1 Einleitung

Die Frage der „Prioritätensetzung bei Rettungsmaßnahmen“ lässt sich in unterschiedlichen Reichweiten betrachten. Sehr eng fokussiert kann man sie auf die Auswahl reduzieren, wer von mehreren Verletzten zuerst behandelt wird, wenn (zunächst) zu wenige Rettungskräfte vorhanden sind, um alle zugleich zu behandeln. Dieses Verfahren wird üblicherweise als Triage oder Sichtung bezeichnet.Footnote 1

Die Notwendigkeit der Prioritätensetzung kann gerade bei komplexen Großschadenslagen schnell sehr viel weiter reichen und sich auf diverse andere Rechtsgüter erstrecken. Priorisierung kann zwischen verschieden Rechtsgütern ebenso erforderlich werden, wie zwischen gleichen oder gleichrangigen Gütern. Die Komplexität solcher Lagen wird dadurch gesteigert, dass zwischen dem Schutz verschiedener Rechtsgüter Wechselwirkungen bestehen können. Beispielhaft lässt sich dies an einer Hochwasserlage zeigen: Oberstes Ziel ist der Schutz und die Rettung von Menschen, der Schutz von Sachwerten ist nachrangig. Droht aber das Hochwasser ein Industriegelände zu überfluten und dortige Chemikalien das Wasser und damit alle flussabwärts ggf. überfluteten Bereiche zu vergiften, entstünde hierdurch eine ggf. sogar langfristige Gefährdung von Menschen.

Bei der Fokussierung auf den unmittelbar bevorstehenden oder bereits eingetretenen Großschadensfall bleibt die Abhängigkeit von vorgelagerten Entscheidungen außer Betracht. Entscheidungen in der konkreten Schadenslage beruhen auf dem Schutzbedarf einerseits und den vorhandenen Ressourcen andererseits. Weder das eine noch das andere ist aber quasi ‚naturgegeben‘. Bereits die (möglichen) Schäden und der Hilfebedarf hängen von zahlreichen Faktoren ab, die sich im weitesten Sinne unter KatastrophenpräventionFootnote 2, staatliche KatastrophenvorsorgeFootnote 3 sowie eigene Katastrophenvorsorge seitens potentieller Betroffener fassen lässt.

Dies zeigt sich etwa bei der Abhängigkeit von sog. „Kritischen Infrastrukturen“Footnote 4 – wie StromversorgungFootnote 5, InformationstechnologieFootnote 6 oder Verkehrsleistungen zur Aufrechterhaltung der Lebensmittelversorgung – wodurch eine neue, teils erhöhte Vulnerabilität entsteht. Die Risiken von Ausfällen solcher Infrastrukturen und deren Folgen hängen von zahlreichen Faktoren ab, u. a. Robustheit, Pufferkapazität, Abhängigkeit von anderen Infrastrukturen, Anpassungsfähigkeit, Qualitätsniveau, Redundanz und Substituierbarkeit.Footnote 7 Je ‚katastrophensicherer‘ solche kritische Infrastrukturen ausgelegt sind, desto geringer ist die Gefahr von Störungen und umso besser lassen sich auftretende Probleme im Schadensfall beheben. Zugleich besteht aber das sog. „Verletzlichkeitsparadoxon“: Je weniger störanfällig die Versorgungsstrukturen sind, desto gravierender wirkt sich jede Störung aus (vgl. BMI 2009, S. 8; BT-Drs. 17/5672). „Gleichzeitig reichen immer kleinere Störungen aus, um in komplexen Systemen dramatische Folgen zu verursachen“ (BMI 2011, S. 10). Insofern ist hohe Ausfallsicherheit zugleich eine trügerische Sicherheit, die im doch eintretenden Schadensfall einen gesteigerten Hilfebedarf bewirkt.

Zahlreiche Vorschriften der allgemeinen und besonderen Gefahrenabwehr bzw. ‚Risikovorsorge‘ dienen – zumindest mittelbar – auch der Vermeidung von Katastrophen und der sektoralen Vorbereitung auf die Bewältigung von Schadensfällen.Footnote 8 Dies betrifft etwa Anforderungen an die Zuverlässigkeit zur ordnungsgemäßen Ausübung des Betriebes, die (technische) Sicherheit und die Leistungsfähigkeit des Betriebes,Footnote 9 Anforderungen zur Minimierung von Gefahren, die von potentiell gefährlichen Betrieben ausgehen können,Footnote 10 sowie Pflichten zum Aufstellen betriebseigener Gefahrenabwehrpläne.Footnote 11 Eine weitere Form der Katastrophenvermeidung findet sich etwa in den Bau- und Nutzungsverboten in Überschwemmungsgebieten (§ 78 WHG). Sie sollen nicht nur dazu dienen, ausreichend Raum für den schadlosen Hochwasserabfluss zu lassen und damit das Umschlagen des potentiellen Schadensereignisses ‚Hochwasser‘ in eine ‚Katastrophe‘ zu verhindern. Sie vermeiden die ‚Katastrophe‘ auch dadurch, dass sich im gefährdeten Gebiet möglichst wenige schutzbedürftige Güter befinden; sie minimieren so den Rettungsbedarf.

Im konkreten Schadensfall hängt der Hilfebedarf auch von der Vorbereitung möglicherweise Betroffener auf eventuelle Schadenslagen ab. Je besser vorbereitet Betroffene sind, desto geringer ist ihr Hilfebedarf oder er tritt erst zeitlich verzögert ein. Wer etwa über Notstromaggregate und entsprechende Treibstoffvorräte verfügt, ist bei einem Ausfall der allgemeinen Stromversorgung nicht bzw. später hilfsbedürftig, als andere. Das gilt allgemein für Endverbraucher, aber ebenso für Einrichtungen, die ihrerseits eine Kritische Infrastruktur darstellen, wie Krankenhäuser, Pflegeheime oder auch Lebensmittelgroßhandel und Lebensmitteleinzelhandel.

Die zur Katastrophenbewältigung verfügbaren Personal- und Sachressourcen hängen vom Maß der Katastrophenvorsorge ab, die KatastrophenschutzbehördenFootnote 12, Mitwirkende im Katastrophenschutz – insbesondere andere (allgemeine und besondere Gefahrenabwehr-) Behörden und HilfsorganisationenFootnote 13 – KrankenhäuserFootnote 14 und weitere Akteure, wie der Rettungsdienst,Footnote 15 treffen. Ihre Entscheidung, für welche Schadenslagen und Schadensausmaße Vorsorge getroffen wird, beruht im besten Fall auf Risiko- und Bedarfsanalysen und darauf aufbauenden Schutzzielbestimmungen: Wie viele Verletzte sollen Rettungsdienst und Krankenhäuser in welche Zeit bewältigen können? Für wie viel % der Bevölkerung werden Impfstoffe bestellt oder antivirale Medikamente bevorratet? Auf welche Hochwasserpegel bereitet man sich vor? Auf welche möglichen Schadenslagen stellt man sich überhaupt ein und welche lässt man wegen der geringen Eintrittswahrscheinlichkeit außer Acht? Wie werden Bezugsräume für die Beurteilung der Einhaltung von Hilfsfristen im Regelfall definiert?

Sowohl bezüglich der Vermeidungs- als auch der Vorsorgemaßnahmen stellt sich die Frage, wer diese treffen soll. Dies betrifft zwei Ebenen: Die Aufteilung unter staatlichen Aufgabenträgern und die Aufteilung in staatliche oder private Verantwortung.

Sofern staatlicherseits Vermeidung und Vorsorge geleistet wird, kann dies durch die jeweiligen Fachressorts oder durch die Katastrophenschutzbehörden erfolgen. Wie die Verteilung vorzunehmen ist, ist keinesfalls geklärt. Dies betrifft etwa Notfallkapazitäten von Krankenhäusern oder der Vorhaltungen für den Rettungsdienst. Fließende Übergänge zeigen sich auch bei der Regelung von Vorsorgepflichten für Private: Sowohl § 10 der 12. BImschV (also besonderes Gefahrenabwehrrecht) als auch die Landesbrand- und katastrophenschutzgesetzeFootnote 16 enthalten die (mögliche) Verpflichtung bestimmter Betriebe zur Aufstellung von Notfallplänen.

Des Weiteren stellt sich die Frage, ob und in welchem Umfang staatliche Stellen – i. S. einer staatlichen Erfüllungsverantwortung – eigene Ressourcen vorhalten und in welchem Umfang sie Leistungserbringern diverser Dienstleistungen Vorgaben zur Schadensprävention und vorsorge machen. Welche Regenmengen soll die Kanalisation (unabhängig von deren Betreiber) fassen, welche Schneelast Stromleitungen tragen? Welche Redundanzen soll es für den möglichen Serverausfall bei Stromversorgern oder Telekommunikationsunternehmen geben? Welchen Zeitraum sollen Krankenhäuser bei einem Stromausfall mit Notstromversorgung überbrücken und welche Bereiche damit aufrechterhalten werden können? Soll es vergleichbare Vorgaben für Pflegeheime, Arztpraxen, Dialysezentren etc. geben? Für welchen Bedarf sollen Apotheken Medikamente lagern? Sollen Tankstellen nur noch mit der Möglichkeit des Handbetriebs bzw. mit Notstromeinspeisepunkten zugelassen werden?Footnote 17

All diese Fragen können nur durch Abwägung verschiedenster Belange beantwortet werden. Sie alle enthalten Prioritätensetzungen, die Auswirkungen darauf haben können, ob und in welchem Umfang Priorisierungen in einer konkreten (drohenden) Schadenslage erfolgen müssen – sei es durch ihren Einfluss darauf, ob es zu Schadensereignissen kommt, auf das Ausmaß von Schadensereignissen, auf das Maß der Hilfsbedürftigkeit oder auf das Maß der Hilfeleistungspotentiale. Sie sind letztlich keine rein fachlichen, sondern politische Entscheidungen. Dabei spielen insb. finanzielle und wirtschaftliche Aspekte eine erhebliche Rolle.

Bei aller Prävention und aller Vorsorge kann es gleichwohl keine absolute Sicherheit geben. Es wird immer wieder Unvorhergesehenes eintreten, auf das die Vorbereitungsmaßnahmen nicht ausgelegt waren und wo Handlungsmöglichkeiten und Ressourcen – zunächst – nicht ausreichen.

2 Ebenen und Notwendigkeiten der Prioritätensetzung

Prioritätensetzungen, die Einfluss auf den Schutz und die Rettung von Menschen in Großschadenslagen haben, erfolgen folglich auf mehreren Ebenen: Der Katastrophenvermeidung, der Katastrophenvorsorge und der konkreten Katastrophenbewältigung. Brech (2008, S. 80 f.) unterscheidet bzgl. der Rationierung von Mangelressourcen die Ebenen der Makroallokation und der Mikroallokation. Der Makroallokation ordnet er auf einer ersten Stufe die Entscheidung zu, welche Teile des Bruttosozialprodukts welchen Ressorts (z. B. Gesundheitswesen) zugeordnet werden. Auf der zweiten Stufe der Makroallokation erfolge die Zuteilung innerhalb des jeweiligen Ressorts. Die erste Stufe der Mikroallokation betrifft nach Brech (2008, S. 81) die Verteilungskriterien (z. B. für medizinische Leistungen nach Altersgruppen, medizinischer Indikation etc.), die zweite Stufe dann die konkrete Auswahl unter mehreren Bedürftigen. Diese Einteilung ist mit der hier vorgenommenen nicht ganz deckungsgleich. Auf den ersten Blick bewegen sich Vermeidung und Vorsorge auf der Ebene der Makroallokation, die konkrete Lagebewältigung auf der Ebene der Mikroallokation. Bei der Festlegung von Verteilungskriterien oder der Auswahl unter verschiedenen Maßnahmen bestehen jedoch Überschneidungen. Sie können einmal vorab erfolgen und sind insoweit der Vorsorge zuzuordnen. Die Kriterienbildung für Maßnahmen und konkrete Ressourcenverteilung oder deren Konkretisierung für die aktuelle Situation kann aber, gerade in komplexen Lagen, auch bei der konkreten Lagebewältigung und in Anpassung auf Lageänderungen erforderlich werden. Sie ist dann der Lagebewältigung zuzuordnen. Gemeinsam ist beiden Einteilungen, dass Entscheidungen auf der übergeordneten Ebene Auswirkungen auf die Entscheidungsmöglichkeiten der nachfolgenden Ebenen haben.

Brech (2008, S. 82) stellt für knappe medizinische Ressourcen eine Tendenz fest, Verteilungsentscheidungen auf die untere Ebene der Mikroallokation zu verlagern und dem behandelnden Arzt aufzubürden. Bei der Analyse konkreter Verteilungskriterien für knappe Ressourcen in Großschadenslagen (nach Brech 2008, S. 81 Mikroallokationsebene, Stufe 2) bestätigt sich der Befund, dass rechtliche Regelungen von Kriterien für die konkreten Entscheidungen zur Lagebewältigung und zur konkreten Ressourcenverteilung nur sehr gering ausgeprägt sind. Allerdings ist auf der Ebene der Makroallokation wenig Raum für die Festlegung von konkreten Verteilungskriterien. Bei der Budgetverteilung und der Entscheidung über Art und Umfang von Vermeidungs- und Vorsorgemaßnahmen stellt sich dagegen gesondert die Frage nach Verteilungskriterien und der Auswahl unter verschiedenen möglichen Maßnahmen für diese Ebenen selbst.

Die Notwendigkeit von erforderlichen Prioritätensetzungen auf nachgelagerten Ebenen kann bewusst einbezogen werden, etwa durch die offene Festlegung von Schutzzielen (z. B. Bewältigung eines ‚MANV 50‘ mit eigenen Kräften binnen einer Stunde), auf die entsprechende Budgets und Ressourcen abgestimmt werden. Bei Lagen, die diese Ressourcen überschreiten, sind zwangsläufig Verteilungsentscheidungen zu treffen. Dabei können auch bewusst Schutzlücken eingegangen werden (z. B. wenn Vorbereitungen für ein Erdbeben der Stärke 6,5 getroffen werden, weil Vorbereitungen auf Stärke 7 zu teuer wären, obwohl auch mit Beben dieser Stärke zu rechnen ist; bewusste Nichtteilnahme von Krankenhäusern an Bevorratungen für den Katastrophenfall, weil weder das Land noch die Krankenhäuser die Kosten für das Wälzen der Medikamente oder Sanitätsmittel tragen können oder wollenFootnote 18).

Anderes gilt, wenn Budgets, die Standards, Hilfeleistungen oder Versorgung abdecken sollen,Footnote 19 oder die Ressourcen selbst ohne vorherige Schutzzielbestimmung festgelegt werden, der tatsächliche Bedarf jedoch höher ist. Die Notwendigkeit der Priorisierung in der konkreten Schadenslage ergibt sich auch hier, wird aber nicht offen gelegt.Footnote 20 Damit bleibt unklar, ab welcher Größenordnung einer Schadenslage Priorisierungen erforderlich werden. Als Beispiele: Der von Bund und Ländern vereinbarten Menge bevorrateter, antiviraler Medikamente liegen offenbar differierende GrundannahmenFootnote 21 und ZielsetzungenFootnote 22 zugrunde. Die Annahme, es bedürfe keiner PriorisierungFootnote 23 kann sich daher als unzutreffend erweisen. Dem neuen Konzept der ergänzenden Zivilschutzausstattung durch den Bund scheinen keine konkreten Gefährdungsanalysen und Schutzzielbestimmungen zugrunde gelegen zu haben.Footnote 24

Nicht bei allen Entscheidungen, die der konkreten Lagebewältigung vorgelagert sind, dürften Auswirkungen auf mögliche Großschadenslagen und der daraus folgenden Notwendigkeit von Prioritätensetzungen auf nachgelagerten Ebenen immer bewusst sein.Footnote 25 Dies kann insbesondere bei Entscheidungen in eher ‚katastrophenfernen‘ Sektoren der Fall sein.

2.1 Katastrophenvermeidung und -vorsorge

Katastrophenvermeidung und -vorsorge lassen sich nicht scharf voneinander trennen. Katastrophenvermeidung umfasst alle Maßnahmen, die den Eintritt einer Katastrophe verhindern sollen, die Katastrophenvorsorge ist die Vorbereitung auf Katastrophen mit dem Ziel ihrer Bewältigung. Zwischen Vermeidung und Vorsorge bestehen deshalb fließende Übergänge, weil es für die Katastrophenvermeidung zwei Ansatzpunkte gibt: Zum einen die Verhinderung des Katastrophenereignisses (z. B. Störfall in einem Chemiebetrieb, Ausfall der Stromversorgung), zum anderen die Verhinderung der Entwicklung eines Schadensereignisses zur (Dimension einer) Katastrophe. Beispiele: Die Vorhaltung einer Notstromversorgung dient einerseits der Vorsorge für einen Stromausfall, der eine Katastrophe darstellen kann (insofern Katastrophenvorsorge). Andererseits reduziert oder verzögert sie den Bedarf an externer, koordinierter Hilfe und trägt dazu bei, dass sich ein Stromausfall nicht zur Katastrophe entwickelt (insofern Katastrophenvermeidung: Vermeidung der Entstehung einer Katastrophenlage aus einem Schadensereignis). Betrachtet man ein Hochwasser allgemein als potentielles Katastrophenereignis, ist ein Deich Vorsorge für den Hochwasserfall, mit dem verhindert wird, dass Hochwasser das Ausmaß einer Katastrophe annimmt. Betrachtet man erst die Überschwemmung schutzbedürftiger Bereiche als (potentielle) Katastrophe, dient der Deich der Verhinderung des Eintritts dieser Überschwemmung als Katastrophenereignis. Im Folgenden wird die Vorbereitung auf die Bewältigung von Schadenslagen der Katastrophenvorsorge zugeordnet.

In diesem Sinne lassen sich unter Katastrophenvermeidung fassen:

  • Maßnahmen zur Verringerung der Eintrittswahrscheinlichkeit oder der schädigenden Auswirkungen von Schadensereignissen ist (z. B. Hochwasserschutz: Katastrophenvermeidung durch Gewährleistung des ungehinderten Wasserabflusses und durch Minimierung schutzwürdiger und -bedürftiger Güter im potentiellen Hochwassergebiet; z. B. Infektionsschutz: Reduzierung der Verbreitung pandemietauglicher Krankheitserreger),

  • Vorgaben zur Zuverlässigkeit von Anlagenbetreibern, Sicherheit von BetriebenFootnote 26 oder zur Anlagensicherheit,Footnote 27

  • Vorgaben zur (Mindest-) Leistungsfähigkeit von Ver- und Entsorgungsstrukturen (Bsp.: Dimensionierung von Regenwasserkanälen, EnergieversorgungsnetzenFootnote 28, Handynetzen),

  • Maßnahmen zur Ausfallsicherheit von Vers- und Entsorgungsstrukturen (Redundanzen,Footnote 29 Qualitätsanforderungen an technische Bestandteile),

  • Vermeidung vulnerabler Strukturen (z. B. Freihalten von Überschwemmungsflächen von Bebauung, § 78 WHG).

Maßnahmen und Regelungen zur Katastrophenvermeidung finden sich weniger im Katastrophenschutzrecht im engeren Sinne. Aufgabe des Katastrophenschutzes ist „Schutz der Allgemeinheit vor Gefahren und Schäden, die von Katastrophen ausgehen“Footnote 30, d. h. „die Anwendbarkeit des Katastrophenrechts setzt den Eintritt des Katastrophenereignisses voraus“ (Gusy 2011, S. 86). Vielmehr dient das allgemeine und besondere Gefahrenabwehrrecht der Verhinderung von Ereignissen, deren Folge eine Katastrophe sein kannFootnote 31 und somit jedenfalls mittelbar auch der Katastrophenvermeidung. Maßnahmen zielen zumeist auf die Verhinderung ‚gefährlichen‘ Verhaltens bzw. der Gewährleistung von Mindestanforderungen an die zuverlässige Funktionsfähigkeit wichtiger Leistungen. Adressaten sind typischerweise Private.Footnote 32 Staatlicherseits wird in erster Linie durch gesetzliche Vorgaben auf die Katastrophenvermeidung hingewirkt.

Zur Katastrophenvorsorge zählen u. a.:

  • die Aufstellung von Notfallplanungen,

  • die Einrichtung der notwendigen Leitungsstrukturen,

  • Bereithalten von Personal und Sachressourcen für die Bewältigung von Schadenslagen,

  • regelmäßige Übungen,

  • Vorräte und Einrichtungen zur Überbrückung des Ausfalls von Versorgungsstrukturen (z. B. Lebensmittel, Notstrom, Arzneimittel),

  • Systeme zur Lageüberwachung (z. B. Infektionssurveillance).

