – zum Beispiel dahingehend, welche Muskeln man bei einer Bewegung benutzen soll, oder, in welcher Relation Blick und Hand dabei sind.

  5. 5.

    Während der Ausbildung ist das Training zumeist Teil eines achtjährigen, festgeschriebenen Syllabus, in dessen Verlauf sich die Variationen der Bewegungskombinationen in den Übungen im Anspruch steigern und stets neue Schritte hinzu kommen, die auf den vorher gelernten aufbauen. Diese werden entweder in die schon bekannten Übungen eingebunden oder als neue Übung hinzu genommen, während schon bekannte Schritte nicht mehr als einzeln geübt werden, sondern in Übungskombinationen oder implizit in aufbauenden Schritten integriert sind. Die Grundbewegungen werden jedoch in jedem Training durchgeführt. Bis zum Ende seines Tänzerdaseins wird ein Tänzer täglich dieselben Übungen mit den gleichen Grundbewegungen machen, wenn er sich an die Stange stellt.

  6. 6.

    So konstatiert Schneider (2012, S. 76), dass die »Beschreibungen mithilfe des Wortes ›können‹ den regelhaft zu erwartenden Erfolg oder Misserfolg im Handeln [betreffen], wie er von den Mitspielern im wiederholten Umgang mit der Person erfahren wird.«

  7. 7.

    Diese Abbildungen sind von mir in Anlehnung an ein Ballett-Lehrbuch (Ward-Warren 1989) gezeichnet. Hier wird deutlich, wie im feldeigenen Lehrmaterial schon durch Auswahl der Standbild-Momente Marker für die Ausführung der Bewegung gesetzt werden (zum Beispiel ›für die korrekte Körpertechnik zu passierende Zwischenposition‹; zu erreichender ›Wendepunkt‹).

  8. 8.

    Diese und die folgenden zwei Szenen entstammen meiner ethnographischen Studie zum Ballett-Üben. Sie sind Assemblagen aus Feldnotizen zu Beobachtungen als Ballettelevin in einem professionellen Ausbildungsprogramm, entsprechenden Videosequenzen, Notizen beim Anschauen des Videos sowie Erinnerungen daran, wie solche Situationen im Training gewöhnlich sind – kurz, sie entstammen unter anderem meinem ethnographischen Körpergedächtnis, wobei ich auch auf Tagebücher anderer Elevinnen, informelle Gespräche und Interviews als ergänzende Datenquellen zurückgegriffen habe, Da die Protagonistin ein konstruiertes Ergebnis dieser Assemblage ist, spreche ich hier nicht von ›ich‹, sondern von der fiktiven Figur ›Lena‹. Wenn ich in der vierten Szene dann über mein Tun als Forscherin schreibe, werde ich allerdings kontrastierend auf die Ich-Form zurückgreifen.

  9. 9.

    Auf solches Vergessen durch Inkorporierung hat auch Peter Wehling (2011) mit Rückgriff auf Bourdieu hingewiesen.

  10. 10.

    So können viele Tänzer eine Choreographie, die sie von längerer Zeit oft getanzt haben, nicht beschreiben oder vormachen. Hören sie jedoch die Musik, kommen unwillkürlich Bewegungsimpulse.

  11. 11.

    Zum Beispiel werden die Gelenke bei Markierungsbewegungen nicht vollständig gestreckt, Spannungen nicht in dem vollen Maße aufgebaut wie bei der ›gemeinten‹ Bewegung, dynamische Momente wie Sprünge oder Drehungen eliminiert und lediglich durch Streckung der Beine symbolisiert (siehe auch Mitchell 2010).

  12. 12.

    Die ersten beiden unterscheiden sich entlang einer ähnlichen Linie wie jener, mit der Collins (2001) »mimeomorphic actions« von »polymorphic actions« unterscheidet und entsprechende zugehörige Formen impliziten Wissens trennt (Collins 2012): Während es bei ersterem um ein Reproduzieren geht, ist das zweite eher ein Sich-wieder-zurechtfinden.

Literatur

  • Aalten, A. (2005). In the presence of the body: Theorizing training. Injuries and Pain in Ballet Dance Research Journal, 37(2), 55–72.

    Google Scholar 

  • Blasis, C. (1976). The code of terpsichore. A practical and historical treatise, on the ballet, dancing, and pantomime; with a complete theory of the art of dancing; intended as well for the instruction of amateurs as the use of professional persons. Brooklyn: Dance Horizons.