Maßnahmen der Katastrophenvorsorge können sich auf unterschiedliche Akteure verteilen: Katastrophenschutzbehörden und andere Fachbehörden, private Akteure, die in die staatliche Gefahrenvorsorge und -abwehr eingebunden sind (z. B. beim Rettungsdienst, Krankenhäuser), Private, deren Tätigkeit bei Stör- und Unfällen Katastrophen auslösen kann (z. B. bestimmte Anlagenbetreiber), private Betreiber/Dienstleister von Versorgungsinfrastrukturen sowie die einzelnen Bürger. Teilweise bestehen gesetzliche Vorgaben zur Katastrophenvorsorge, die sich auf verschiedene Akteure beziehen.

Zur Katastrophenvorsorge zählt auch die vorherige Erhebung der für die Lagebewältigung erforderlichen Daten bzw. die Sicherstellung deren zeitnaher Verfügbarkeit im Katastrophenfall. Neben dem Überblick über die eigenen mobilisierbaren personellen und sachlichen Kapazitäten sind relevant:

  • die bei den Mitwirkenden im Katastrophenschutz verfügbaren Ressourcen und Kapazitäten,

  • Gefahrenpotentiale und Notfallpläne von potentiellen Gefahrverursachern,

  • eigene Bewältigungskapazitäten potentiell Betroffener,

  • Personen mit ggf. benötigten Spezialkenntnissen bei den Mitwirkenden im Katastrophenschutz (u. a. Fachbehörden) und bei privaten Stellen,

  • sachliche Spezialressourcen, die nicht bei den Mitwirkenden im Katastrophenschutz vorhanden sind,

  • die aktuelle Lageentwicklung (sehr unterschiedlich je nach Lage, erfordert Informationen von Fachbehörden, vielfach auch von Privaten, insbesondere von Infrastruktur- und sonstigen Versorgungsunternehmen).

Nicht alle Informationen müssen zentral bei den Katastrophenschutzbehörden vorhanden sein. Die vorherige Erfassung aller potentiell relevanten Informationen muss bereits an der Vielgestaltigkeit möglicher Schadenslagen scheitern. Es reicht ggf. auch die kurzfristige Verfügbarkeit der Informationen im Katastrophenfall, etwa von Fachbehörden oder über Datenerhebungsbefugnisse der Katastrophenschutzbehörden bzw. Auskunftspflichten derjenigen Stellen, Unternehmer und Privatpersonen, die bzw. deren Informationen zur Lagebewältigung benötigt werden. Bei der Datenerfassung ist daher deren voraussichtlicher Nutzen, der Aufwand zur Pflege entsprechender Datenbanken, die Möglichkeiten zeitnaher und zuverlässiger anderweitiger Erhebungsmöglichkeiten im Bedarfsfall abzuwägen. Entscheidend ist dann, die verfügbaren Informationen zeitnah zusammenzuführen.

Die Anforderungen, die an Katastrophenvermeidung und vorsorge gestellt werden, sind nicht allein von der Zielsetzung möglichst weitgehender Sicherheit vor Katastrophen geprägt, sondern abhängig von der Abwägung mit anderen politischen Zielsetzungen. Im Rahmen der Gesamtverteilung von Haushaltsmitteln erfolgt eine Abwägung mit anderen Politikfeldern.Footnote 33 Zudem konkurrieren auch andere Ziele innerhalb derselben Materie.Footnote 34 Im europäischen Kontext dürfen Maßnahmen zur Versorgungssicherheit die entsprechende Versorgung in anderen Mitgliedstaaten oder der Union insgesamt nicht gefährden.Footnote 35 Verschiedene Ziele können sich widersprechen aber auch ergänzenFootnote 36. Insbesondere Wirtschaftlichkeit und wirtschaftliche Zumutbarkeit spielen vielfach eine erhebliche Rolle.Footnote 37 Maßnahmen zur Verringerung der Eintrittswahrscheinlichkeit von Schadensereignissen verursachen Zusatzkosten und unterliegen unter Wirtschaftlichkeitsgesichtspunkten daher einem besonderen Rechtfertigungsdruck. Katastrophenvorsorge ist geradezu systemimmanent unwirtschaftlich. Sie verursacht Kosten, deren Refinanzierung über konkret erbrachte Leistungen nur im Katastrophenfall oder auch gar nicht möglich ist, oder zu im Wettbewerb nachteiligen Preiserhöhungen führt. Als Vorbereitung für den Fall, von dem man hofft, dass er nie eintritt, ist sie auch gegenüber der Katastrophenvermeidung argumentativ im Nachteil. Je unwahrscheinlicher der Eintritt eines Schadensereignisses und je ausfallsicherer Versorgungsinfrastrukturen sind, desto unnötiger erscheint die Vorbereitung auf diesen unwahrscheinlichen Fall. Vorbereitung auf den Katastrophenfall wird daher in besonderer Weise auf ihre Notwendigkeit hinterfragt, insbesondere wenn konkrete Szenarien weniger dramatisch ausfallen als befürchtet.Footnote 38 Dies trägt zum ‚Verletzlichkeitsparadoxon‘ bei. Gerade hieraus resultiert aber die Notwendigkeit der Katastrophenvorsorge. Bei der Normierung von Datenerhebungsbefugnissen der Behörden bzw. Auskunftspflichten Privater ist das öffentliche Interesse an den Informationen zur Lagebewältigung mit privaten Datenschutz- und Geschäftsinteressen abzuwägen.

Letztlich erfolgt die Prioritätensetzung durch Festlegung des angestrebten Schutzniveaus, d. h. für die Vermeidung das Maß von Redundanzen, Anforderungen an die Ausfallsicherheit oder Anlagensicherheit. Dabei sind die bei Versagen der Schutzmaßnahmen zu befürchtenden Schäden, die erreichbaren Schutz- und Sicherheitseffekte und die hierfür erforderlichen Aufwendungen abzuwägen. Bei der Vorsorge steht die Frage im Vordergrund, für welche Schadensereignisse und welche Größenordnung von Schadenslagen Vorsorge getroffen werden soll. Letztlich geht es um Planungen für die Organisation der Bewältigung möglicher Schadenslagen und die Art und Dimensionierung der hierfür vorzuhaltenden Ressourcen. Bei staatlicher Vorsorge gibt die Begrenztheit der Haushaltsmittel und deren Verteilung auf verschiedene Ressorts die Notwendigkeit der Prioritätensetzung vor. Eigene Vorsorge durch Privatunternehmen ist durch eine Kosten-Nutzen-Abwägung geprägt. Staatliche Vorgaben für Vorsorge von Privatunternehmen stehen in Konkurrenz zu den Zielen eines möglichst freien Wettbewerbs oder günstigen Preisen oder sparsam wirtschaftenden Einrichtungen und wirtschaftlicher Zumutbarkeit. Insoweit sind Knappheiten auch „Ausdruck staatlicher Planungsentscheidungen“ (Nettesheim 2002, S. 323).

2.2 Konkrete Katastrophenbewältigung

In einer konkreten Schadenslage beruht die Notwendigkeit von Prioritätensetzungen darauf, dass jedenfalls für ein bestimmtes Zeitfenster nicht ausreichend Kräfte und Mittel zur Verfügung stehen, um gleichzeitig allen Bedürftigen die nötige Hilfe zukommen zu lassen. Diese Ressourcenknappheit kann entstehen durch

  • die absolute Begrenztheit der verfügbaren Ressourcen,

  • die Nichtverfügbarkeit von grds. vorhandenen Ressourcen (Transportwege/-zeiten; Treibstoff bei Stromausfall;Footnote 39 für den eigenen Schutz zurückgehaltene Ressourcen anderer),

  • die Unteilbarkeit von Leistungen,Footnote 40

  • Zeitbedarf zur Mobilisierung von Hilfe,

  • Unzugänglichkeit der Hilfebedürftigen (z. B. bei Erdbeben).

Diese Knappheiten beruhen zum einen auf vorgelagerten Entscheidungen über die Dimensionierung von Ressourcen. Trute (2005, S. 360) nennt daneben „im Katastrophenfall ggf. unvermeidbare Knappheiten“. Dazu kann die Verfügbarkeit von Impfstoffen, die bei Auftreten neuer Krankheitserreger erst entwickelt und hergestellt werden müssen, gezählt werden. Überforderung vorhandener Ressourcen durch unvorhersehbare Ereignisse oder deren Dimensionen mag man ebenfalls hierunter fassen. Unvermeidbar sind zu einem gewissen Grad Zeitabläufe, bis erforderliche Hilfe die Hilfebedürftigen erreichen kann. ‚Natürliche‘ Mängel stellen gleichwohl die Ausnahme dar, weil letztlich allen Formen von Schadensvermeidung und vorsorge Entscheidungen zugrunde liegen, die die Bewältigungsmöglichkeiten determinieren, unabhängig davon, ob die Folgen für die Schadensbewältigung bewusst oder unbewusst, explizit oder implizit einbezogen werden, und ob Schadenslagen und ihre Dimensionen vorhersehbar sind oder nicht. Mangellagen können zudem aus organisatorischen Problemen folgen. In Interviews wurde teilweise betont, es gebe in Deutschland grds. kein Ressourcen-, sondern ein Verteilungsproblem. Ressourcen seien z. T. zur falschen Zeit am falschen Ort.Footnote 41

Die Prioritätensetzung betrifft auf den ersten Blick die Auswahl zwischen den Hilfsbedürftigen, d. h. die Frage wem in welcher zeitlichen Reihenfolge, ggf. auch wem überhaupt geholfen wird. Je komplexer eine Lage ist, desto komplexer werden aber auch die erforderlichen Priorisierungsentscheidungen und Abwägungen. Dann stellen sich in erhöhtem Maß Fragen nach der Auswahl zwischen verschiedenen zur Hilfeleistung geeigneten Maßnahmen, nach der Verteilung der vorhandenen Ressourcen auf verschiedene Einsatzbereiche sowie die Frage, ob, in welchem Umfang und welche anderen Stellen, Organisation und Körperschaften um Unterstützung gebeten werden und nach der – vertraglichen oder hoheitlichen – Inanspruchnahme Privater.Footnote 42 Insbesondere bei großflächigen Lagen kann es vorkommen, dass eine Stelle, Organisation oder Körperschaft von mehreren lokal oder regional für die für die Lagebewältigung zuständigen Behörden um Amts-, Nachbarschafts- oder Katastrophenhilfe gebeten wird, aber ihrerseits nicht über die Ressourcen verfügt, alle Anfragen zu bedienen. Dann ist zu entscheiden, welcher Anfrage in welchem Umfang und ggf. in welcher Reihenfolge nachgekommen werden soll.

3 Katastrophen als Sachlagen, die Prioritätensetzung erfordern

3.1 Durch MANV geprägte Lagen

Großschadenslagen können durch eine Vielzahl medizinisch behandlungsbedürftiger Personen geprägt sein, einen sog. Massenanfall an Verletzten oder Erkrankten (MANV). Unabhängig davon, ab wie vielen verletzten Personen von einem MANV gesprochen werden kannFootnote 43 und in welche „MANV-Stufen“Footnote 44 solche Lagen eingeteilt werden, sind sie gekennzeichnet durch eine Überforderung der (zunächst) verfügbaren Rettungskräfte. Diese müssen daher entscheiden, bei welchen Patienten sie mit der Behandlung beginnen und welche Patienten zuerst zur Weiterbehandlung in die Krankenhäuser gebracht werden. Die Notwendigkeit der Priorisierung kann sich in den Krankenhäusern fortsetzen, wenn die Zahl der vom Rettungsdienst eingelieferten und der eigenständig die Krankenhäuser aufsuchenden Patienten die dortigen Behandlungskapazitäten übersteigt (vgl. Reichenbach et al. 2008, S. 46). Kapazitätsengpässe können dort durch diverse nur begrenzt vorhandene Ressourcen hervorgerufen werden, wie Untersuchungsgeräte, OP-Räume, Intensivbetten, Spezialbetten für Brandverletzte, Beatmungsgeräte sowie das Behandlungspersonal. MANV-Lagen können sowohl durch plötzliche Ereignisse (Unfälle, Anschläge, Ausschreitungen oder Panik bei Großveranstaltungen) als auch durch gehäuft auftretende schwere Infektionskrankheiten ausgelöst werden.

3.2 Komplexe Lagen

Erheblich komplexer ist die Prioritätenbildung bei Schadenslagen, in denen eine Vielzahl von Schutzgütern betroffen ist, zwischen denen ihrerseits Wechselwirkungen bestehen. Bereits bei ‚alltäglichen‘ Schadenslagen können schnell diverse Rechtsgüter betroffen sein. Je großflächiger und lang andauernder eine Schadenslage ist, desto komplexer werden betroffene Rechtsgüter, Konkurrenzen zwischen gleichrangigen Rechtsgütern und Wechselwirkungen der Maßnahmen zur Lagebewältigung. Beispielhaft seinen als „Schlüsselszenarien“ (Reichenbach et al. 2008, S. 16) der großflächige, mehrtägige Stromausfall und die Pandemie genannt.

3.2.1 Beispiel Stromausfall

Ein Stromausfall ist gekennzeichnet durch eine Betroffenheit aller Lebensbereiche.Footnote 45 In der heutigen modernen Gesellschaft besteht eine umfassende Abhängigkeit von der Stromversorgung. Betroffen sind alle Wirtschaftszweige, auch die für die Versorgung der Bevölkerung mit lebenswichtigen Gütern, wie die Lebensmittelproduktion (Landwirtschaft und Lebensmittelverarbeitung), Lebensmittellagerung (Kühlung), Trinkwasserversorgung – und damit z. T. Löschwasserversorgung (vgl. BT-Drs. 17/5672, S. 70) – und Abwasserentsorgung (stromabhängige Wasseraufbereitungsanlagen, Pumpen und Kläranlagen [vgl. BT-Drs. 17/5672, S. 68]). Die Treibstoffversorgung – und damit die Transportlogistik für alle Wirtschaftsbereiche, die Einsatzfahrzeuge von Polizei, Feuerwehr, Rettungsdienst und Hilfsorganisationen sowie der Individualverkehr – ist stromabhängig. Bei der Produktion pflanzlicher Lebensmittel sind bei einem Stromausfall z. B. Bewässerung, Klimatisierung, Ernte und Lagerung eingeschränkt (vgl. BT-Drs. 17/5672, S. 72). In der Massentierhaltung fallen elektronisch gesteuerte Heizungs-, Lüftungs- Fütterungs- und Melkanlagen aus. Im Lebensmittelhandel sind Waren je nach Sortiment nur für ein bis 4,5 Tage für den durchschnittlichen Verbrauch vorrätig (Grimm 2011, S. 57). Apotheken sind im Betrieb, bei der Nachbestellung und v. a. der Kühlung von Medikamenten eingeschränkt (vgl. BT-Drs. 17/5672, S. 81, 83). Zusätzlich funktionieren Kassen und automatische Türen in den Geschäften nicht mehr. Auch Geldautomaten benötigen Strom, ebenso wie Telefone, Telefon- und Internetübertragungstechnik, ein Großteil des Bahnverkehrs,Footnote 46 Straßen- und U-Bahnen, Zeitung und Rundfunk. Im Gesundheitswesen werden medizinische Geräte (in Krankenhäusern, Arztpraxen, Pflegeheimen, Dialysezentren etc., teils auch zu Hause) mit elektrischer Energie betrieben. Die Notstromversorgung der Krankenhäuser reicht nicht aus, um einen eingeschränkten Krankenhausbetrieb insgesamt aufrecht zu erhalten (vgl. Reichenbach et al. 2008, S. 24; BT-Drs. 17/5672, S. 11, 80). In einigen Industriebetrieben kann die Störfallgefahr steigen, wenn etwa notwendige Kühlungen ausfallen (Reichenbach et al. 2008, S. 16).

Stromausfallbedingte Beeinträchtigungen in diesen Bereichen wirken sich auf Privathaushalte ebenso aus wie auf Gemeinschaftseinrichtungen, Kantinen, Krankenhäuser, Pflegeheime, ambulante Pflegedienstes, Behörden, Gerichte, Justizvollzugsanstalten, sämtliche Gewerbebetriebe und Dienstleistungsunternehmen, soweit sie nicht über eine vom allgemeinen Netz unabhängige Stromversorgung verfügen. Die meisten Heizungen und Kochmöglichkeiten fallen ohne Strom aus. Betroffen sind nicht zuletzt auch die Einsatz- und Hilfskräfte von Feuerwehr, Rettungsdienst, Katastrophenschutz und Polizei.Footnote 47 Hilfskräfte haben wegen ausfallender Verkehrsinfrastruktur Probleme zum Einsatz zu kommen, sofern sie sich – insbesondere ehrenamtliche Kräfte – wegen der persönlichen Betroffenheit überhaupt an ihre Einsatzstellen begeben.

Bei großflächigen und längerfristigen Lagen können in aller Regel mit den in einer betroffenen Fläche vorhandenen Ressourcen nicht alle erforderlichen Maßnahmen geleistet werden. Die Katastrophenschutzbehörden und Rettungskräfte haben dann zu entscheiden, welche Funktionen sie über Notstromversorgung weiter aufrecht erhalten, bis die allgemeine Stromversorgung wieder hergestellt ist, welche Unterstützung sie ggf. zu dieser Wiederherstellung leisten können und welche sonstige Hilfe sie leisten. Insgesamt ist daher eine Prioritätensetzung erforderlich, an welchen der zahlreichen Stellen Hilfe geleistet wird, sowie bei der Auswahl zwischen verschiedenen Hilfsmaßnahmen. Zentrales, alle Bereiche übergreifendes Problem ist die Treibstoffversorgung für Notstromaggregate, die Einsatzfahrzeuge der Rettungs- und Hilfskräfte sowie die Lieferlogistik. Zweites zentrales Problem ist die Rekrutierung der erforderlichen Personalreserven, da auch die Helfer selbst betroffen sind. Dabei sind nicht alle Maßnahmen von staatlichen Stellen und den Mitwirkenden im Katastrophenschutz selbst zu erfüllen. Auch private Unternehmer können zu Dienst-, Werk- und Sachleistungen herangezogen werden. Eine Grenze hierfür setzten v. a. deren faktische Handlungsmöglichkeiten. Zielsetzungen verschiedener Maßnahmen sind dabei:

  • Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit der Hilfskräfte und in die Lagebewältigung involvierter Behörden und privater Einrichtungen und Unternehmen,

  • Schutz von Leben und Gesundheit von Menschen,

  • Sicherung lebenswichtiger Versorgung, (provisorische) Herstellung der versorgungswichtigen Infrastruktur

  • Schutz des Lebens von Tieren, insbesondere der Massentierhaltung,

  • Schutz vor schädlichen Umweltauswirkungen (Verhinderung von Stör- und Unfällen),

  • Schutz von Sachwerten,

  • Minimierung wirtschaftlicher Schäden.

Die erforderlichen Entscheidungen fokussieren sich auf

  • die Verteilung der verfügbaren mobilen Notstromaggregate,

  • die Verteilung der Treibstoffreserven und des Treibstoffnachschubs,

  • die Organisation medizinischer Versorgung,

  • die Verteilung von Trinkwasser, Lebensmitteln, Medikamenten,

  • Art und Maß der Inanspruchnahme Privater zur Unterstützung bei der Lagebewältigung,

  • die Entscheidung zwischen Versorgung und Evakuierung (soweit Evakuierung in nicht betroffene Bereiche möglich ist),

  • Nutzungsbeschränkungen,

  • das Maß der erbetenen Hilfe aus nicht betroffenen Gebieten.

3.2.2 Beispiel Pandemie

Ein zweites Schlüsselszenario ist die Pandemie.Footnote 48 Die Bekämpfung hoch ansteckender Infektionskrankheiten mit schwerwiegenden Krankheitsverläufen ist zunächst eine Angelegenheit des Gesundheitswesens. Vorsorgemaßnahmen des Gesundheitswesens bestehen in der Bevorratung von Medikamenten für Influenzapandemien,Footnote 49 Beschaffung und Verteilung von Impfstoffen, sobald und soweit sie zur Verfügung stehen, sowie der Infektionssurveillance nach §§ 6 ff., 13 f. IfSG, wonach bestimmte Krankheiten nach verschiedenen Verfahrensweisen meldepflichtig sind.

Bei der Lagebewältigung steht die Organisation von Krankenhauskapazitäten (vgl. dazu BBK und RKI 2007, S. 388; Pohlmann 2012, S. 364 ff.) sowie der ambulanten medizinischen VersorgungFootnote 50 (vgl. dazu Pohlmann 2012, S. 373 ff.) im Vordergrund. Hohe Krankheitsraten können die Kapazitäten der ambulanten wie stationären medizinischen Versorgung an ihre Grenzen bringen.Footnote 51 Je nach Krankheitserreger und -verlauf können unterschiedliche Ressourcen in besonders hohem Maße beansprucht und damit ggf. zum Engpass werden z. B. intensivmedizinische Ausstattung, Beatmungsgeräte bei Influenza,Footnote 52 Dialysegeräte bei EHEC (vgl. Pergande 2011), Medikamente, Isoliertransportfahrzeuge (vgl. dazu Bartels und Steffler 2007, S. 343 ff.); Kapazitäten der speziellen Behandlungszentren für hochkontagiöse, gefährliche Krankheiten (vgl. dazu BBK und RKI 2007, S. 388), aber auch Atemschutzmasken und Handschuhe für das Personal (vgl. Bergmann und Wever 2006, S. 980; Cwojdzinski und Poloczek 2008, S. 136). Die Personalorganisation wird nicht nur mit erhöhten Bedarf durch erhöhte Patientenzahlen konfrontiert, verschärft wird das Problem durch pandemiebedingten Personalausfälle – auch in Verwaltung, Technik, Ver- und Entsorgung (vgl. Cwojdzinski und Poloczek 2008, S. 136), Reinigungskräfte, Küche, Wäscherei etc., die zumindest teilweise an Fremdfirmen vergeben sind (vgl. Degener-Hencke 2010, § 5 Rn. 72 ff.). Es kann die Notwendigkeit der Rekrutierung zusätzlichen medizinischen wie nichtmedizinischen Personals entstehen.Footnote 53 Problematisch kann zudem die medizinische Situation in Alten- und Pflegheimen sowie die Versorgung alleinstehender erkrankter Personen werden, die ihre Wohnung krankheitsbedingt nicht mehr zum Einkaufen von Lebensmitteln verlassen können.Footnote 54

Zur Verhinderung oder zumindest Verzögerung der Krankheitsausbreitung stehen den Gesundheitsbehörden umfangreiche Eingriffsbefugnisse nach dem IfSG zur Verfügung. Sie können Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige und Ausscheider unter Beobachtung (§ 29 IfSG) und unter Quarantäne (§ 30 IfSG) stellen, berufliche Tätigkeitsverbote erlassen (§ 31 IfSG, soweit nicht nach anderen Gesetzen bereits Verbote bestehen). Nach § 28 IfSG können sie Gemeinschaftseinrichtungen für Kinder und Jugendliche (u. a. Schulen und Kindergärten) schließen, Veranstaltungsverbote erlassen und Veranstaltungs- und Versammlungsstätten schließen, Betretensverbote und sonstige erforderliche Maßnahmen erlassen (näher dazu Pohlmann 2012, S. 316 ff.). Damit haben die Gesundheitsbehörden nicht nur die Möglichkeit, Anordnungen gegenüber einzelnen Personen zu treffen. Sie können „alle Gelegenheiten zu erhöhter sozialer Dichte“ (Dombrowsky 2011, S. 39) unterbinden und damit Maßnahmen treffen, die erhebliche gesellschaftliche und wirtschaftliche Auswirkungen haben können.

Zu den Katastrophenszenarien wird die Pandemie deshalb gezählt, weil über die gesundheitlichen Fragen hinaus weitreichende gesellschaftliche Folgen befürchtet werden. Hintergrund hierfür sind die möglichen hohen Personalausfälle von erkrankten Personen und/oder deren Angehörigen (z. B. Eltern erkrankter Kinder), die dazu führen können, dass auch die für die Versorgung der Bevölkerung und das öffentliche Leben insgesamt erforderlichen Produktion und Dienstleistungen nicht ausreichend aufrecht erhalten werden können. Auch die Pandemie gehört dabei – wie der Stromausfall – zu den Szenarien, bei denen die Hilfskräfte selbst betroffen sind. Einem erhöhten Hilfebedarf stehen daher reduzierte Hilfeleistungsmöglichkeiten gegenüber. Zudem handelt es sich bei der Pandemie nicht um ein zeitlich und örtlich punktuelles Ereignis, sondern um eine Dauerlage. Dies schränkt die Möglichkeiten der Hilfe von außen sowie die Verfügbarkeit von insbesondere ehrenamtlichen Helfern über die Zeitdauer der Pandemie ein.

Neben Engpässen in der medizinischen Versorgung werden u. a. befürchtet:

  • Versorgungsengpässe bei Lebensmitteln aufgrund von Ausfällen in der Produktion und in der Transportlogistik (‚Just-in-time‘-Lieferungen) (dazu Grimm 2011, S. 57), und bei Medikamenten (vgl. Wagner 2009, S. 547; Wagner 2009a, S. 579),

  • Schwierigkeiten bei der Verteilung von Impfstoffen, Medikamenten und Einhaltung von Priorisierungen bei deren Verteilung (vgl. Pandemieplan Hessen S. 20),

  • Lücken in der Versorgung alter oder pflegebedürftiger Menschen durch ambulante Pflegedienste, ‚Essen auf Rädern‘ u. ä., Gefährdung der Selbstversorgung insb. alleinstehender Erkrankter (oder unter Quarantäne Gestellter), die zum Einkaufen das Haus nicht verlassen können oder dürfen,

  • Einschränkungen bei Dienstleistungen aller Art, im öffentlichen Personenverkehr (vgl. Ohde 2007, S. 25), von Kinderbetreuungsmöglichkeiten (auch ohne Schließung von Einrichtungen nach § 28 IfSG), Wartezeiten bei Bestattungen,Footnote 55

  • Probleme bei der Überwachung und Durchsetzung behördlich angeordneter Infektionsschutzmaßnahmen,

  • Lieferprobleme bei Kraft- und Heizstoffen, Beeinträchtigungen in der Energie- und Trinkwasserversorgung, Abwasser- und Abfallentsorgung,Footnote 56 bei Datennetzen, Telekommunikation,

  • Notwendigkeit der polizeilichen Sicherung von Engpassressourcen (vgl. Pandemieplan Hessen, S. 19, für Impfstoffvorräte).

Die Hauptzielrichtungen von Maßnahmen im Pandemiefall sind daher:

  • Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit der Hilfskräfte und in die Lagebewältigung involvierten Behörden und privaten Einrichtungen und Unternehmen,

  • Schutz von Leben und Gesundheit von Menschen,

  • die Verhinderung oder zumindest Verzögerung der Krankheitsausbreitung. Sie dient zum einen dem individuellen Gesundheitsschutz, zum anderen der Geringhaltung der Krankheitslast in der Bevölkerung und damit der Vermeidung der befürchteten gesellschaftlichen Auswirkungen,

  • die Sicherstellung der medizinischen Versorgung der Erkrankten,

  • die Aufrechterhaltung der essentiellen Versorgungsdienstleistungen,

  • die Reduzierung der wirtschaftlichen Auswirkungen.Footnote 57

Eine Prioritätensetzung ist im medizinischen Bereich erforderlich, bei der Festlegung

  • einer Reihenfolge von Impfungen,

  • ggf. bevorzugter Gruppen bei der Verteilung kurativer Medikamente,

  • von Indikationen für eine Krankenhausaufnahme,

  • bei Entscheidungen, welche anderen medizinischen Leistungen für die Pandemiedauer nicht erbracht werden.

Auch Maßnahmen zur Verhinderung bzw. Verzögerung der Krankheitsausbreitung bedürfen der Abwägung mit gesellschaftlichen Folgen. Die Schließung von Schulen und Kindergärten bspw. hat zur Folge, dass Eltern auch zur Betreuung gesunder Kinder ihren Arbeitsplätzen fernbleiben. Hierdurch kann sich das Personalproblem zusätzlich verschärfen (Ohde 2007, S. 26). Bei der Schließung von Versammlungsstätten und dem Verbot von Veranstaltungen sind die wirtschaftlichen Schäden für Betreiber und Veranstalter zu berücksichtigen, die – insbesondere bei mehrwöchiger Dauer – zum wirtschaftlichen Ruin führen können. Bei Reduzierung des öffentlichen Personenverkehrs ist zu beachten, dass viele Berufstätige, die für die Aufrechterhaltung wichtiger Versorgungsinfrastruktur benötigt werden, auf öffentlichen Personenverkehr angewiesen sind.

Die erforderlichen Entscheidungen fokussieren sich auf

  • die Verteilung des zur Lagebewältigung erforderlichen Personals,

  • Organisation der medizinischen Versorgung,

  • Organisation der Verteilung von Medikamenten, Trinkwasser und Lebensmitteln,

  • die Verteilung der Treibstoffreserven und des Treibstoffnachschubs,

  • Art und Maß der Inanspruchnahme Privater zur Unterstützung bei der Lagebewältigung,

  • Abwägung der Effektivität von Gesundheitsschutzmaßnamen mit deren Auswirkungen auf die Lageentwicklung und -bewältigung.

4 Methoden der Verteilung von Mangelressourcen

FuchsFootnote 58 unterscheidet als Methoden der Verteilung von Mangelressourcen die Absenkung des Versorgungsstandards, Rationierung und Priorisierung. Diese Einteilung lässt sich auf die verschiedenen Ebenen der Prioritätensetzung übertragen.

Die Absenkung von Versorgungsstandards bedeutet, dass zwar alle diejenigen, die einer Ressource benötigen, sie auch bekommen, aber in geringerer Qualität. Beispiel kann etwa Wasserversorgung in verminderter Wasserqualität bei einem Stromausfall sein, wenn keine ausreichende Trinkwasseraufbereitung zur Verfügung steht, oder die Unterbringung in Zelten statt Wohnungen bei Evakuierungen.

Auf vorgelagerten Ebenen findet sich diese Methode etwa bei der Verteilung der verfügbaren Haushaltsmittel wider. Die Grenzen der insgesamt verfügbaren Mittel bedeuten nicht, dass manche Bereiche ‚leer ausgehen‘, sondern es wird ggf. auf alle Bereiche weniger verteilt. In die Kategorie fällt auch die Festlegung von Sicherheitsstandards bei der Schadensvermeidung, die aus wirtschaftlichen Gründen ggf. geringer ausfallen, als tatsächlich möglich wäre. Für die Katastrophenvorsorge findet bei der Festlegung von Schutzzielen die Definition beabsichtigter Versorgungsstandards statt. Auch die Wahl zwischen verschiedenen Mitteln, ein beabsichtigtes Ziel der Vermeidung und Vorsorge zu erreichen, kann zu einem geringeren als dem letztlich angestrebten Standard führen (z. B. freiwillige Pandemieplanungen oder Notstromversorgung für bestimmte Unternehmen lebenswichtiger Versorgung oder rechtliche Verpflichtung hierzu). Dabei kann ein zunächst geringerer Standard auch ein erster Schritt zur Anpassung von Vermeidungs- und Vorsorgestandards an im Laufe der Zeit veränderte Rahmenbedingungen sein.

Eine Verringerung des Vermeidungs- und Vorsorgestandards auf der Makroebene erhöht dabei die Schadenswahrscheinlichkeit und der Wahrscheinlichkeit von Ressourcenmangel bei der konkreten Lagebewältigung.

Rationierung bedeutet das bewusste Vorenthalten eigentlich notwendiger Maßnahmen (Brech 2008, S. 75; Isensee 2005, S. 422; Nettesheim 2002, S. 317). Sie erfolgt dort, wo die gesamten verfügbaren Kapazitäten den Bedarf nicht decken können. Sie lässt sich weiter in offene und verdeckte, weiche und harte sowie direkte und indirekte Rationierung unterteilen (vgl. Brech 2008, S. 84 ff.; Isensee 2005, S. 422 ff.; Nettesheim 2002, S. 317 ff.). Beispiele finden sich im Gesundheitswesen bei den Leistungsausschlüssen von der gesetzlichen Krankenversicherung (Isensee 2005, S. 422). Im Gesundheitswesen wird insbesondere im Zusammenhang mit der Budgetierung der Vorwurf erhoben, Leistungen würden Patienten im Hinblick auf das begrenzte Budget vorenthalten, ohne dies offenzulegen (Brech 2008, S. 85 f.).

Priorisierung ist die Erstellung einer Rangfolge nach bestimmten Kriterien, etwa nach Dringlichkeit oder Wichtigkeit. Solche Rangfolgen können sich auf der Makroebene ebenso wiederfinden wie auf der Mikroebene. So kann bei der Ressourcenbeschaffung für die Bewältigung von bestimmten Schadenslagen eine zeitliche Staffelung beschlossen werden oder die Vorbereitung auf verschiedene Lagen nacheinander erfolgen. Auf der Mikroebene kann sich eine Rangfolge sowohl auf die Hilfebedürftigen als auch auf möglichen Maßnahmen beziehen.

Die verschiedenen Methoden schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern können sich ergänzen. Sowohl auf den Makroebenen als auch bei der konkreten Lagebewältigung kann zur Verteilung von Mangelressourcen auch die Entscheidung zwischen den verschiedenen Verteilungsmethoden gehören. Gerade in Großschadenslagen können verschiedene Maßnahmen ihrerseits von solcher Komplexität sein, dass sie weniger einer der genannten Verteilungsmethoden zuzuordnen sind, sondern sich mehr als der Wahl zwischen unterschiedlichen Kombinationen und Stufen dieser Methoden darstellen. Auch ist eine klare Abgrenzung nicht immer möglich: So wird die Priorisierung zur Rationierung, wenn die nachrangig Eingestuften die Leistung auch später nicht erhalten, weil entweder die Kapazitäten erschöpft oder – möglich bei Gesundheitsleistungen – zuvor verstorben sind. Bei allen Verteilungsmethoden können grds. – gewissermaßen auf der Makroebene – Kriterien für die Verteilung auf der Mikroebene vorab festgelegt werden.

5 Rechtliche Anforderungen an Vermeidung und Vorsorge

Die Prioritätensetzung hinsichtlich der Festlegung und Dimensionierung von Vermeidungs- und Vorsorgemaßnahmen sowie für die Entscheidung zwischen staatlicher Vorsorge und der Verpflichtung Privater hierzu, ist im Wesentlichen eine politische Entscheidung, für die erheblicher Beurteilungsspielraum besteht. Insbesondere Vermeidung, z. T. auch Vorsorge, findet zudem in erster Linie in allen Bereichen der Gefahrenabwehr statt und durchzieht zahlreiche Rechtsmaterien. Hier seien nur einzelne Bereiche beispielhaft benannt. Rechtlich ausgeformte Anforderungen und Standards spiegeln dabei das Ergebnis eines Abwägungsprozesses und damit von Prioritätensetzungen wieder.

5.1 Rechtliche Regelungen zur Katastrophenvermeidung und -vorsorge

Einige rechtliche Anforderungen an die Katastrophenvermeidung und -vorsorge wurden oben (Abschn. 2.1) bereits angesprochen. Zur Vorsorge für den Katastrophenfall haben Katastrophenschutzbehörden Notfallpläne aufzustellen,Footnote 59 die notwendigen Leitungsstrukturen (Krisenstäbe, Technische EinsatzleitungenFootnote 60) einzurichten, Katastrophenschutzeinheiten aufzustellen und auszurüstenFootnote 61, ggf. zentrale Katastrophenschutzlager einzurichten und zu unterhaltenFootnote 62 und ÜbungenFootnote 63 durchzuführen. Zu den Leitungsstrukturen zählen Leitstellen, die ganz überwiegend als Integrierte Leitstellen für Feuerwehr, Rettungsdienst und Katastrophenschutz betrieben werden.Footnote 64 Vergleichbare Verpflichtungen bestehen für den Brandschutz und die allgemeine/technische Hilfeleistung, auf denen der Katastrophenschutz ganz wesentlich aufbaut.Footnote 65 In Übungen können die Mitwirkenden im Katastrophenschutz sowie Betreiber gefährlicher Anlagen einbezogen werden.Footnote 66 Nicht genannt sind Betreiber kritischer Infrastrukturen, deren Ausfall Katastrophen zur Folge haben kann, wie Energieversorger, oder von Katastrophen betroffene private Einrichtungen, wie Pflegeheime. Hier besteht nur die Möglichkeit der Einbeziehung auf freiwilliger Basis.Footnote 67

Im Gesundheitswesen hängen die Bewältigungskapazitäten bereits von den allgemeinen Planungen ab. Krankenhäuser sind zu Notfallplanungen verpflichtet.Footnote 68 Apotheken haben bestimmte Arznei- und Sanitätsmittel zu bevorraten.Footnote 69 Für medizinische Berufe bestehen spezielle FortbildungspflichtenFootnote 70 sowie Pflichten zur Teilnahme an ÜbungenFootnote 71. Teilweise ist auch die Pflicht zur Teilnahme an Einsätzen normiert.Footnote 72

Betreiber potentiell gefährlicher Anlagen sind verpflichtet oder können verpflichtet werden Werkfeuerwehren aufzustellen,Footnote 73 Störfallbeauftragte zu benennen,Footnote 74 Notfallpläne aufzustellen,Footnote 75 die zuständigen Behörden über besondere Vorkommnisse zu informieren, sichere Kommunikationsmöglichkeiten mit den Katastrophenschutzbehörden und Warnsirenen einzurichten, geeignete Löschmittel und anderer Ausrüstung und Einrichtungen bereitzuhalten,Footnote 76 sowie Übungen durchzuführen oder sich daran zu beteiligen.Footnote 77 Für Versorgungsengpässe mit Erdöl und Erdölerzeugnissen bestehen Bevorratungspflichten nach dem ErdölBevG.

Bei der Sichtung bestehender Vorschriften zur Schadens- und Katastrophenvorsorge fallen bereits mögliche Lücken auf: In der Krankenhausfinanzierung sieht das derzeitige System der Pflegesätze und der Krankenhausbudgets keine Finanzierungstatbestände für die Mitwirkung im Katastrophenschutz und bei MANV-Lagen vor (dazu näher Pohlmann 2012, S. 351 ff.). Nicht in allen Bundesländern wird die Bewältigung eines MANVFootnote 78 oder die Mitwirkung im KatastrophenschutzFootnote 79 explizit als Aufgabe des Rettungsdienstes benannt oder der Rettungsdienst als solcher per Gesetz zu den Mitwirkenden im Katastrophenschutz gezählt.Footnote 80 Soweit in zunehmendem Maß private Leistungserbringer in die Notfallrettung einbezogen werden, kann dies zu Lücken bei den verfügbaren Ressourcen, betriebs- oder rettungsdienstbereichsübergreifenden Einsätzen, der Einsatzbereitschaft für den Katastrophenfall und der Verpflichtung zu Übungen führen (näher zu diesem Problem Pohlmann 2012, S. 216 ff.).

Verpflichtungen zur Notstromversorgung finden sich nur selten.Footnote 81 Ob und inwieweit Betriebe aus Eigeninteresse Notstromversorgung in welchem Umfang bereithalten, dürfte sehr vielgestaltig ausfallen (vgl. BT-Drs. 17/5672, S. 11, 50, 51, 65, 73, 74, 78, 81, 82). In erheblichen Umfang muss auch in lebenswichtigen BereichenFootnote 82 vom weitgehenden Fehlen entsprechender Vorsorge ausgegangen werden. Nur wenige Tankstellen verfügen über einen Einspeisepunkt für Notstrom (vgl. Kircher 2011, S. 851). Bislang nicht vorhanden sind Vorschriften zur SchwarzstartfähigkeitFootnote 83 von Kraftwerken zum Wideraufbau der Stromversorgung bei einem großflächigen Stromausfall.

Pandemieplanungen bestehen inzwischen in Bund, Ländern und Kommunen, ohne dass dies bislang gesetzlich vorgeschrieben ist. Bereits für das Gesundheitswesen sind entsprechende Planungen am ehesten unter die allgemeinen Pläne zur MANV-Bewältigung oder Hygienepläne zu fassen (vgl. Pohlmann 2012, S. 349 ff.; 392 f.). Pandemiepläne der Bundesländer gehen zwar z. T. davon aus, dass etwa bei Energie-, Wasser- und Telekommunikations- oder Verkehrsunternehmen Pandemieplanungen bestehen bzw. anderweitige Notfallpläne an pandemiebedingte Personalausfälle angepasst werden (vgl. Pandemieplan NRW, S. 35). Entsprechende gesetzliche Verpflichtungen sind aber für keinen Wirtschaftsbereich ersichtlich (vgl. Pohlmann 2012, S. 393 ff.), trotz der oben skizzierten möglichen Folgen einer Pandemie für die Gesellschaft.