    Google Scholar 

  • Bourdieu, P. (1982). Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

    Google Scholar 

  • Bourdieu, P. (1987). Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

    Google Scholar 

  • Bourdieu, P. (1992). Rede und Antwort. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

    Google Scholar 

  • Brinkmann, S. (2012). Bewegung erinnern. Gedächtnisformen im Tanz. Bielefeld: Transcript.

    Book  Google Scholar 

  • Collins, H. M. (2001). What is tacit knowledge? In S. Theodore, K. Knorr-Cetina, & E. von Savigny (Hrsg.), The practice turn in contemporary theory (S. 107–119). London: Routledge.

    Google Scholar 

  • Collins, H. M. (2012). Drei Arten impliziten Wissens. In J. Loenhoff (Hrsg.), Implizites Wissen: Epistemologische und handlungstheoretische Perspektiven (S. 91–107). Weilerswist: Velbrück Wissenschaft.

    Google Scholar 

  • Dewey, J. (1983). Human nature and conduct. An Introduction to Social Psychology. Carbondale: Southern Illinois University Press.

    Google Scholar 

  • Dimbath, O., Wehling, P. (Hrsg.). (2011). Soziologie des Vergessens: theoretische Zugänge und empirische Forschungsfelder. Konstanz: UVK.

    Google Scholar 

  • Dimbath, O., Heinlein, M. (Hrsg.). (2014). Die Sozialität des Erinnerns: Beiträge zur Arbeit an einer Theorie des sozialen Gedächtnisses. Wiesbaden: Springer VS-Verlag für Sozialwissenschaften.

    Book  Google Scholar 

  • Garfinkel, H. (1967). Studies in ethnomethodology. Englewood Cliffs: Prentice-Hall.

    Google Scholar 

  • Garfinkel, H. (1986). Ethnomethodological studies of work. London: Routledge & Kegan Paul.

    Google Scholar 

  • Guest, A. H. (1984). Dance notation: The process of recording movement on paper. New York: Dance Horizons.

    Google Scholar 

  • Haverkamp, A., Lachmann, R. (Hrsg.). (1991). Gedächtniskunst. Raum – Bild – Schrift. Studien zur Mnemotechnik. Frankfurt a. M: Suhrkamp.

    Google Scholar 

  • Hirschauer, S. (2001). Ethnografisches Schreiben und die Schweigsamkeit des Sozialen. Zu einer Methodologie der Beschreibung. Zeitschrift für Soziologie, 30(6), 429–451.

    Google Scholar 

  • Hirschauer, S. (2004). Praktiken und ihre Körper. Über materielle Partizipanden des Tuns. In K. H. Hörning & J. Reuter (Hrsg.), Doing culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis (S. 73–91). Bielefeld: transcript.

    Google Scholar 

  • Hirschauer, S. (2008). Körper macht Wissen – Für eine Somatisierung des Wissensbegriffs. In K. Rehberg (Hrsg.), Die Natur der Gesellschaft. Verhandlungen des 33. Kongresses für Soziologie in Kassel (Bd. 2, S. 974–984). Frankfurt a. M: Campus.

    Google Scholar 

  • Hirschauer, S. (2014). Intersituativität. Teleinteraktionen und Koaktivitäten jenseits von Mikro und Makro. Zeitschrift für Soziologie. S. 109–133.

    Google Scholar 

  • Hirschauer, S., Amann, K. (1997). Die Befremdung der eigenen Kultur. Frankfurt a. M: Suhrkamp.

    Google Scholar 

  • Hörning, K. H. (2001). Experten des Alltags. Die Wiederentdeckung des praktischen Wissens. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft.

    Google Scholar 

  • Kostrovitskaya, V., Pisarev, A. (1995). School of classical dance. London: Dance Books.

    Google Scholar 

  • Latour, B. (1996). Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften. Berlin: Akademie-Verlag.

    Google Scholar 

  • Loenhoff, J. (2012). Implizites Wissen. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft.

    Google Scholar 

  • Mead, G. H. (1969). Philosophie der Sozialität. Frankfurt a. M: Suhrkamp.

    Google Scholar 

  • Mitchell, R. (2010). Im Panopticon der Bewegung. Eine ethnographische Betrachtung von Ballettproben. Mainz: Johannes Gutenberg Universität.