Z. T. besteht Vorsorge über gesetzliche Vorschriften hinaus, etwa Arznei- und Sanitätsmittelbevorratung für MANV-Lagen, deren Beschaffung durch die BundesländerFootnote 84 oder den BundFootnote 85 finanziert wird. Der Bund hat eine ‚Zivile Notfallreserve‘ mit Reis, Hülsenfrüchten, Kondensmilch und Vollmilchpulver sowie eine ‚Bundesreserve Getreide‘ aus Weizen und Hafer angelegt.Footnote 86 Der Umfang der Vorsorge, der von privaten Unternehmen und den einzelnen Bürgern getroffen wird, ist allerdings eine große Unbekannte im System der Gefahrenvorsorge und damit auch bei der Vorbereitung der Katastrophenschutzbehörden.

5.2 Verfassungsrechtliche Anforderungen

Bei der Abwägung der Anforderungen und Maßnahmen der Katastrophenvermeidung und -vorsorge mit anderen politischen Zielen können Grundrechte eine Rolle spielen. Grundrechte werden nicht ausschließlich als Abwehrrechte gegen staatliche Maßnahmen verstanden, sondern aus ihnen werden Schutzpflichten hergeleitet. Insbesondere für das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG wird aufgrund des überragenden Wertes dieser Rechtgüter die Pflicht des Staates abgeleitet, sich fördernd vor das Leben jedes Einzelnen zu stellen, das heißt vor allem, es vor rechtswidrigen An- und Eingriffen von Seiten Dritter zu bewahren.Footnote 87 Diese Schutzpflicht umfasst jedoch auch Vorsorgemaßnahmen (Schulze-Fielitz 2004, Art. 2 II, Rn. 80). Sie gilt auch nicht nur gegenüber rechtwidrigen Eingriffen, sondern gleichermaßen bei sonstigen drohenden erheblichen Gefahren, wie Katastrophen gleich welcher Ursache.Footnote 88 Dies gilt insbesondere für Situationen, die durch die Betroffenen nicht autonom regulierbar sind und für die sie selbst keine Vorsorge treffen können oder dürfen (Stober 2008, S. 47).

Schutzpflichten können auch aus anderen Grundrechten (z. B. Art. 14 GG) hergeleitet werden (BVerfG, NVwZ 2010, 114 [115, Rn. 23]). Im Bereich von Infrastrukturen (z. B. Verkehr, Versorgung, Kommunikation) lässt sich eine staatliche Gewährleistungsverantwortung für eine flächendeckende, angemessene und ausreichende Infrastruktur aus der Schutzfunktion der Grundrechte in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip und Regelungen wie Art. 87 f Abs. 1 GG herleiten (Würtenberger 2011, S. 572).

Soweit aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG (Kloepfer und Deye 2009, S. 1218) sowie dem Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 GGFootnote 89 eine leistungsrechtliche Dimension dann hergeleitet wird, wenn aufgrund der Vorenthaltung medizinischer Behandlung Lebensgefahr oder die Gefahr eines würdelosen Daseins für die Betroffenen bestünde,Footnote 90 steht ein solcher Anspruch unter dem Vorbehalt des Möglichen, d. h. auch vorhandener Kapazitäten bzw. der staatlichen Leistungsfähigkeit (Brech 2008, S. 193; Kloepfer und Deye 2009, S. 1219).

Hinsichtlich der Vorsorge in den für die Katastrophenbewältigung relevanten Bereichen bedeutet dies zunächst, dass ein funktions- und leistungsfähiges Gesundheitssystem einzurichten ist, das die medizinische Versorgung für ein menschenwürdiges Leben und lebensnotwendige Behandlung ermöglicht.Footnote 91 Ebenso ist erforderlich, ein zuverlässiges Rettungswesen bereitzustellen und „Vorkehrungen gegen Naturgewalten“ zu treffen (Würtenberger 2011, S. 577).

Technischen Entwicklungen, durch die neue Gefahren geschaffen werden, muss der Staat in einer die Grundrechte schützenden Weise begleiten und die Risiken durch geeignete Maßnahmen minimieren (Pieroth und Schlink 2011, Rn. 110). Bei Risikotechnologien (z. B. Atomkraft) sind die Schutzpflichten jedenfalls durch Vorschriften erfüllt, die so gefasst sind, dass es nicht zu einer Grundrechtsverletzung kommen kann (z. B. Schadensvorsorge nach dem Stand von Wissenschaft und Technik.). Verfassungsrechtlich nicht gefordert ist dagegen, auch ein Restrisiko auszuschließen. Absolute Sicherheit zu fordern, übersteige das menschliche Erkenntnisvermögen und mache jede staatliche Zulassung der Nutzung von Technik unmöglich. Die aus der Abschätzung anhand praktischer Vernunft verbleibenden Risiken sind als sozialadäquate Lasten von den Bürgern zu tragen (BVerfG, NVwZ 2010, 114 [115 f.]). Zur Erfüllung der Schutzpflichten getroffene Regelungen können – bedingt durch neue Entwicklungen und/oder neue Erkenntnisse – zu überprüfen sein (BVerfGE 56, 54 [78]).

Insgesamt kommt dem Staat hinsichtlich der Erfüllung der Schutzpflichten jedoch ein erheblicher Gestaltungsspielraum zu.Footnote 92 Die Frage der Anforderungen an Schutzvorkehrungen oder den Umfang und die Ausstattung der Vorsorgesysteme wie des Gesundheitssystems, Rettungswesens und Katastrophenschutzes ist grds. eine Frage des politischen Ermessens (Nettesheim 2002, S. 323). Den staatlichen Stellen steht somit auch zu, Knappheiten oder Verzögerungen beim Erreichen eines gebotenen Schutzniveaus in Kauf zu nehmen, wenn andere Aufgaben gleicher oder höherer Bedeutung mit den dann verfügbaren Mitteln erfüllt werden sollen (BGHZ 54, 165 [174]; Nettesheim 2002, S. 323), und es muss eine Abwägung mit anderen verfassungsrechtlichen Vorgaben erfolgen (Kaltenborn 2010, § 2 Rn. 5).

Ein Verfassungsverstoß liegt erst dann vor, wenn überhaupt keine Schutzvorkehrungen getroffen wurden oder die getroffenen Regelungen und Maßnahmen gänzlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind, das gebotenen Schutzziel zu erreichen oder erheblich dahinter zurückbleiben.Footnote 93 Auch bei der notwendigen Prüfung bestehender Regelungen und Maßnahmen dahingehend, ob sie den neueren Entwicklungen noch genügen, ist ein Verfassungsverstoß erst dann festzustellen, wenn die ursprüngliche Regelung verfassungsrechtlich untragbar geworden ist und der Gesetzgeber gleichwohl keine oder offensichtlich unzureichende Nachbesserungen getroffen hat (BVerfGE 56, 54, [80 f.]). Dieser weite Gestaltungsspielraum veranlasst Isensee 2005, S. 428 zu der nüchternen Feststellung: „Im Ergebnis bringt die Berufung auf die Schutzpflicht also nichts“.

Aus den Staatszielen Umwelt- und Tierschutz aus Art. 20a GG besteht jenseits des Grundrechtsschutzes eine Verpflichtung des Staates, Beeinträchtigungen der natürlichen Umwelt zu unterlassen und abzuwehren (Murswiek 2011, Art. 20a GG, Rn. 20) sowie Maßnahme zum Schutz der Tiere vor Leiden und Schäden zu ergreifen (Jarass 2011, Art. 20a GG, Rn. 13; Murswiek 2011, Art. 20a GG, Rn. 31b).

Die Erfüllung der staatlichen Schutzpflichten ist in zahlreichen Normen zu Anforderungen an technische Sicherheit, zur Katastrophenvermeidung und -vorsorge und in den Vorsorgeplanungen und Bevorratungen umgesetzt. Dies gilt auch, wenn entsprechende Normen im Detail nicht durch staatliche Stellen festgesetzt, sondern die Normierung Expertengremien übertragen ist (z. B. § 49 EnWG), oder auf Standards wie „anerkannte Regeln der Technik“ (z. B. § 60 Abs. 1 WHG für Abwasseranlagen) verwiesen wird. Eine evidente Verletzung der staatlichen Vermeidungs- und Vorsorgepflichten insgesamt ist aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht erkennbar. Es kann aber eine Überprüfung im Detail erforderlich sein. Wenn etwa bereits der Regelrettungsdienst in manchen Gebieten mit drei Schwerverletzten gleichzeitig an die Leistungsgrenzen stößt,Footnote 94 wäre zu prüfen, ob auf dieser Grundlage eine hinreichende Katastrophenvorsorge aufgebaut werden kann.

Zu den überprüfungsbedürftigen neueren Entwicklungen sind auch die sich ändernden gesellschaftlichen und marktwirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu zählen. In den vergangenen Jahrzehnten ist die Abhängigkeit der Versorgung der Bevölkerung mit lebenswichtigen Gütern wie Lebensmitteln, Trinkwasser und Medikamenten von Just-in-time-Lieferungen deutlich gestiegen.Footnote 95 Ebenso besteht eine umfassende Abhängigkeit aller gesellschaftlichen Bereiche und unmittelbar von Menschenleben von einer funktionierenden Stromversorgung. Diese Wirtschaftsbereiche befinden sich größtenteils in privater Hand. Ausfälle der Versorgung sowie der Infrastrukturen können staatliche Stellen in diesem Umfang nicht kompensieren. Daher ist zu prüfen, wie auf diese Entwicklung zu reagieren ist und wie die Grundversorgung der Bevölkerung auch bei einem großflächigeren und mehr als wenige Stunden andauernden Stromausfall oder bei erheblichem Personalausfall durch eine Pandemie sichergestellt werden kann. Dafür sind verschiedene Wege denkbar. Für Pandemien wird bisher auf – freiwillige – Pandemieplanungen gesetzt und hierzu Empfehlungen herausgegeben (vgl. BBK und Landesgesundheitsamt Baden-Württemberg 2010). Sollte die Vorsorge auf freiwilliger Basis nicht ausreichen, könnten rechtliche Vorgaben erforderlich sein. Für Stromausfälle wäre insb. zu prüfen, ob die bestehenden Vorschriften für Notstromversorgung und Notstromanschlussmöglichkeiten in lebenswichtigen Bereichen noch ausreichend sind. Für konkrete Reaktionen auf diese Entwicklungen besteht allerdings der besagte weite Gestaltungsspielraum.

5.3 Kriterien in der Rechtsprechung zu Hochwasserereignissen

Insbesondere im Zusammenhang mit Hochwasserereignissen gab es in der Vergangenheit Rechtsstreitigkeiten, die die Haftung der Kommunen für nicht ausreichend dimensionierte Vorsorge für Starkregen- oder andere Hochwasserereignisse bzw. nicht ausreichende Sicherungsmaßnahmen bei sich abzeichnendem Schadensereignis betrafen. Anhand der für verschiedene Haftungstatbestände (öffentlich-rechtliche Schuldverhältnisse, Haftung von Anlagenbetreibern, Amtshaftung) entwickelten Grundsätze hatten die Gerichte jeweils zu entscheiden, ob u. a. Regenwasserkanalisation und Gewässerunterhaltung zum schadlosen Wasserabfluss ausreichend dimensioniert waren.

Maßstab für die Grenzen der Haftung aus öffentlich-rechtlichen Schuldverhältnissen oder Gefährdungshaftung von Anlagenbetreibern ist ‚höhere Gewalt‘. Darunter ist ein „betriebsfremdes Ereignis“ zu verstehen, das „von außen durch elementare Naturkräfte oder durch Handlungen dritter Personen herbeigeführt“ wird und das „nach menschlicher Einsicht und Erfahrung unvorhersehbar ist, mit wirtschaftlich erträglichen Mitteln auch durch äußerste, nach der Sachlage vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt nicht verhütet oder unschädlich gemacht werden kann und auch nicht wegen seiner Häufigkeit vom Betriebsunternehmen in Kauf zu nehmen ist“ (BGHZ 109, 8 [14 f.]; BGHZ 159, 19 [22 f.]). „Das Merkmal der höheren Gewalt ist ein wertender Begriff, mit dem diejenigen Risiken von der Haftung ausgeschlossen werden sollen, die bei einer rechtlichen Bewertung nicht mehr dem gefährlichen Unternehmen (Bahnbetrieb, Rohrleitungsanlage usw.), sondern allein dem Drittereignis zugerechnet werden können“ (BGHZ 159, 19 [22 f.]; vgl. zum Begriff der höheren Gewalt auch OLG Hamm, Urt. v. 23.7.2010, Az.: 11 U 14508 [juris Rn. 27]; LG Münster, Urt. v. 29.5.2007, Az.: 9 S 210/06). Auch bei der Haftung aus enteignendem Eingriff kann sich eine Gemeinde oder ein Gewässerunterhaltungspflichtiger nach denselben Grundsätzen auf höhere Gewalt berufen (BGHZ 166, 37 [40 f.]).

Ob unterlassene Vermeidungs- und Vorsorgemaßnahmen einen Amtshaftungsanspruch begründen können, hängt von der Reichweite der Amtspflichten ab. Die Gewährleistung eines schadlosen Hochwasserabflusses dient auch dem Schutz der Anlieger der betreffenden Gewässer (Staupe 2002, S. 506). Diese Amtspflicht beinhaltet, alle erkennbar gebotenen, durchführbaren und wirtschaftlich zumutbaren Maßnahmen des Hochwasserschutzes durchzuführen (BGHZ 54, 165 [174]).

Die Maßstäbe für die verschiedenen Haftungstatbestände sind insofern im Wesentlichen dieselben. Was die Dimensionierung angeht, besteht in der Rechtsprechung Einigkeit, dass jedenfalls nicht alle denkbaren Niederschlagsmengen gefasst werden können. Kanalisation und Gewässer brauchen nicht auf ganz außergewöhnliche, nur in sehr großen Zeitabständen vorkommende Ereignisse (‚Jahrhundertereignisse‘) ausgelegt zu sein.Footnote 96 Daraus darf allerdings nicht vorschnell der Schluss gezogen werden, jede Kanalisation und jeder Hochwasserschutz an Gewässern müsse auf 100-jährige Ereignisse ausgelegt sein (vgl. OLG München, Urt. v. 18.9.2003, Az.: 1 U 2138/93 [juris Rn. 227]). Die Grenze bildet nicht eine absolut geltende Jahreszahl sondern der Rahmen des im konkreten Fall Zumutbaren (BGH, NJW-RR 1991, 733). Dabei ist eine umfassende Würdigung aller in Betracht kommenden Momente vorzunehmen (BGH, DVBl. 1983, 1055 [1058]). Darunter fallen wasser- bzw. abwasserwirtschaftliche und -technische Belange, topographische Gesichtspunkte, die Menge des abzuführenden Wassers, örtliche Begebenheiten, Wahrscheinlichkeit und Ausmaß eines befürchteten Schadens, Durchführbarkeit und Wirtschaftlichkeit von Abwehrmaßnahmen.Footnote 97 Beim potentiellen Schadensausmaß spielen die betroffenen Rechtsgüter eine Rolle (z. B. Wiesen oder Wohnbebauung), sowie Veränderungen im Laufe der Zeit (z. B. heranrückende Bebauung) (BGH, NJW-RR, 1991, 733). Zu entgegenstehenden Zielsetzungen kann der Schutz von Landschafts- und Stadtbildern zählen (OLG München, Urt. v. 18.9.2003, Az.: 1 U 2138/93 [juris Rn. 227]).

Insgesamt kommt es folglich auf eine umfassende Abwägung in der jeweiligen Situation an, die zu einem abgestuften Schutzniveau für unterschiedliche Bereiche führen kann. Abwägungen dieser Art werden von der Rechtsprechung vorgenommen und die konkreten Anforderungen für jeden Einzelfall entschieden, soweit der Gesetzgeber diese Entscheidung nicht zuvor generalisierend getroffen hat. Zwar sind auch rechtliche Vorgaben in Gesetzen, Verordnungen und technischen Regelwerken überprüfbar; dem Gesetzgeber steht aber der o. g. Beurteilungsspielraum zu. Die Normierung der Anforderungen führt daher zu erheblich größerer Rechtssicherheit.

Auch wenn für die Katastrophenvorsorge der Katastrophenschutzbehörden zu beachten ist, dass sie insbesondere dann benötigt werden, wenn die die sektorale Gefahrenabwehr versagt (Trute 2005, S. 346; Pohlmann 2012, S. 44) und aus diesem Gesichtspunkt das (alleinige) Abstellen auf ‚100-jährige Ereignisse‘ als Grenze der Vorsorge problematisch ist, sind gleichwohl vergleichbare Abwägungsgesichtspunkte auch hier heranzuziehen. Dazu gehören Eintrittswahrscheinlichkeit,Footnote 98 Haushaltslage (vgl. OLG München, Urt. v. 5.6.2003, Az. 1 U 3877/02 [juris Rn. 186]), mögliche geschädigte Rechtsgüter und Schadensumfang. Katastrophenvorsorge kann auch nicht die üblichen Infrastrukturen bei Ausfall komplett in gleicher Qualität ersetzen oder bei außergewöhnlichen Schadensereignissen jeden Schaden verhindern.Footnote 99

5.4 Verantwortung für Vermeidung und Vorsorge

Katastrophenvermeidung und -vorsorge kann bei verschiedenen Akteuren angesiedelt sein. Auch wenn aus den Grundrechten Schutzpflichten des Staates bestehen, bedeutet dies noch nicht, dass den Staat auch eine ErfüllungsverantwortungFootnote 100 für die Gewährleistung des Schutzes in allen Bereichen in dem Sinne trifft, dass er diese Aufgaben selbst wahrnehmen und alle Maßnahmen selbst ergreifen müsse. Auch die Handlungsformen sind damit noch nicht vorgegeben. In der Verwaltungswissenschaft werden insofern diverse Formen staatlicher Verantwortung für öffentliche Aufgaben – d. h. von Aufgaben, die maßgeblich im öffentlichen Interesse stehen und dem Gemeinwohl dienen (vgl. BVerfGE 66, 248 [258]; Schmidt-Aßmann 2006, S. 154) – differenziert. Neben der Erfüllungsverantwortung wird die Auffangverantwortung genannt, die eine Reserveposition des Staates bezeichnet, wenn die Aufgaben durch Private nicht in ausreichendem Maß erfüllt werden (vgl. Schoch 2008, S. 244; Schmidt-Aßmann 2006, S. 170). Dazwischen liegt die Gewährleistungsverantwortung, mit der durch gesetzliche Vorgaben auf eine gemeinwohlorientierte Aufgabenwahrnehmung durch Private hingewirkt werden soll (vgl. Schoch 2008, S. 244 f.; Stober 2011, S. 1292). Innerhalb dieses Rahmens werden zahlreiche, sich z. T. überschneidende Unterformen unterschieden, wie Überwachungsverantwortung, Beobachtungsverantwortung, Förderungs- oder Finanzierungsverantwortung, Organisationsverantwortung oder Regulierungsverantwortung (vgl. Schmidt-Aßmann 2006, S. 172). Die Vielfalt dieser Varianten staatlicher Verantwortung für die Sicherung öffentlicher Interessen, den Schutz von Grundrechten und die Sicherstellung von Infrastrukturen spiegelt letztlich die Vielfalt der wahrzunehmenden Aufgaben, der möglichen Formen der Aufgabenerfüllung, der konkurrierenden öffentlichen und privaten Interessen und der jeweils hieraus resultierenden Leistungs- aber auch Gefährdungspotentiale wider. Dabei werden auch Aufgaben, die öffentlichen Interessen und der Allgemeinheit dienen, in erheblichem Maße von Privaten erbracht. Insofern verlagert sich die staatliche Verantwortung auf ein „Privatisierungsfolgenrecht“ (Würtenberger 2011, S. 572).