    Google Scholar 

  • Morris, G. (2001). Bourdieu, the body, and Graham’s post-war dance. Dance Research: The Journal of the Society for Dance Research, 19(2), 52–58.

    Article  Google Scholar 

  • Morris, G. (2005). Balanchine’s Bodies. Body and Society, 11(4), 19–44.

    Article  Google Scholar 

  • Pickard, A. (2012). Schooling the dancer: The evolution of an identity as a ballet dancer. Research in Dance Education, 13(1), 25–46.

    Article  Google Scholar 

  • Pickard, A. (2013). Ballet body belief: Perceptions of an ideal ballet body from young ballet dancers. Research in Dance Education, 14(1), 3–19.

    Article  Google Scholar 

  • Polanyi, M. (1985). Implizites Wissen. Frankfurt a. M: Suhrkamp.

    Google Scholar 

  • Ryle, G. (1969). Der Begriff des Geistes. Stuttgart: Reclam.

    Google Scholar 

  • Schatzki, T. R. (1996). Social practices: A Wittgensteinian approach to human activity and the social. Cambridge: Cambridge University Press.

    Book  Google Scholar 

  • Schatzki, T. (2002). The site of the social. A philosophical account of the constitution of social life and change. University Park: The Pennsylvania State University Press.

    Google Scholar 

  • Schatzki, T. (2010). The timespace of human activity. On performance, society, and history as indeterminate teleological events. Lanham: Lexington Books.

    Google Scholar 

  • Schindler, L. (2011). Kampffertigkeit. Eine Soziologie praktischen Wissens. Stuttgart: Lucius & Lucius.

    Google Scholar 

  • Schmidt, R. F. (2012). Soziologie der Praktiken. Konzeptionelle Studien und empirische Analysen. Frankfurt a. M: Suhrkamp.

    Google Scholar 

  • Schneider, H. J. (2012). Können, Wissen, Zuschreibung. Begriffliche Vorschläge im Ausgang von Wittgenstein. In J. Loenhoff (Hrsg.), Implizites Wissen. Epistemologische und Handlungstheoretische Perspektiven (S. 67–90). Weilerswist: Velbrück Wissenschaft.

    Google Scholar 

  • Sloterdijk, P. (2011). Du musst dein Leben ändern. Berlin: Suhrkamp.

    Google Scholar 

  • Wainwright, S., Williams, C., Turner, B. (2006). Varieties of habitus and the embodiment of ballet. Qualitative Research 6, 535–558.

    Article  Google Scholar 

  • Ward-Warren, G. (1989). Classical ballet technique. Tampa: University of South Florida Press.

    Google Scholar 

  • Wehling, P. (2011). Inkorporiertes Gedächtnis und vergessene Geschichte. Das Vergessen in Pierre Bourdieus Theorie der Praxis. In: P. Wehling & O. Dimbath (Hrsg.), Soziologie des Vergessens. Theoretische Zugänge und empirische Forschungsfelder (S. 167–186). Konstanz: UVK.

    Google Scholar 

  • Welzer, H. (2002). Das kommunikative Gedächtnis: Eine Theorie der Erinnerung. München: Beck

    Google Scholar 

  • Wittgenstein, L. (2003). Philosophische Untersuchungen. Frankfurt a. M: Suhrkamp.

    Google Scholar 

Download references

Author information

Authors and Affiliations

Authors

Corresponding author

Correspondence to Sophie Merit Müller MA .

Editor information

Editors and Affiliations

Rights and permissions

Reprints and permissions

Copyright information

© 2016 Springer Fachmedien Wiesbaden

About this chapter

Cite this chapter

Müller, S. (2016). Erinnerungsarbeit: Wissen als körperliche Praxis im Balletttraining. In: Heinlein, M., Dimbath, O., Schindler, L., Wehling, P. (eds) Der Körper als soziales Gedächtnis. Soziales Gedächtnis, Erinnern und Vergessen – Memory Studies. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-09743-1_10

Download citation

  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-09743-1_10

  • Published:

  • Publisher Name: Springer VS, Wiesbaden

  • Print ISBN: 978-3-658-09742-4

  • Online ISBN: 978-3-658-09743-1

  • eBook Packages: Social Science and Law (German Language)

Publish with us

Policies and ethics