Die Erfüllung staatlicher Schutzpflichten kann und muss daher in unterschiedlichsten Formen erfolgen, die geeignet sind, den jeweiligen Risiken und Gefahren zu begegnen. Katastrophenvermeidung ist letztlich nur dadurch zu bewirken, dass Gefahrenpotentiale identifiziert werden, die durch das Handeln staatlicher wie privater Stellen entstehen, und diesen durch Normierung von gefahrenmindernden Standards sowie der Überwachung von deren Einhaltung zu begegnen. Auch Gefahrenvorsorge muss der Staat nicht zwingend allein selbst betreiben. Er kann zum einen private Akteure damit beauftragen (z. B. Hilfsorganisationen), zum zweiten potentiellen Gefahrverursachern die Vorsorge für den Fall des Versagens von Vermeidungsmaßnahmen auferlegen (z. B. Aufstellen einer Werkfeuerwehr) und zum dritten Erbringer von Dienst- und Versorgungsleistungen, die für die lebenswichtige Versorgung der Bevölkerung und das öffentliche Leben essentiell sind, Vorsorgemaßnahmen für den Fall von Ausfällen dieser Leistungen oder Infrastrukturen auferlegen (vgl. BVerfGE 30, 292 [310 ff.] für die Erdölbevorratung). Dies gilt sowohl für die Leistungserbringer für den Fall des Ausfalls oder der Einschränkung ihrer eigenen Leistung (z. B. Stromversorger, Lebensmittelhandel), als auch für Leistungserbringer, die ihrerseits von anderen Leistungserbringern abhängig sind (z. B. Krankenhäuser, die von Stromversorgung abhängen). Auch den einzelnen Bürgern können – unter Beachtung der Grundrechte – prinzipiell Vermeidungs- und Vorsorgepflichten auferlegt werden.Footnote 101

Insgesamt steht dem Staat auch hierbei ein erheblicher Gestaltungsspielraum zu. In der Abwägung können Gesichtspunkte wie das aus dem Umweltrecht bekannte Verursacherprinzip (vgl. dazu Sparwasser et al. 2005, § 2 Rn. 31 ff.) Berücksichtigung finden. Zu berücksichtigen ist zudem, dass die staatlichen Mittel zur Vorsorge für verschiedenste Gefahrenlagen begrenzt sind,Footnote 102 und dass bei der umfassenden Erbringung lebenswichtiger Dienstleistungen durch Private in allen Lebensbereichen der Staat nicht in der Lage ist, deren möglichen Ausfall in Katastrophenlagen, wie den oben skizzierten, auch nur ansatzweise zu kompensieren. Hieraus folgt zum einen die Zulässigkeit der Verpflichtung Privater zur Katastrophenvorsorge, zum anderen die Notwendigkeit, auf Notfallvorsorge Privater hinzuwirken. Wer im Normalfall Leistungen erbringt, die für die Versorgung der Bevölkerung lebenswichtig sind, muss zu einer Mindestversorgung auch im Krisenfall in der Lage sein.

6 Prioritätensetzung bei der Lagebewältigung

6.1 Rechtliche Regelungen zur Prioritätensetzung

In den Experteninterviews wurde bei der Frage nach rechtlichen Vorgaben teilweise auf die Werteordnung des Grundgesetzes verwiesen (Interviews P6, P8, P13, P16, P18, P21). Die Existenz einfachgesetzlicher Regelungen, die die Prioritätensetzung vorgeben oder steuern, wurde dagegen in fast allen Interviews verneint. Auch in der Literatur wird eher das Fehlen entsprechender Regelungen festgestellt.Footnote 103 Bei näherer Betrachtung ist festzustellen, dass Regelungen zur Prioritätensetzung in (Groß-)schadenslagen nicht völlig fehlen.

6.1.1 Katastrophenschutz-, Rettungsdienst- und Krankenhausgesetze

Eine klare Rangordnung zwischen verschiedenen Rechtsgütern gibt § 1 Abs. 1 S. 2 bremHilfeG vor: „Die Rettung von Menschen aus Gefahr, die Erhaltung des menschlichen Lebens und die Ausschöpfung aller Möglichkeiten zur Vermeidung oder Überwindung von Gesundheitsschäden haben Vorrang vor jeglichen anderen Maßnahmen zur Verhinderung materieller oder infrastruktureller Schäden gleich welchen Ausmaßes und welcher Art.“ Die meisten Rettungsdienstgesetze normieren den Vorrang der Notfallrettung vor dem Krankentransport.Footnote 104 Die Krankenhausgesetze enthalten, teils in Verbindung mit den Katastrophenschutzgesetzen, eine Pflicht zur NotfallversorgungFootnote 105 und – teils explizitFootnote 106, teils implizitFootnote 107 – den Vorrang der Behandlung von Notfällen.

6.1.2 Sicherstellungs- und Vorsorgegesetze

Den Zielsetzungen und Anwendungsbereichen mancher Sicherstellungs- oder Vorsorgegesetze des Bundes sind Angaben zu entnehmen, welche Bereiche vorrangig zu versorgen sind. Das PTSG bestimmt für den Fall, dass die Versorgung Post- und Telekommunikationsleistungen, insbesondere im Katastrophenfall, erheblich gestört ist (§ 1 Abs. 2 Nr. 1 PTSG), d. h. der Gesamtbedarf nicht gedeckt werden kann, Bevorrechtigte, für die entsprechende Leistungen vorrangig zur Verfügung zu stellen und aufrecht zu erhalten sind. Post- und telekommunikationsbevorrechtigt sind nach § 2 Abs. 2, § 6 Abs. 2 PTSG Verfassungsorgane von Bund und Ländern, Behörden von Bund, Ländern und Kommunen, Gerichte, Dienststellen der Bundeswehr und der stationierten Streitkräfte, Aufgabenträger im Gesundheitswesen, sowie sonstige Stellen, denen die zuständigen Behörden bescheinigt haben, dass sie lebenswichtige Aufgaben erfüllen und hierfür der Post- bzw. Telekommunikationsdienstleistungen bedürfen. Telekommunikationsbevorrechtigt sind zusätzlich Katastrophenschutz-, Zivilschutz- und Hilfsorganisationen, Hilfs- und Rettungsdienste sowie Rundfunkveranstalter (§ 6 Abs. 2 Nr. 5, 7, 8 PTSG).

Das EnSiG, EVG und VerkLG dienen (u. a.) der Sicherstellung der Versorgung mit lebenswichtigem Bedarf an Energie (§ 1 Abs. 1 S. 1 EnSiG), mit Erzeugnissen der Ernährungs- und Landwirtschaft (§ 1 Abs. 1, 2 EVG) bzw. Verkehrsleistungen zur Versorgung mit lebenswichtigen Gütern (§ 1 Abs. 1 Nr. 2 VerkLG). Bei Versorgungskrisen mit lebenswichtigen Gütern sind diese Gesetze Grundlage für Eingriffe in Marktstrukturen. Auch für die Erdölbevorratung sieht § 12 Abs. 1 ErdölBevG eine Verordnungsermächtigung vor, mit der die Belieferung bestimmter Abnehmer vorgeschrieben werden kann, soweit dies „erforderlich ist, um die Versorgung der Bevölkerung oder öffentlicher Einrichtungen mit lebenswichtigen Gütern oder Leistungen sicherzustellen“. Zwar ist in die Freiheit des Einzelnen und die wirtschaftliche Betätigung so wenig wie möglich einzugreifen und die Leistungsfähigkeit der Gesamtwirtschaft so wenig wie möglich zu beeinträchtigen (§ 1 Abs. 4 S. 2 EnSiG; § 3 Abs. 3 EVG). Dennoch hat die „Deckung des lebenswichtigen Bedarfs“ im Ergebnis Vorrang vor der freien wirtschaftlichen Betätigung. Das EnSiG zählt zum lebenswichtigen Bedarf an Energie auch denjenigen zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben und internationaler Verpflichtungen. Bei der Umsetzung dieser Gesetze im Anwendungsfall einer (von der Bundesregierung festzustellendenFootnote 108) Versorgungskrise müsste dieser Vorrang weiter konkretisiert werden.

6.1.3 Vorgaben für Infrastrukturbetreiber

Vereinzelt finden sich Priorisierungsregeln auch in Vorschriften für die Betreiber von Versorgungssystemen. Die VO (EU) Nr. 994/2010 unterscheidet bei Pflichten der Gasversorgung zwischen „geschützten“ und anderen Kunden. Geschützten Kunden sind nach Art. 2 Nr. 1 der Verordnung sämtliche an ein Erdgasverteilernetz angeschlossene Haushaltskunden, die Mitgliedstaaten können dies in gewissem Umfang auf kleine und mittlere Unternehmen sowie wesentliche soziale Einrichtungen erstrecken. Für die Versorgung der geschützten Kunden ist die Belieferung auch bei in Art. 8 der Verordnung definierten außergewöhnlichen Spitzenbedarfen sicherzustellen. Diese Kunden gehen daher anderen Kunden vor.

Den Regelungen von § 13 Abs. 2, 4, § 14 Abs. 1 EnWG ist zu entnehmen, dass die Sicherung des zuverlässigen Betriebes der Stromübertragungs- und Verteilernetze Vorrang vor vertraglichen Lieferverpflichtungen hat. Lassen sich durch vertraglich vereinbarte Netzschaltungen und Zu- oder Abschaltungen von Abnehmern Störungen oder Gefährdungen der allgemeinen Stromversorgung nicht rechtzeitig beseitigen, können die Netzbetreiber auch darüber hinausgehende Maßnahmen ergreifen; vertragliche Leistungsverpflichtungen ruhen solange (§ 13 Abs. 4 EnWG). Die Sicherstellung der allgemeinen Stromversorgung hat damit Vorrang vor einzelnen vertraglichen Lieferverpflichtungen.

6.1.4 Gemeinsames Grundverständnis

Den vorhandenen gesetzlichen Vorschriften zur Prioritätensetzung ist ein gemeinsames Grundverständnis zu entnehmen. Sie gehen aus von

  • einer Priorisierung nach Hilfsbedürftigkeit (Vorrang von Notfällen),

  • einem Vorrang von Leben und Gesundheit vor anderen Rechtsgütern, (‚lebenswichtiger Bedarf‘)

  • einem Vorrang des Versorgungsbedarfs der Allgemeinheit vor Einzelinteressen, (Belieferung geschützter Kunden, Aufrechterhaltung des allgemeinen Stromnetzes),

  • einem Vorrang der Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit staatlicher und anderer Einrichtungen zur Krisenbewältigung (Bevorrechtigte nach PTSG; Bedarf zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben als lebenswichtiger Bedarf).

Mit diesen Regelungen ist auf der Ebene der Schadensvorsorge eine Prioritätensetzung erfolgt. Der Gesetzgeber hat in Ansehung der Möglichkeit von Schadenslagen und Versorgungskrisen eine Entscheidung getroffen, wie Mangelressourcen in der konkreten Lage einzusetzen sind. Diese Regelungen sind allerdings noch sehr allgemein gehalten und bedürfen im Ernstfall erheblicher Konkretisierung.

6.1.5 Generalklauseln

Insgesamt ist aber festzustellen, dass Regelungen zur Prioritätensetzung, auf die sich die Behörden in der konkreten Lagebewältigung stützen könnten, eher punktuell vorhanden und sehr allgemein gehalten sind. Trute (2005, S. 360) und Brech (2008, S. 329) sehen eine gesetzliche Grundlage für die Priorisierungsentscheidungen bei Mangellagen – wenn überhaupt – in den Generalklauseln der Landeskatastrophenschutzgesetze. Für den KatastrophenfallFootnote 109 enthält aber nur ein Teil der Katastrophenschutzgesetze Generalklauseln.Footnote 110 Ob auf die Generalklauseln des allgemeinen Ordnungsrechts zurückgegriffen werden kann, ist für jedes Bundesland im Einzelnen zu klären (vgl. hierzu Sattler 2008, S. 250 ff.). In Lagen unterhalb der Katastrophenschwelle, rein rettungsdienstlichen und bei Lagen, die durch spezielles Fachrecht geprägt sind (z. B. Pandemien durch Infektionsschutzrecht), können die allgemeinen und besonderen Ordnungsbehörden ggf. auf spezialgesetzliche Generalklauseln (z. B. § 28 IfSG) oder die Generalklauseln des allgemeinen Ordnungsrechts zurückgreifen.

Fraglich ist aber, ob die Generalklauseln in Mangellagen als Eingriffsgrundlage ausreichen. In Situationen, in denen sich die Prioritätensetzung auf die Auswahl zwischen bestimmten Personen verengt – etwa bei der Triage, oder bei Verteilung von Impfungen oder Medikamenten –, lässt sich in der nachrangigen Behandlung eine Maßnahme gegen diese Personen zugunsten der Abwehr von Gesundheitsgefahren für die bevorzugten Gruppen sehen. Dabei würde es sich um eine Inanspruchnahme von NichtverantwortlichenFootnote 111 nach den allgemeinen ordnungsrechtlichen Regeln handeln.Footnote 112 Gleiches gilt, wenn Schutzgüter aktiv beeinträchtigt oder begonnene Schutzmaßnahmen aufgegeben werden, um andere Güter zu schützen (z. B. Aufgabe einer Deichsicherung oder gezieltes Öffnen eines Deiches in dünn besiedeltem Gebiet zum Schutz einer flussabwärts gelegenen Großstadt). Zu den Voraussetzungen der allgemeinen ordnungsrechtlichen Inanspruchnahme von Nichtverantwortlichen gehört u. a., dass die in Anspruch genommenen Personen keiner erheblichen eigenen Gefährdung ausgesetzt werden (vgl. z. B. § 19 Abs. 1 Nr. 4 nrwOBG). Bei Gesundheitsgefahren wird diese Voraussetzung nicht in allen Fällen gegeben sein (so für die Triage Brech 2008, S. 330; Schulte 2000, S. 44). Bei Sachwerten kann die Zumutbarkeit zu bejahen sein, insbesondere zum Schutz höherrangiger oder einer größeren Zahl von Schutzgütern. Dabei sind die betroffenen Schutzgüter gegeneinander abzuwägen (Tegtmeyer und Vahle 2011, § 6 PolG NRW, Rn. 6). Unabhängig davon sind bei der Inanspruchnahme von Nichtstörern Entschädigungspflichten zu beachten (z. B. § 39 OBG). Den Generalklauseln fehlen darüber hinaus konkrete Entscheidungskriterien. Sie sind als Ermächtigungsgrundlage nicht ohne weiteres ausreichend.

In komplexen Lagen stellt nicht ohne weiteres jede nachrangige Hilfeleistung oder jede Betroffenheit von Maßnahmen der Katastrophenschutzbehörden eine Inanspruchnahme von Nichtstörern dar. Entscheidungen der Gesamt- und örtlichen Einsatzleitung zielen nicht auf individualisierbare Folgen. Betroffene und Schutzgüter sind nicht alle im Einzelnen, sondern eher in ihrer Gesamtheit bekannt. Manche Folgen von Maßnahmen können daher als unbeabsichtigte NebenfolgenFootnote 113 einzustufen sein. Wirken sich Maßnahmen auf eine nicht näher überschau- und konkretisierbare Vielzahl von Personen und Schutzgütern aus und betreffen sie den Einzelnen wie „Jedermann“, so liegt ebenfalls keine Inanspruchnahme als Nichtstörer vor.Footnote 114

6.1.6 Zuständigkeiten

Die Prioritätensetzung ist ausdrücklich als Aufgabe der Einsatzleitung in § 49 Abs. 1 Nr. 2 sächsBRKG benannt („Auswahl und Anordnung der Einsatzmaßnahmen“). Auch in den übrigen Bundesländern muss aber in die Regelungen zur LeitungsorganisationFootnote 115 die Zuweisung der Zuständigkeit zur Prioritätensetzung bei den Einsatzmaßnahmen hineingelesen werden. Katastrophenschutz ist in erster Linie Koordinierungsinstrument; allein dies beinhaltet die Notwendigkeit der Entscheidung über die Auswahl und die Reihenfolge von Maßnahmen. Dies ist wesentlicher Inhalt der (Gesamt-) Einsatzleitung sowie der örtlichen/technischen Einsatzleitung auf ihren jeweiligen Ebenen.

6.2 Strafrechtliche Aspekte

Kriterien für eine Prioritätensetzung bei der konkreten Lagebewältigung können sich auch aus strafrechtlichen Aspekten ergeben. Werden bei Schadenslagen Verletzte nachrangig oder ggf. gar nicht versorgt, und erleiden sie dadurch weitere Gesundheitsschäden oder sterben, stellt sich die Frage nach unterlassener Hilfeleistung (§ 323c StGB) oder nach Körperverletzung bzw. Totschlag durch Unterlassen (§ 232 ff; § 212 jew. i. V. m. § 13 StGB).Footnote 116

Rettungskräfte haben grds. eine Verpflichtung, den betroffenen Personen Hilfe zu leisten. Diese Verpflichtung besteht entweder aus einer besonderen rechtlichen Verpflichtung zur Hilfeleistung oder der allgemeinen Hilfspflicht aus § 323c StGB. Für eine Strafbarkeit aus einem sog. unechten Unterlassungsdelikt (z. B. Köperverletzung durch Unterlassen) ist Voraussetzung, dass der Täter „rechtlich dafür einzustehen hat, das der tatbestandliche Erfolg nicht eintritt“ (§ 13 StGB). Es bedarf daher einer sog. Garantenstellung. Diese kann sich aus einer tatsächlichen Übernahme ergeben, für Ärzte bspw. durch Übernahme einer ärztlichen Behandlung sowie für Rettungsassistenten beim Notfalleinsatz (Stree und Bosch 2010, § 13 StGB, Rn. 28a). Ob diese Übernahme einer Schutzfunktion bereits in der Phase der Entscheidung über das nähere Vorgehen zur Hilfeleistung, z. B. im Rahmen der Triage erfolgt (vgl. Schulte 2000, S. 46), oder erst mit dem Beginn der konkreten Hilfe (vgl. Brech 2008, S. 340 f.) ist nicht abschließend geklärt. Daneben kommt aber eine Garantenstellung aus der Übernahme amtlicher Pflichten in Betracht (vgl. dazu Stree und Bosch 2010, § 13 StGB, Rn. 30). Insbesondere bei Rechtsgütern, „deren Schutz allein dem Staat unmittelbar obliegt (z. B. Strafverfolgung, Umwelt)“ knüpft eine Garantenstellung an die Übernahme der Amtspflicht an.Footnote 117 Auch bei Polizeibeamten wird überwiegend von einer Garantenstellung für den Schutz der Bürger vor Straftaten ausgegangen (Kühl 2008, § 18 Rn. 84; Wessels und Beulke 2011, Rn. 721). Der Schutz individueller Rechtgüter ist gerade wesentlicher Bestandteil der polizeilichen Berufspflicht (Kühl 2008, § 18 Rn. 85). Voraussetzung ist dabei, dass die öffentlich-rechtliche Pflicht zumindest auch dazu dient, das geschützte Rechtsgut „gerade vor der Gefahr zu bewahren, in die es das Nichthandeln versetzt“ (Wessels und Beulke 2011, Rn. 721).

Diese Grundsätze lassen sich auf die Helfer bei MANV- und Großschadenslagen übertragen. Aufgabe der Helfer nach den Rettungsdienstgesetzen ist die notfallmedizinische Versorgung von Notfallpatienten,Footnote 118 d. h. von Verletzten oder Erkrankten, die in Lebensgefahr schweben oder denen schwere gesundheitliche Schäden drohen, wenn sie nicht umgehend medizinische Versorgung erhalten. Sie umfasst die zur Abwendung einer Lebens- und Gesundheitsgefahr erforderlichen medizinischen Maßnahmen am Notfallort, die Herstellung der Transportfähigkeit und den Transport unter fachgerechter medizinischer Betreuung in eine für die weitere Versorgung geeignete und aufnahmebereite Einrichtung.Footnote 119 Aufgabe der Katastrophenschutzbehörden nach den Katastrophenschutzgesetzten ist der Schutz der Allgemeinheit vor Gefahren, die von Katastrophen ausgehen.Footnote 120 Katastrophen werden definiert als Lagen, in der Leben oder Gesundheit einer Vielzahl von Menschen, Tiere, die Umwelt, erhebliche Sachwerte oder die natürlichen Lebensgrundlagen in einem solchen Maß gefährdet sind, dass zur Gefahrenbekämpfung durch die zuständigen Behörden und die Hilfskräfte eine einheitliche Leitung erforderlich ist.Footnote 121 Folglich macht der Schutz dieser Rechtsgüter gerade die Dienstpflichten der Helfer aus; sie haben daher grds. für ihren Schutz rechtlich einzustehen. Zum gleichen Ergebnis kommen Brech (2008, S. 341) und Schulte (2000, S. 46) für Ärzte und andere Helfer bei einem MANV jedenfalls dann, wenn ihnen die Verantwortung für einen größeren Personenkreis übertragen wurde.

Die Helfer stehen insbesondere in Großschadenslagen jedoch vor dem Problem, nicht sofort allen Betroffenen gleichzeitig helfen und alle gefährdeten Rechtsgüter zugleich und im selben Maß schützen zu können. Sie müssen daher zwangsläufig zwischen den bestehenden Handlungspflichten auswählen und bezüglich ihrer Leistung priorisieren, ggf. sogar rationieren. Ist die Erfüllung gleichzeitiger Handlungspflichten praktisch unmöglich, verlangt auch das Strafrecht von ihm nichts Unmögliches. Diese Konstellationen werden nach den Grundsätzen der rechtfertigenden Pflichtenkollision gelöst. Danach ist das Unterlassen einer Handlungspflicht nicht rechtswidrig, wenn der Handlungspflichtige die höherrangige Pflicht erfüllt (vgl. Wessels und Beulke 2011, Rn. 736; Kühl 2008, § 18 Rn. 134, 136). Das Rangverhältnis der kollidierenden Pflichten bestimmt sich nach dem Wert der gefährdeten Güter, der Nähe der Gefahr, der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts, dem Ausmaß der drohenden Schutzgutverletzung in einer umfassenden Interessenabwägung (vgl. Wessels und Beulke 2011, Rn. 736; Brech 2008, S. 350 f.; Lenckner und Sternberg-Lieben 2010, vor § 32 StGB, Rn. 74). Bei dieser Abwägung nicht relevant sind dagegen utilitaristische Kriterien, die die voraussichtliche Überlebensdauer, Alter oder sozialer Status der Betroffenen (Lenckner und Sternberg-Lieben 2010, vor § 32 StGB, Rn. 74).

Bei gleichwertigen Handlungspflichten ist die Lösung rechtsdogmatisch umstritten und wird teils auf Tatbestandsebene, überwiegend ebenfalls auf der Rechtfertigungsebene, teils auf der Schuldebene oder sogar außerhalb des Rechts gesucht.Footnote 122 Im Ergebnis verneinen alle Auffassungen die Strafbarkeit wegen eines Unterlassungsdelikts, wenn eine der beiden gleichwertigen Handlungspflichten erfüllt wurde.

Eine Strafbarkeit aus § 323c StGB (unterlassene Hilfeleistung) kommt nur insoweit in Betracht, als keine Garantenpflichten bestehen (vgl. Schulte 2000, S. 47; Sternberg-Lieben und Hecker 2010, § 323c StGB, Rn. 31). Die Hilfspflicht aus § 323c StGB besteht, wenn sie dem Pflichtigen, „den Umständen nach zuzumuten, insbesondere ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich ist“. Leistet der Hilfepflichtige daher dort Hilfe, wo das höherwertige Rechtsgut bedroht ist (Leben statt Sachwerte) oder die Rechtgutbedrohung größer, der Hilfebedarf dringlicher ist, entfällt zugleich seine Hilfspflicht für den geringer oder im geringeren Rechtsgut Bedrohten (vgl. hierzu Brech 2008, S. 358 f.). Nicht unter die Fallgruppe der rechtfertigenden Pflichtenkollision fällt dagegen der Abbruch bereits begonnener Behandlung zugunsten anderer Patienten, da hier das Rechtsgut des nicht Behandelten nicht durch Unterlassen, sondern durch aktives Tun geschädigt wird.

Die strafrechtlichen Abwägungen liefern allerdings keine konkrete Handlungsanweisung, wie in einer MANV- oder Großschadenslage zu verfahren ist. Sie entlasten in strafrechtlicher Hinsicht die handelnden Hilfskräfte, können aber für einen ausreichenden Grundrechtsschutz und eine Rechtssicherheit der Betroffenen keine hinreichende Grundlage bieten (vgl. auch Brech 2008, S. 360 f.).

6.3 Kriterien und Verfahren für Mangelsituationen aus der Praxis

Sowohl MANV-geprägte als auch komplexere Schadenslagen erfordern eine Auswahl unter den Hilfsbedürftigen und den Schutzgütern, bei denen im Einsatz begonnen werden soll. Bereits die rein faktische Notwendigkeit der Auswahl, wenn nicht allen gleichzeitig geholfen werden kann, impliziert die grundsätzliche Zulässigkeit von Priorisierungs- und Auswahlentscheidungen. Die Alternative, niemandem zu helfen, weil nicht allen geholfen werden kann, scheidet offensichtlich aus. Die Frage verengt sich folglich auf die zulässigen Kriterien, die notwendigen Verfahrensweisen und die Notwendigkeit ihrer Normierung.

Hinsichtlich ethischer und philosophischer Fragen der Verteilung von Mangelressourcen sei an dieser Stelle auf die Ausführungen von Brech (2008, S. 98–150) verwiesen. Für verschiedene Mangelsituationen haben sich in der Praxis Verteilungskriterien entwickelt oder es existieren Festlegungen, die aber keine Rechtsnormqualität haben. Im Übrigen sind Feuerwehren, Rettungsdienst und Katastrophenschutzbehörden praktisch immer wieder mit komplexeren Situationen konfrontiert, in denen eine Prioritätensetzung erforderlich ist. Da kaum konkrete Vorgaben existieren, müssen sie aus der Einsatzpraxis heraus Entscheidungskriterien entwickeln.

6.3.1 Triage bei MANV

Für den Massenanfall an Verletzten/Erkrankten wurden in der ärztlichen Praxis Triagekategorien entwickelt, die Behandlungsprioritäten festlegen. Ziel der Triage oder Sichtung ist, Leben und Gesundheit möglichst vieler Patienten zu retten (vgl. Brech 2008, S. 52). In der Medizin sind verschiedene Varianten diskutiert worden (vgl. Neff 2000, S. 99 ff.). Bei einer Konsensuskonferenz im März 2002 von Notärzten und Vertretern verschiedener Organisationen einigten sich die Anwesenden auf eine Einteilung nach medizinischer Dringlichkeit in vier Gruppen (vgl. Brech 2008, S. 53) nach im Wesentlichen folgenden Kriterien:

  1. 1.

    akute vitale Bedrohung. Behandlungspriorität bezüglich lebensrettender Sofortmaßnahmen zur Herstellung der Transportfähigkeit,

  2. 2.

    schwer Verletzte/Erkrankte. Aufgeschobene Behandlung, da Versorgung vor Ort nicht möglich. Transportpriorität,

  3. 3.

    leicht bis mittelschwere Verletzung ohne akute Lebensbedrohung. Aufgeschobene Behandlung oder Behandlung durch Hilfspersonal, Selbsthilfe. Späterer Transport,

  4. 4.

    „Hoffnungslose“. Unter den akuten Verhältnissen nicht ohne Gefährdung anderer Patienten mit besseren Aussichten zu versorgen.Footnote 123

6.3.2 Verteilung medizinischer Ressourcen im Pandemiefall

6.3.2.1  Verteilung von Impfstoffen

Impfungen dienen sowohl dem individuellen Gesundheitsschutz als auch der Verringerung und Verlangsamung der Krankheitsausbreitung insgesamt.Footnote 124 Für die ‚erste Welle‘ stehen Impfstoffe jedoch wegen der erforderlichen Entwicklungszeit zunächst nicht zur Verfügung.Footnote 125 Ist die Impfbereitschaft in der Bevölkerung höher als die Kapazitäten, kann sich daher die Notwendigkeit der Priorisierung ergeben.Footnote 126 Dies ist auch in fast allen Pandemieplänen vorgesehen.Footnote 127 Sie stützen sich im Wesentlichen auf einen gesellschaftspolitischen und einen medizinischen,Footnote 128 teilweise auch einen epidemiologisch-dynamischen Aspekt.Footnote 129 Gesamtziel ist die maximale Minderung von Morbidität und Mortalität.Footnote 130

Die Kriterien beruhen auf drei Zielsetzungen: Zum einen der Aufrechterhaltung des öffentlichen Lebens, weshalb bestimmte Berufsgruppen (sog. Schlüsselpersonal) vorrangig zu impfen sind. Dies sind Berufsgruppen, die einerseits besonders gefährdet sind, zu erkranken, andererseits zur Aufrechterhaltung der Gesundheitsversorgung,Footnote 131 der öffentlichen Sicherheit und kritischer Infrastrukturen besonders benötigt werden. Aus medizinischen Gründen sind Risikogruppen zu bevorzugen, d. h. Personen, die durch das Pandemievirus besonders schwer zu erkranken oder zu sterben drohen. Das epidemiologisch-dynamische Kriterium berücksichtigt die Bedeutung einer Bevölkerungsgruppe für die Pandemieverbreitung. Danach wären vorrangig Personen zu impfen, die im Fall einer Erkrankung am meisten zur Krankheitsverbreitung beitragen und deren Gesundbleiben aufgrund von Impfungen die Ausbreitung am wirksamsten verlangsamt. Hierzu gehören Schulkinder und berufstätige Erwachsene mit vielen Sozialkontakten (vgl. Nationaler Pandemieplan, Teil III, S. 66). Im Ergebnis sehen die Pandemiepläne im Wesentlichen übereinstimmend

  1. 1.

    die vorrangige Impfung der Beschäftigten des Gesundheitswesens,

  2. 2.

    der Berufsgruppen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und der Infrastruktur,

  3. 3.

    der Risikogruppen nach jeweiliger epidemiologischer LageFootnote 132 und

  4. 4.

    zuletzt der restlichen Bevölkerung vor.

Die Festlegung der Risikogruppen kann letztlich nur anhand aktueller epidemiologischer Erkenntnisse erfolgen. Während die Pandemiepläne der meisten Länder auf medizinisch indizierte Risikogruppen abstellen,Footnote 133 verweisen andere – aus logistischen GründenFootnote 134 – auf eine Impfung anhand epidemiologischer Kriterien nach Altersjahrgängen.Footnote 135 Darüber, welche Gruppen außer dem Schlüsselpersonal nach welchen Kriterien zu bevorzugt zu impfen sind, gibt es offenbar unterschiedliche Auffassungen (Gefährdung der betreffenden Personen? Verbreitungspotential? Logistische Erwägungen?). Je nachdem, welche Kriterien in den Vordergrund gestellt werden, können sich die zu priorisierenden Gruppen aber erheblich unterscheiden. Insofern ist es, auch wenn „medizinische“ Kriterien angelegt werden, eine politische und keine medizinisch-wissenschaftliche Entscheidung.Footnote 136

6.3.2.2  Verteilung von antiviralen Medikamenten

Für den Fall einer Influenzapandemie werden inzwischen antivirale Medikamente für 30 % der Bevölkerung bevorratet. Die GMK sah diese Menge unter den Voraussetzungen einer optimalen Verteilung als ausreichend an, jedenfalls sofern das Virus nur in wenigen Fällen tatsächlich schwere Erkrankungen verursacht (vgl. SKI 2009, S. 2). Zweck und Reichweite der Bevorratung werden von den Ländern allerdings unterschiedlich bewertet. Einige Länder gehen ausdrücklich davon aus, dass die Vorräte ausreichen, um alle Erkrankten zu behandeln; daher sei eine Priorisierung bestimmter Gruppen nicht erforderlich.Footnote 137 Dies gilt – auch nach den betreffenden Pandemieplänen – aber nur unter bestimmten Voraussetzungen.Footnote 138 Dazu gehört der lediglich kurative, nicht aber präventive Einsatz der Mittel.Footnote 139 Andere Länder dagegen sehen den Zweck in erster Linie in einer ergänzenden Reserve für Risikogruppen und Schlüsselpersonal.Footnote 140 Entsprechend sind entweder bestimmte KontingenteFootnote 141 oder die Abgabe bevorrateter Medikamente generellFootnote 142 nur für diese Gruppen vorgesehen.Footnote 143 Je nach Rahmenbedingungen kann daher doch die Notwendigkeit einer Priorisierung erforderlich sein, auch wenn sie nicht in allen Pandemieplänen vorgesehen ist. In manchen Ländern ergeben sich Verteilungskriterien aus der Zweckbestimmung (Schlüsselpersonal, Risikogruppen). Für deren konkrete Festlegung fehlen aber weitere Kriterien. Insofern ist die Problemlage mit derjenigen bei der Verteilung von Impfstoffen vergleichbar.

6.3.2.3  Management von Krankenhauskapazitäten

Übersteigen die zu behandelnden Notfälle die aktuell verfügbaren Krankenhauskapazitäten, wird den Notfällen bei der Versorgung Vorrang eingeräumt. Insofern findet auch dort eine Form der Triagierung statt.Footnote 144 Planbare Behandlungen werden verschoben. Vorgesehen ist auch eine vorzeitige Entlassung von Patienten, bei denen dies medizinisch vertretbar erscheint.Footnote 145 In diesen Fällen werden folglich Behandlungen, die nach üblichen Standards der Individualversorgung im Krankenhaus erfolgen, beendet und die Patienten auf ambulante Versorgungsmöglichkeiten verwiesen. Die Notfallversorgung, insbesondere in Großschadenslagen, erfolgt somit unter Einschränkung der Regelversorgung. Wenn bereits Wintertage mit Glatteis dazu führen, dass geplante Operationen verschoben werden müssen,Footnote 146 zeigt dies auch, mit welch engen Spielräumen gearbeitet wird.

Im Fall einer Influenzapandemie sehen die Pandemiepläne der Bundesländer einen Vorrang der ambulanten Behandlung vor. Zur Konkretisierung werden z. T. Indikationen für eine stationäre Aufnahme genanntFootnote 147 bzw. ist eine Triagierung der Patienten bzgl. der Aufnahme vorgesehen.Footnote 148

6.3.3 Komplexe Schadenslagen

Bei den im Rahmen des Projektes geführten Experteninterviews wurde u. a. nach der Prioritätensetzung in der Praxis gefragt. Dabei lassen sich zwei Ebenen unterscheiden: Zum einen die Kriterien zur Verteilung der Hilfe zur direkten Schadensbewältigung, zum anderen die Kriterien zur Leistung von Amts-/Katastrophenhilfe, wenn Anfragen zur Unterstützung aus mehreren Körperschaften erfolgen und nicht allen im gewünschten Umfang geholfen werden kann. Außerdem wurde die Frage gestellt, ob Kostenfolgen die Entscheidung beeinflussen können, um Amts-/Katastrophenhilfe zu bitten.

6.3.3.1 Prioritäten bei Anfragen um Amts-/Katastrophenhilfe

Bei der Frage, nach welchen Kriterien entschieden würde, wenn von mehreren Anfragen um Amts-/Katastrophenhilfe nicht alle erfüllt werden könnten, wurden teils nicht (nur) Angaben zu möglichen Kriterien, sondern (auch) zur Verfahrensweise gemacht. Einige Antworten bezogen sich bereits auf die Frage, ob überhaupt Unterstützung gewährt wird. Ein entscheidendes Kriterium hierfür ist die verbleibende Gewährleistung des eigenen (Grund-)Schutzes (Interviews P14, P16, P31). Darunter fällt auch die Frage der möglichen eigenen Betroffenheit. So sei nicht unbedingt sinnvoll, wenn bei einem Hochwasser die flussabwärts gelegene Körperschaft der flussaufwärts gelegenen alle Ressourcen zur Verfügung stelle, die sie absehbar wenig später selbst benötige (Interview P15). In zwei Interviews wurde insofern auf die Effektivität der erbetenen Hilfe Bezug genommen, als ein Vergleich mit anderen für die Hilfe in Fragen kommenden Stellen angestellt wurde, etwa in Bezug auf Wegezeiten (Interviews P13, P19).

Die Entscheidung, welcher ersuchenden Stelle Hilfe geleistet wird, kann bereits von der zeitlichen Reihenfolge des Eingangs der Ersuchen abhängen: Das ‚Windhundprinzip‘ wurde als möglicher entscheidender Faktor mehrfach genannt (Interviews P2, P7, P10, P20, P31). Dabei dürfte auch eine Rolle spielen, dass bei der Entscheidung über das erste Hilfeersuchen das nachfolgende schlicht noch nicht bekannt und bereits deshalb in die Abwägung nicht einbezogen werden kann.

Vielfach wurde ein kooperativer Aspekt angesprochen, wonach sich – jedenfalls zunächst – die hilfesuchenden Körperschaften einigen sollten (Interviews P11, P17, P29, P34), welche von ihnen die Hilfe beansprucht und welche – ggf. teilweise – darauf verzichtet. Zumindest sollte/würde die Entscheidung mit den Hilfesuchenden abgestimmt (Interview P3). Ein Interviewpartner hielt – soweit der Bund durch die Länder um Hilfe gebeten würde – die Einigung durch die betroffenen Länder für zwingend erforderlich, da der Bund nicht entscheiden könne und dürfe, wie die Länder ihre Aufgabe erfüllen (Interview P1). Andere hingegen stellten fest, dass nur der Bund entscheiden könne, wem er seine Ressourcen zur Verfügung stellt (Interviews P2, P10, P17).

Jenseits von Priorisierungskriterien wurde teilweise angeführt, es würde versucht, alle Anfragen zumindest teilweise zu bedienen (Interview P7), ggf. nach weiteren Kriterien abgestuft (Interview P21). Als materielle Entscheidungskriterien wurden in erster Linie Dringlichkeit (Interview P2) und Umfang (Interviews P21, P30) des Hilfebedarfes, die Größe der Gefahr (Interview P8) sowie Effektivität (i. S. d. größtmöglichen Nutzens, der größten Schadensminimierung) (Interviews P3, P17, P31) genannt. Eine Antwort bezog sich auf Kriterien für die Auswahl des Hilfeersuchenden unter mehreren Hilfsangeboten: Hier wurden Anfahrtstrecken sowie Autarkie der Einheiten (z. B. bzgl. Verpflegung) genannt (P14).

6.3.3.2  Kriterien bei der konkreten Lagebewältigung

Als Priorisierungskriterien für die konkrete Lagebewältigung wurde am häufigsten eine Abstufung der Rechtsgüter vorgenommen, im Wesentlichen i. S. einer Reihenfolge „1. Menschen, 2. Tiere, 3. Umwelt/Sachwerte“ (Interviews P1, P7, P8, P10, P11, P14, P17, P18, P23, P30, P31, P33, P34). Einige Antworten zeigten jedoch, dass die Entscheidungsfindung gerade in komplexen Schadenslagen weitaus komplizierter sein kann. Zum einen wurde darauf hingewiesen, dass die verschiedenen Schutzgüter häufig nicht trennbar sind, etwa bei der Deichverteidigung (Interview P17): Hier wird eine Sache (der Deich) geschützt, aber – auch – mit dem Ziel, die Menschen in dem sonst überschwemmten Gebiet vor Gefahren für Leib und Leben zu bewahren. Hier geht es folglich um Schutz und Hilfe für Menschen durch den Schutz von Sachwerten, insbesondere von lebenswichtigen Infrastrukturen (Interviews P10, P13, P14, P16, P30). Beispielhaft wurden für den Fall eines Stromausfalls Krankenhäuser, Altenheime sowie Dialysepatienten, die Dialyse zu Hause durchführen, genannt (Interview P10). Zwei Interviewpartner nannten weitere Abstufungen bzgl. der Hilfe für Menschen: Zum einen: 1. klassische Rettungsphase (Menschenrettung und Eingrenzung des Schadensereignisses), 2. medizinische Versorgung der betroffenen Personen, 3. Trinkwasserversorgung, 4. Lebensmittelversorgung, 5. Hygiene (Seuchenprävention), 6. Unterkunft, dann möglichst schnelle Überleitung in Wiederaufbauphase (Interview P16), zum anderen: 1. Betroffenheit, Bedürftigkeit und Anzahl der betroffenen Menschen sowie Hilfemöglichkeiten, 2. Infrastrukturkriterien, Versorgungskriterien, 3. „Wohlbefinden“ (Interview P13).

Bei zu schützenden Sachwerten wurde dementsprechend zum einen auf deren Bedeutung für die Versorgung der Bevölkerung abgestellt (Interview P14). Jenseits davon wurden als Kriterien benannt

  • Effektivität (z. B. bei Deichbruch: größte Entlastung bzw. geringster Schaden) (Interview P17),

  • Quantifizierung: Größenordnung der bedrohten Güter (Bsp.: 4 Dörfer gegen eine Großstadt [Interviews P2, P33], „wo man mehr für die Bevölkerung tun kann“ [Interview P3]) bzw. Schadenshöhe (Bsp.: Industrie: besonders hohe Schäden bei einer Glasschmelze, die bei unplanmäßiger Unterbrechung einen Totalschaden in Millionenhöhe erleide [Interview P19]),

  • Unwiederbringlichkeit (insb. Kulturgüter) (Interview P14),

  • Erfolgsaussichten (auch bzgl. der Rettung von Menschenleben) (Interviews P20, P21),

  • Zeitfaktor für effektive Hilfe (Interview P20),

  • Gefährdung eigener Kräfte (Bsp.: 3 eigene Leute gefährden, um eine Person zu retten) (Interview P20),

  • Aufwand-Nutzen-Rechnung (Interview P21),

  • Folgenabschätzung (Interviews P6, P20) (Bsp. Hochwasser: Schutz eines Dorfes oder flussaufwärts gelegener chemischer Industrie: Schutz der Industrie, damit nicht auch noch die Chemikalien in das Dorf laufen [Interview P33]),

  • ideeller Wert (Bsp. Haustiere, an denen die Besitzer extrem hängen) (Interview P21).

Bezüglich der Rettung von Menschen wurde einerseits auf die Praxis der Sichtung verwiesen (Interviews P2, P20) bzw. auf Erfolgsaussichten abgestellt (Interview P20, P21). Ein Interviewpartner (P21) nannte als pragmatisches Hilfskriterium „vorne anfangen“, insbesondere für Lagen, in denen bedrohte Schutzgüter räumlich nicht sofort zu erreichen sind.

Wirtschaftlichkeits- und Verhältnismäßigkeitskriterien wurden teilweise erst auf die Frage genannt, ob Kostenfolgen die Entscheidung bei Rettungsmaßnahmen beeinflussen. Soweit ein Kosteneinfluss nicht allgemein bestritten wurde (Interviews P3, P11, P30), unterschieden die Interviewpartner bei dieser Frage zumeist zwischen dem Schutz von Menschen und von Sachwerten. Bezüglich der Rettung von Menschen wurde ein Einfluss von Kostenfolgen generell verneint (Interviews P1, P8, P14, P21, P31, P33). Bei Sachwerten wurden dagegen genannt:

  • allgemein Verhältnismäßigkeit (Interviews P8, P10, P14, P29),

  • Verhältnismäßigkeit i. S. des Einsatzes der kostengünstigeren von mehreren gleich geeigneten Maßnahmen (Interviews P10, P13, P14), ähnlich die Überlegung bei der Anforderung von Spezialressourcen, ob man die wirklich braucht (Interview P31),

  • Aufwand-Nutzen-Relation (Interviews P10, P13, P21), auch im Vergleich zweier zu schützender Güter (z. B. personeller Mehraufwand um Gut A statt Gut B zu retten) (Interview P8),

  • Sachwertevergleich (Bsp.: Stadtbahn gegen Wohngebiet: Stadtbahn aus Sicht der Stadt wichtiger, wegen Milliardenschaden und 12 Monaten Nutzungsausfall) (Interview P21),

  • auch bei präventiven Maßnahmen: Folgenabschätzung bezüglich wirtschaftlicher Auswirkungen (Bsp. Sperrung eines Hafens wegen drohenden Hochwassers) (Interviews P1, P18).

In einem Interview wurden als methodisches Element „Schadenskonten“ erwähnt: Dabei würden Schäden und zur Schadensabwehr eingesetzte Kräfte gegenübergestellt und hieraus die nötigen Schwerpunktsetzungen abgeleitet (Interview P13). Ein weiterer Interviewpartner unterschied bzgl. des Einflusses von Kostenfolgen in zeitlicher Hinsicht: Bei einer Schadenslage mit Vorlaufphase werde durchgerechnet, was der Fall koste. Im Krisenfall selbst spiele dies aber eine untergeordnete Rolle (Interview P11).

6.3.3.3  Einfluss von Kosten auf die Feststellung des Katastrophenfalls und die Anforderung von Amts-/Katastrophenhilfe

In den Interviews wurde neben dem Einfluss von Kostenfolgen auf die Prioritätensetzung auch danach gefragt, inwieweit Kostenfragen die Entscheidung, den Katastrophenfall festzustellen bzw. andere Körperschaften oder Einrichtungen um Amts-/Katastrophenhilfe zu bitten, beeinflussen können. Hierauf lautete ein häufige allgemeine Antwort „abgerechnet wird hinterher“ (Interviews P7, P11, P13, P21, P30, P34). Auf Nachfragen stellte sich das Bild jedoch differenzierter dar und die Einschätzung fiel unterschiedlich aus:

Hintergrund der Frage ist, dass mit der Feststellung des Katastrophenfalls nicht nur die Leitung der Krisenbewältigung von der Gemeinde- auf Kreisebene wechselt, sondern ggf. auch die Kostentragung übergeht. So ist Brandschutz und allgemeine Hilfe Aufgabe der Gemeinden;Footnote 149 diese haben hierfür auch grds. die Kosten zu tragen; Katastrophenschutz ist Angelegenheit der Kreise,Footnote 150 wozu ebenfalls die Kostentragung gehört. Hinsichtlich der Kosten für Nachbarschaftshilfe und Amtshilfe gelten in den Brand- und Katastrophenschutzgesetzen in den Bundesländern im Einzelnen vielgestaltige Regelungen. Als Gesamttendenz ist Nachbarschaftshilfe für die unterstützte Körperschaft kostenfrei. Überregionale Hilfe sowie sonstige Amts- und Katastrophenhilfe sind dagegen von der unterstützten Körperschaft zu erstatten. Bei Feststellung des Katastrophenfalls durch die Landkreise werden die Einsatzkosten offenbar zumindest in manchen Bundesländern vom Land getragen.Footnote 151 Von den allgemeinen Regeln wird in der Praxis zudem häufig insofern abgewichen, als bei Katastrophenlagen auf eine Erstattung der Kosten für Hilfeleistungen verzichtet wird.Footnote 152 Dies gilt – zumindest bisherFootnote 153 – auch für Hilfeleistungen durch Einheiten des Bundes (THW, Bundeswehr) (Interviews P29, P34).

Soweit ein Kosteneinfluss auf die Entscheidung, den Katastrophenfall festzustellen, bejaht wurde, ging die Einschätzung, ob dies zu mehr oder weniger Katastrophenfeststellungen führe, auseinander. Während ein Interviewpartner eine geringere Bereitschaft für die Feststellung des Katastrophenfalls betonte (Interview P19), wurde von anderen die Möglichkeit der „taktischen Katastrophe“ genannt, um der Kostentragung zu entgehen (Interview P10). Die unterschiedlichen Sichtweisen dürften aber mit unterschiedlichen implizit in Bezug genommen Konstellationen zusammenhängen. Letztlich dürfte eine Rolle spielen, ob die Stelle, die den Katastrophenfall feststellt, damit auch die Kosten an sich zieht oder die Kosten von sich weg verlagern kann. Bezugspunkt des Interviewpartners, der eine geringere Bereitschaft zur Feststellung des Katastrophenfalls konstatierte (Interview P19), waren Katastrophenfeststellungen durch die Landesebene; diese würde sich damit selbst in die Kostenträgerschaft hineinbegeben – und das vermeiden. Laut einem anderen Interview sei den Entscheidungsträgern zwar bewusst, dass der Landkreis, der die Katastrophe feststelle, dann auch die Kosten tragen müsse, dies beeinflusse die Entscheidung aber nicht (Interview P14).

Andere Experten bezogen sich dagegen auf die Situation, dass bei Feststellung der Katastrophe durch einen Landkreis das Land die Kosten übernimmt (Interviews P10, P30).Footnote 154 Bei dieser Konstellation hat der Kreis folglich die Möglichkeit, die Gemeinden von der Kostentragung zu entlasten ohne selbst dafür einstehen zu müssen; insofern könnte es zu „taktischen Katastrophen“ kommen. Die faktische Entscheidungserheblichkeit wurde von den Experten gleichwohl verneint, weil die Feststellung des Katastrophenfalles in enger Absprache mit den übergeordneten Behörden erfolge (Interview P30), bzw. weil die Entscheidung über die Feststellung nicht von den operativ-taktisch Verantwortlichen sondern von der politischen Spitze (Oberbürgermeister bzw. Landrat) getroffen werde (Interview P10).

In einem Interview wurde auf einen erheblichen Einfluss der Kosten bei Präventionsmaßnahmen (z. B. Impfstoffe für den Pandemiefall) hingewiesen (Interview P2), in einem anderen allgemein der Kostenfrage bei der Anforderung von Hilfe Bedeutung zugestanden (Interview P16). Das Spiegelbild zum Kosteneinfluss auf die Anfragen um Hilfe ist der Einfluss auf die Hilfeleistung. Hier wurde z. T. erwähnt, dass man bei einer Anfrage um Hilfe schon gerne wisse, ob die Kosten übernommen würden oder man die Kosten der Hilfeleistung selbst tragen müsse (Interview P16). Dies wurde von den Experten aber eher auf Hilfe bezogen, die an ausländische Stellen geleistet wird (Interviews P6, P10, P15).

6.3.3.4 Informationslage

In einzelnen Interviews (P6, P10, P14, P20) wurde Abhängigkeit der Prioritätenbildung von der Informationslage betont und darauf hingewiesen, dass diejenigen die „am lautesten schreien“ auch am ehesten mit Hilfe rechnen können (Interviews P10, P14, P20). Umgekehrt wurde in einem Interview daraus gefolgert, dass die Entscheidung nur derjenige treffen sollte, dem alle entscheidungsrelevanten Informationen zur Verfügung stehen (Interview P6).

6.3.4 Verfassungsrechtliche Anforderungen an die Prioritätensetzung

Ein individueller Anspruch auf konkrete Leistungen lässt sich – wie oben gesagtFootnote 155 – verfassungsrechtlich nicht herleiten. Soweit aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG sowie i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 GG eine leistungsrechtliche Dimension hergeleitet wird, steht der Anspruch unter dem Vorbehalt des Möglichen. Stellt der Staat aber Leistungen zu Verfügung – dazu gehören auch Impfangebote sowie Rettungs- und Hilfsmaßnahmen –, die er wegen knapper Kapazitäten nicht allen Hilfsbedürftigen gewähren kann, verbleibt dem Einzelnen aus Art. 3 GG ein derivativer Teilhabeanspruch auf gleiche und ‚gerechte‘ Verteilung.Footnote 156 Eine Zurückstellung bei Hilfs- und Rettungsmaßnahmen stellt eine Ungleichbehandlung dar. Sie muss daher auf sachlich gerechtfertigten Gründen beruhen (Jarass 2011, Art. 3 GG, Rn. 14 f.) bzw. in einem angemessenen Verhältnis zum Grad der Ungleichbehandlung stehen (Jarass 2011, Art. 3 GG, Rn. 27; Osterloh 2011, Art. 3 GG, Rn. 13 ff.).

Aus dem hohen Rang des Rechts auf Leben und körperlicher UnversehrtheitFootnote 157 kann sein Vorrang vor anderen Rechtsgütern hergeleitet werden, so dass in komplexen Lagen der Rettung von Menschen grds. vor anderen Werten der Vorrang einzuräumen ist. Dem entsprechen die rechtlichen Regelugen und Priorisierungskriterien in der Praxis, die auf einen Vorrang von Leben und Gesundheit abstellen. Zudem ist dem Lebensschutz grds. Vorrang vor dem Gesundheitsschutz einzuräumen, ggf. aber auch hier schon mittels weiterer Kriterien abzuwägen und z. B. eine unmittelbar drohende schwere Gesundheitsgefahr vor einer weiter entfernt drohenden Lebensgefahr abzuwenden (Brech 2008, S. 259; Taupitz 2011, S. 123). Weitere Abstufungen lassen sich aus der Verfassung schwerlich herauslesen. Eine „Werterangordnung“ zwischen den Verfassungsnormen ist bislang nicht entwickelt (vgl. Sachs 2011, vor Art. 1 GG, Rn. 123).

Mit dem Staatszielen Umwelt- und Tierschutz aus Art. 20a GG wird die natürliche Umwelt als eigenständiges Schutzobjekt anerkannt (Murswiek, Art. 20a GG, Rn. 20, 22, 31b). Damit enthält Art. 20a GG zum einen eine verfassungsrechtliche Wertentscheidung (Jarass 2011, Art. 20a GG, Rn. 1), darüber hinaus auch die Verpflichtung des Staates, Beeinträchtigungen der natürlichen Umwelt zu unterlassen und abzuwehren (Murswiek, Art. 20a GG, Rn. 20) sowie Maßnahmen zum Schutz der Tiere vor Leiden und Schäden zu ergreifen (Jarass 2011, Art. 20a GG, Rn. 13; Murswiek 2011, Art. 20a GG, Rn. 31b). Da Umwelt und Tiere „im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung“ zu schützen sind, werden sie anderen Verfassungsprinzipien und -gütern zwar gleich-, nicht jedoch übergeordnet (Jarass 2011, Art. 20a GG, Rn. 14). Ein genereller Vorrang gegenüber anderen Schutzgütern ist Art. 20a GG folglich nicht zu entnehmen, sondern es ist im Einzelfall abzuwägen (vgl. Jarass 2011, Art. 20a GG, Rn. 14; Murswiek 2011, Art. 20a GG, Rn. 52 ff., 59).

Für die Prioritätensetzung lässt sich aus den rechtlichen Regelungen wie aus den Kriterien aus der Praxis als Gesamtziel die Maximierung des Hilfserfolges herauslesen („Maximierungsformel“, „Optimierungsprinzip“ [Klopefer und Deye 2009, S. 1220]). Weitere Kriterien sowie Einteilungen in priorisierte Gruppen lassen sich als Hilfskriterien verstehen, die diesem Gesamtziel dienen. Bei dieser Quantifizierung versuchen die Hilfs- und Rettungskräfte möglichst vielen und in möglichst hohem Maß ihren Schutzpflichten nachzukommen. Werden höherwertige Güter geschützt, bestehen bereits zwischen den Schutzgütern Unterschiede, die die Ungleichbehandlung rechtfertigen können. Auch im Übrigen ist das Maximierungsziel ein sachlich vertretbareres Unterscheidungskriterium, das die notwendigen Ungleichbehandlungen rechtfertigt (Walus 2010, S. 34).

Soweit dieses Maximierungsziel die Zahl der Überlebenden betrifft, wird dies insoweit als problematisch diskutiert, als das menschliche Leben als Höchstwert und jedes Leben als gleichwertig angesehen wird. Daraus ergebe sich ein Verbot, Leben gegen Leben abzuwägen und die Behandlung einiger zum Wohl anderer zurückzustellen (zur Diskussion sehr ausführlich Brech 2008, S. 208–258; vgl. auch Taupitz 2011, S. 116 ff.). Können staatliche Stellen jedoch nicht alle Leben retten, ist die Zurückstellung einiger zum Wohle anderer zwangsläufig und es sind für die Auswahl sachgerechte Kriterien aufzustellen. Da umso mehr Schutzpflichten erfüllt werden, je mehr Menschen gerettet werden, ist das Maximierungsziel auch in diesem Fall zulässiges Kriterium (vgl. Taupitz 2011, S. 117, der sogar von einem Quantifizierungsgebot spricht). Erneut betont wurde das Abwägungsverbot in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz (BVerfGE 115, 113). Die vom BVerfG darin beurteilte Situation betrifft aber die aktive Tötung von Menschen, die zugunsten anderer gezielt geopfert werden. Die Situation von Rettungsmaßnahmen ist dagegen geprägt von kollidierenden Handlungspflichten, von denen nicht alle erfüllt werden können. Die Betroffenen werden nicht gezielt als Mittel zur Rettung anderer benutzt (vgl. Brech 2008, S. 257 f.; Wenner 2009, S. 179).

Priorisiert werden zudem Hilfs- und Rettungskräfte und sonstiges ‚Schlüsselpersonal‘ (z. B. bei Impfstoffen) bzw. die Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit staatlicher Stellen bei der Verteilung von Sachmitteln. Dieses Kriterium ist nicht Selbstzweck, sondern dient dazu, Hilfe leisten und damit die staatlichen Schutzpflichten und die – jenseits der Notfalllage weiterhin – bestehenden Aufgaben erfüllen zu können. Es dient damit dem o. g. Maximierungs-/Optimierungsziel. Insofern ist auch die Bevorzugung der Hilfskräfte sachgerecht (vgl. Kloepfer und Deye 2009, S. 1219, 1220). Im Einzelnen kann aber zu prüfen sein, welche staatlichen Funktionen angesichts der jeweiligen Schadenslage zwingend benötigt werden und welche Funktionen gegenüber der unmittelbaren Hilfe für die Betroffenen zurückzustehen haben (vgl. Taupitz 2011, S. 122).

Für die Abwehr von Gefahren für Leben und Gesundheit werden verschiedene weitere Kriterien diskutiert. Die Dringlichkeit der Hilfeleistung setzt an Ausmaß und Grad der drohenden Gefahr an und dient der Abwehr der schwerwiegenden und zeitlich nächstliegenden Gefahren. Dies stellt ein zulässiges Differenzierungskriterium dar (Brech 2008, S. 258 ff.; Walus 2010, S. 34). Ebenfalls grds. zulässiges Kriterium ist die Erfolgsaussicht. Stellt sich unter den gegebenen Umständen die Rettung als voraussichtlich aussichtslos dar, würden hierauf gleichwohl verwendete Rettungsbemühungen die Rettung anderer blockieren.

Allerdings können verschiedene Kriterien miteinander kollidieren. Das gilt insbesondere für die Dringlichkeit und die Erfolgsaussicht. Taupitz (2011, S. 115) stellt zunächst fest, Dringlichkeit müsse vor Erfolgsaussicht rangieren. Gerade in MANV-Lagen kann dies aber dem Ziel der Rettung möglichst vieler Menschen entgegenstehen. Bei Personen, die in die Triagegruppe IV eingeordnet werden, kann eine gleich hohe oder höhere Dringlichkeit der Behandlung bestehen, wie in Gruppe I, allerdings unter den gegebenen Umständen mit erheblich geringerer Erfolgsaussicht. Die Konzentration der Hilfsmaßnahmen auf diese Patienten kann dazu führen, dass insgesamt weniger Menschen gerettet werde können. Je nach Lage kann daher die Erfolgsaussicht bei Kollision mit der Dringlichkeit zumindest teilweise das entscheidende Kriterium sein (Brech 2008, S. 271 ff.).

Äußerst problematisch ist der Versuch, das Ausmaß eines Behandlungserfolges, erwartete Überlebensdauer oder zu erreichende Lebensqualität als Kriterium heranzuziehen.Footnote 158 In MANV-Lagen dürfte dieses Kriterium zumeist bereits deshalb ausscheiden, weil sich kaum hinreichende Prognosen über den voraussichtlich erreichbaren Gesundheitszustand machen lassen.

Im Übrigen sind bei der Priorisierung die Diskriminierungsverbote aus Art. 3 Abs. 3 GG zu beachten. Eine Benachteiligung aufgrund von Geschlecht, Abstammung, Rasse, Herkunft, Glaube oder Weltanschauung sowie politischen Überzeugungen ist unzulässig. Problematisch ist auch eine Kategorisierung nach Alter. Zwar sind der Rechtsordnung Differenzierungen nach Alter nicht vollkommen fremd (Beispiele bei Brech 2008, S. 277; Taupitz 2011, S. 119). Geht es aber um den Lebensschutz, ist jedes Leben unabhängig vom Alter gleichwertig (BVerfGE 29, 1 [37]). Diese Gleichwertigkeit verbietet eine Bevorzugung bei der Lebensrettung allein wegen des Alters. Relevant werden kann das Alter allerdings dann wenn es unmittelbaren Einfluss auf drohende Schäden oder die Erfolgsaussicht von Hilfsmaßnahmen hat (Brech 2008, S. 283; Nettesheim 2002, S. 346; Taupitz 2011, S. 121). Daher kann eine Priorisierung bei Impfungen nach Altersjahrgängen gestaffelt werden, wenn das Risiko schwerer Erkrankungen oder des Todes in bestimmten Altersgruppen signifikant höher ist. Unzulässig ist auch eine Differenzierung nach sozialer Wertigkeit (Isensee 2005, S. 434; Nettesheim 2002, S. 346; Taupitz 2011, S. 121, ausführlich Brech 2008, S. 287–292).

Zeitliche Prioritäten dürften in MANV-Lagen kaum feststellbar sein und kaum sachgerecht sein.Footnote 159 Anders kann dies in komplexen Schadenslagen sein, insbesondere wenn aus einer zeitlichen Reihenfolge der Betroffenheit eine erhöhte Gefährdung einhergeht (z. B. Versorgung mit Lebensmitteln, Hochwasserlagen). Auch wird faktisch die Reihenfolge der Hilfeleistung von der Kenntnis der verschiedenen Gefährdungslagen abhängen. Da Gefahrenabwehrmaßnahmen aus der ex-ante-Perspektive zu beurteilen sind, macht die spätere Kenntnis weiterer, ggf. schwerwiegenderer Hilfsbedürftigkeiten die insofern nach dem ‚Windhundprinzip‘ geleistete Hilfe nicht rechtswidrig.

Die eigene Gefährdung der Helfer kann ebenfalls ein zulässiges Kriterium sein. Dabei ist zu berücksichtigen, dass medizinisches Personal und Rettungskräfte bereits durch ihre Aufgaben ein erhöhtes Risiko zu tragen haben. Erhöhte Ansteckungsgefahr oder die mit einem Einsatz üblicherweise einhergehenden erhöhten Risiken sind von den Helfern zu tragen. Dennoch ist auch hier eine Abwägung der eigenen Gefährdung mit dem zu erreichenden Rettungszweck vorzunehmen.Footnote 160

Insgesamt sind die Zielsetzung, möglichst viele Menschen zu retten und Gesundheitsschäden gering zu halten, sowie die aus der Praxis genannten Priorisierungskriterien bei komplexen Schadenslagen verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

6.4 Gesetzliche Regelungen von Priorisierungsentscheidungen

6.4.1 Lückenhaftigkeit bestehender Regelungen

Bei der Durchsicht der Normen, die eine Prioritätensetzung bei der Lagebewältigung steuern, bleibt festzuhalten, dass Regelungen nur in Teilbereichen bestehen und sehr allgemein gehalten sind. Andererseits hat sich für manche wiederkehrenden Problemlagen eine Praxis entwickelt (Triage) oder werden in Planungen (ohne Rechtsnormcharakter) Kriterien niedergelegt (Pandemiepläne), die deutlich konkreter sind. Die Frage ist, ob die bestehenden Regelungen ausreichend sind, oder der Gesetzgeber aufgefordert ist, konkretere Vorgaben zu machen.

6.4.2 Notwendigkeit der gesetzlichen Regelung

In den Experteninterviews wurde die Notwendigkeit einer konkreteren rechtlichen Regelung der Prioritätensetzung verneint. Konkretere rechtliche Fassungen seien nicht möglich (Interviews P2, P3, P13), eine „Überregulierung“ (Interviews P1, P14) oder „nicht zielführend“ (Interview P6). Der Versuch einer rechtlichen Fassung könne entweder – wegen der Vielgestaltigkeit der möglichen Schadenslagen – nur so allgemein gehalten sein, dass sie für die konkrete Entscheidungsfindung keine Hilfestellung bedeuteten (Interviews P17, P20, P29). Konkretere Normen seien dagegen fast zwangsläufig zu eng und könnten nicht alle denkbaren Fälle erfassen. Dann seien sie aber nicht anwendungstauglich (Interviews P18, P20) und verunsicherten in den Fällen, die von den geregelten abwichen (Interview P20). Rechtliche Vorgaben machten Entscheidungen justiziabel, infolgedessen sinke die Bereitschaft Entscheidungen zu treffen (Interview P29). Gesetze seien auch zu starr und könnten nur schwer auf Entwicklungen reagieren (Interview P29).

Auch im Bereich der Leistungsverwaltung bedarf es jedoch nach der „Wesentlichkeitslehre“ des Bundesverfassungsgerichts – abgeleitet aus dem Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 3 GG, insb. aus Gründen der Rechtssicherheit und der materiellen Gerechtigkeit (Sachs 2011, Art. 20 GG, Rn. 117) – einer gesetzlichen Grundlage für staatliches Handeln in grundlegenden Bereichen, insbesondere bei Betroffenheit grundrechtlich geschützter Lebensbereiche.Footnote 161 Grundlegende, wesentliche Entscheidungen hat zudem der Gesetzgeber selbst in einem Parlamentsgesetz zu treffen; sie dürfen nicht an die Verwaltung delegiert werden.Footnote 162 Wesentlich sind etwa Entscheidungen, durch die dem Einzelnen Leistungen von existenzieller Bedeutung gewährt werden (Kloepfer und Deye 2009, S. 1218; Sachs 2011, Art. 20 GG, Rn. 117). Die Gewährleistung gleicher Chancen bei mehreren Interessenten für dieselbe Leistung muss durch ein Verfahren erfolgen, in dem die Positionen des Einzelnen hinreichend gesichert sind (Pieroth und Schlink 2011, Rn. 104). Das Verfahren und die maßgeblichen Kriterien sind bei entsprechender Bedeutung ebenfalls gesetzlich zu regeln. Insbesondere dort, wo der Staat eine Monopolstellung für die Zuteilung von Leistungen innehat, und die Beteiligung an staatlicher Leistung Voraussetzung für die Verwirklichung von Grundrechten ist, muss der Gesetzgeber bei Knappheit der von ihm zur Verfügung gestellten Ressourcen die Verteilung auf die Begünstigten selbst verantworten (BVerfGE 33, 303 [331 f., 337]; Brech 2008, S. 311). Bei Delegation der Regelungsbefugnis auf die Exekutive muss er „zumindest die Art der anzuwendenden Auswahlkriterien und deren Rangverhältnis untereinander selbst festlegen“ (BVerfGE 33, 303 [345 f.]; Brech 2008, S. 311). EthikkommissionenFootnote 163 können allenfalls beratende Funktionen haben, aber – mangels demokratischer Legitimation – nicht rechtsverbindlich Kriterien festlegen (Isensee 2005, S. 343).

Maßnahmen der Hilfskräfte in MANV- und Katastrophenlagen oder die Verteilung von Impfstoffen und Medikamenten bei Pandemien sind für die Verwirklichung von Grundrechten wesentlich. Triage kann über Leben und Tod entscheiden. Impfungen verringern in erheblichem Maß das Krankheitsrisiko und damit verbundene Risiken bleibender Gesundheitsbeeinträchtigungen oder Lebensgefahr. Hilfsmaßnahmen in komplexen Schadenslagen können ebenfalls für Leben und Gesundheit, aber auch andere Grundrechte, wie das Eigentumsrecht, relevant werden oder berufliche Existenzen davon abhängen.

Ob diese Kriterien gesetzlich festzulegen sind, hängt von der Bedeutung für die Grundrechtsausübung ab. Brech (2008, S. 312, 315) nennt als zu berücksichtigende Aspekte die Bedeutung der Leistung für die Betroffenen, die Häufigkeit von Auswahlsituationen, die Größe des Missverhältnisses zwischen Leistungsangebot und -nachfrage und Ausweichmöglichkeiten auf private Anbieter. Bei MANV-Lagen und Katastrophen sind die Betroffenen gerade deshalb auf Hilfe angewiesen, weil sie nicht oder nur begrenzt auf andere Leistungen ausweichen können. Schwer Verletzte können sich nicht selbst versorgen oder in Krankenhäuser begeben. Die Feuerwehr wird zum Löscheinsatz benötigt, weil das Feuer für eigene Löschbemühungen zu groß ist. Bei einem längerfristigen Stromausfall bestehen kaum noch Möglichkeiten an Treibstoff, Notstromaggregate oder Lebensmittel zu kommen. Sind Ressourcen bei Privaten vorhanden sind, können die Katastrophenschutzbehörden ggf. verlangen, dass sie für die Lagebewältigung nach den Weisung Behörden zur Verfügung gestellt werden.Footnote 164 Impfstoffe und Medikamenten können bei Knappheiten nicht (mehr) auf einem freien Markt beschafft werden (dazu näher Pohlmann 2012, S. 279.). Hieraus folgt insgesamt, dass die Entscheidung über die Verteilungskriterien so wesentlich ist, dass es einer gesetzlichen Grundlage bedarf. Die grundlegenden Fragen wären auch in einem Parlamentsgesetz zu klären.Footnote 165

Rechtlich vorgegebene Priorisierungskriterien wirken zudem als Rechtfertigungsgrund für nachrangige Behandlung oder Hilfe. Sie können insoweit Rechtssicherheit für Helfer, aber auch für Betroffene erhöhen.

6.5 Möglichkeit der gesetzlichen Festlegung

In einigen Experteninterviews wurde die Normierbarkeit von Priorisierungskriterien bezweifelt (s. o.). Hierbei ist aber hinsichtlich der Komplexität der Situationen und Fragestellungen zu unterscheiden. Je konkreter die Fragestellungen sind, desto eher ist eine Normierbarkeit anzunehmen. Dies gilt z. B. für die Triagekategorien oder die Verteilungskriterien für Impfstoffe. Lassen sich solche Kategorien bzw. Kriterien in Konsensuskonferenzen bzw. Pandemieplänen festlegen, sind sie auch gleichermaßen in Gesetzen oder Verordnungen regelbar. Daher wären die anzulegenden Auswahlkriterien und die Zielsetzungen (Maximierungsziele) gesetzlich zu benennen (vgl. Brech 2008, S. 314). Soweit auf dieser Grundlage bereits zu priorisierende Gruppen bereits festgelegt werden können (z. B. Schlüsselpersonal bei Impfungen) hätte dies ebenfalls im förmlichen Gesetz zu geschehen.Footnote 166 Für die Regelung von Detailfragen können die Gesetze Verordnungsermächtigungen enthalten (vgl. Brech 2008, S. 314). Konkrete Festlegungen müssten anhand der gesetzlich fixierten Kriterien in der aktuellen Lage (z. B. bei einer Pandemie aufgrund der aktuellen epidemiologischen Lage) erfolgen (Kloepfer und Deye 2009, S. 1220), wobei die Zuständigkeiten für die konkrete Entscheidung ebenfalls gesetzlich festzulegen wären. Dies gilt insbesondere bei einer Einbeziehung von Expertengremien (etwa STIKO) auch für deren Beteiligung und die Verfahren.

Anderes gilt für komplexe Schadenslagen. Stober (2008, S. 44) konstatiert hierzu, dass sich die „Katastrophenrealität (…) rechtstatsächlich einer einheitlichen Modell- und Musterbewertung bzw. einer Standardisierung von vornherein entzieht.“ Die mögliche Vielfalt der einzelnen Lagen und der betroffenen Rechtsgüter und sonstiger BelangeFootnote 167 sowie von Lageänderungen lässt kaum konkrete, für alle Situationen gleichermaßen passende Kriterien oder Festlegungen auf bestimmte Maßnahmen zu, die über sehr allgemeine Kriterien (Vorrang von Leben und Gesundheit von Menschen, Maximierungsziele) hinausgehen. Diese sind aber ebenso normierbar wie deutlichere Zuständigkeiten und Verfahrensweisen zur Prioritätensetzung. Auch wenn generalklauselartige Normen an der Praxis insofern nichts ändern, erhöhen sie gleichwohl die Rechtssicherheit.Footnote 168 In komplexen Lagen müssen aber letztlich die zuständigen Behörden und Einsatzkräfte auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls anhand dieser allgemeinen Grundsätze reagieren (vgl. BVerfGE 46, 160 [165]).

Soweit in der Praxis Befürchtungen einer Überregulierung oder Entscheidungshemmung durch höhere Justiziabilität bestehen, lässt sich entgegenhalten, dass zum einen eine nachträgliche Prüfung ohnehin erfolgen kann. Sind Entscheidungskriterien nicht gesetzlich festgelegt, werden sie von der Rechtsprechung entwickelt. Andererseits wird im Katastrophenfall bei nachträglicher Prüfung den Entscheidungsträgern auch Fehlertoleranz einräumt: „In einer Katastrophensituation [indiziert] nicht jede einzelne Maßnahme, die sich im Nachhinein als unglücklich, unklar oder gar als unzutreffend, nicht sachgerecht oder als unterblieben herausstellt, ein Verschulden […], insbesondere wenn an mehreren ‚Hochwasserfronten‘ gekämpft wird“ (OLG München, Urt. v. 18.9.2003, Az.: 1 U 2138/03 [juris Rn. 246]). „Die Einsatzleitung muss unter ständig wechselnden Bedingungen die vorhandenen Kräfte auf die verschiedenen Brennpunkte verteilen und im Bedarfsfall verschieben, die Erfolgsaussicht, den Zeitbedarf und den Ressourcenverbrauch geplanter Maßnahmen unter höchstem Zeitdruck bewerten, immer wieder improvisieren und versuchen, eingetretene Friktionen zu beseitigen, ohne dass ein solcher Ernstfall vorher geübt werden könnte. […] Mit einem geordneten Verwaltungsverfahren ist diese Tätigkeit nicht vergleichbar“ (OLG München, Urt. v. 5.6.2003, Az.: 1 U 3877/02 [juris Rn. 196]).

7 Zusammenfassung

Prioritätensetzung erfolgt auf verschiedenen Ebenen. Die kleinste Dimension, die als Triage oder Sichtung bezeichnet wird, umfasst die Verteilung von Rettungskräften auf konkret Betroffene im Zeitpunkt des Schadensereignisses. Bei Großschadensereignissen muss eine Unterscheidung zwischen den betroffenen Gütern erfolgen, um eine Prioritätenbildung vornehmen zu können. Diese Prioritätensetzung wird in der konkreten Situation von zwei Faktoren beeinflusst: (1) dem Schutzbedarf des betroffenen Rechtsgutes, der von der zuvor getroffenen staatlichen Katastrophenvorsorge und der individuellen Vorsorge der potentiell Betroffenen abhängig ist, insb. in den Fällen der ‚Kritischen Infrastrukturenʻ (Stromversorgung, Informationstechnologie, Verkehrsleitung), und (2) den vorhandenen Ressourcen. Bei Vorsorgemaßnahmen besteht ein ‚Verletzlichkeitsparadoxonʻ, welches besagt: Je weniger störanfällig die Versorgungsstrukturen sind, desto gravierender wirken sich Störungen aus.

Prioritätensetzung ist insbesondere bei Mangelressourcen erforderlich. In der Literatur wird unterschieden zwischen der Makroallokation und der Mikroallokation. Makroallokation betrifft die Zuteilung von Budgets zu unterschiedlichen Aufgaben und Behörden. Die Mikroallokation beschäftigt sich mit Mangelerscheinungen während der konkreten Lagebewältigung. Tendenziell lässt sich festhalten: Die Verringerung von Vermeidungs-/Vorsorgestandards auf Makroebene ist geeignet, die Schadenswahrscheinlichkeit bzw. die Wahrscheinlichkeit von Ressourcenmängeln in der konkreten Lagebewältigung zu erhöhen.

Katastrophenvermeidung oder -vorsorge bilden die erste Stufe (Makroallokation) zur Bekämpfung von Katastrophen. Katastrophenvermeidung umfasst alle Maßnahmen, die dazu beitragen sollen, den Eintritt einer Katastrophe zu verhindern. Dazu werden bspw. Sicherheitsbestimmungen an Betreiber von Anlagen gestellt. Diese Vorschriften finden sich nicht im Katastrophenschutzrecht, da das Katastrophenschutzrecht den Eintritt einer Katastrophe voraussetzt. Katastrophenvorsorge bezeichnet die Vorbereitung auf die Katastrophe mit dem Ziel der Bewältigung ihrer Folgen. Dies erfolgt bspw. in Form von Notfallplänen/Vorratsanlegung/etc. Diese Aufgaben werden von verschieden Akteuren, die teilweise gesetzliche Vorgaben erfüllen, übernommen. Die getroffenen Maßnahmen müssten notwendig sein, da Wirtschaftlichkeit im Hinblick auf die eingesetzten Mittel eine relevante Rolle spielt. Jedoch sind beide Ebenen nicht immer scharf voneinander zu trennen (Bsp. :Deich)

Die konkrete Katastrophenbewältigung, die der Mikroallokation zugeordnet werden kann, zeichnet sich dadurch aus, dass für eine bestimmte Zeitspanne keine ausreichenden Kräfte zur Verfügung stehen, um die Betroffen versorgen zu können. Gründe liegen hier insbesondere an der begrenzten Anzahl von verfügbaren Ressourcen, dem Zeitbedarf zur Mobilisierung und organisatorischen Problemen.

Bei komplexeren Katastrophen sind die Anforderungen an die Prioritätenbildung höher. Komplexe Lagen zeichnen sich dadurch aus, dass eine Vielzahl von Schutzgütern betroffen ist und unter diesen Wechselwirkungen bestehen. Bei Stromausfall muss insb. eine Prioritätenbildung auf den Ebenen der Stromversorgung/-verteilung und der Personalverteilung erfolgen. Die höchste Priorität wird der Funktionsfähigkeit der Hilfskräfte und deren Aufrechterhaltung zugerechnet, daran schließt der Schutz von Leben und Gesundheit der Bevölkerung (z. B. der Sicherung der lebenswichtigen Versorgung) und zuletzt der Schutz von Sachwerten und die Minimierung von wirtschaftlichen Schäden an. Dies erfolgt im Konkreten durch die Verteilung von Notstromaggregaten, Lebensmitteln und Trinkwasser und der Gewährleistung medizinischer Versorgung. Hierzu können auch Private in Anspruch genommen werden. Massenanfall an Verletzten oder Erkrankten kommt durch plötzliche Ereignisse oder schwere Infektionskrankheiten zustande. Die Priorisierung erfolgt zunächst vor Ort, wird aber im Krankenhaus weiter differenziert. Um die Anzahl der benötigten Hilfskräfte abschätzen zu können, wird die Zahl der Verletzten als Indiz verwendet. Pandemien betreffen zunächst das Gesundheitswesen, welches mit der Bevorratung von Medikamenten, der Verteilung von Impfstoffen und der Infektionssurveillance beauftragt ist. Insbesondere werden die Krankenhauskapazitäten ausgelastet. Problematisch an Pandemien ist die fehlende zeitliche und örtliche Begrenzung der Ausbreitung, was auch zur Abnahme der Helferzahl führt (Ansteckung der Helfer). Primäre Intention der behördlichen Maßnahmen ist, die Ausbreitung zu verhindern, im Übrigen erfolgt die Prioritätenbildung wie im obigen Beispiel. Bei der Prioritätensetzung im medizinischen Bereich spielen die Reihenfolge der Impfungen, die Verteilung von kurativen Medikamenten, die Aufstellung von Indikatoren für die Krankenhausaufnahme und die Entscheidung darüber, welche Leistungen nicht erbracht werden, eine gewichtige Rolle.

Mangellagen in Katastrophenfällen sind weder theoretisch noch praktisch auszuschließen. Diskutiert werden mindestens drei Methoden zur Verteilung von Mangelgütern, welche sich gegenseitig nicht ausschließen, sondern eher ergänzen:

  • Absenkung des Versorgungsstandards. Hier werden benötigte Ressourcen nur in einer geringeren Qualität oder Quantität verteilt.

  • Rationierung. Es werden eigentlich notwendige Leistungen bewusst vorenthalten, dabei werden mehrere Erscheinungsformen unterschieden (offen-verdeckt; weich-hart; direkt-indirekt).

  • Priorisierung. Hierbei wird eine Rangfolge nach bestimmten Kriterien erstellt.

Die Katastrophenschutzbehörden sind dazu verpflichtet, Notfallpläne zu erstellen, notwendige Leitstrukturen einzurichten, ausgebildete Katastrophenschutzeinheiten zu unterhalten und u. U. auch Private, insb. Betreiber von gefährlichen Anlagen, einzubeziehen, um die notwendigen Vorsorgemaßnahmen zu erfüllen. Hier bestehen einzelne Defizite und Regelungslücken. Tatsächlich planen Krankenhäuser in ihrer Finanzierung keine Katastrophen ein, eine Verpflichtung zur Bereithaltung von Notstromaggregaten besteht nur vereinzelt, für den Pandemiefall existieren kaum Notfallpläne für private Betriebe. Zusätzlich ist der Umfang der privaten Vorsorge nicht abschätzbar.

Verfassungsrechtliche Anforderungen können sich aus den Grundrechten ergeben, da diese nicht nur Abwehrrechte gegen den Staat, sondern auch Schutzpflichten darstellen. Aus dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit gem. Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ergibt sich eine Vorsorgeverpflichtung der öffentlichen Hände insb. für Einzelne, die keine selbstständige Vorsorge treffen können. Weitere Schutzpflichten können sich aus Art. 14 GG, dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG), Art. 87 f Abs. 1 GG zum Schutz wichtiger Infrastrukturen und Art. 20a GG zum Schutz der Umwelt ergeben. Jedoch bestehen diese Schutzpflichten nur im Rahmen des Möglichen. Ausreichend sind ein funktionierendes Gesundheits-/Rettungssystem und Vorkehrungen gegen Naturgewalten. Ein Verfassungsverstoß läge nur dann vor, wenn keine Schutzvorkehrungen getroffen worden wären oder die getroffenen Maßnahmen gänzlich ungeeignet/unzulänglich wären. Betroffene haben einen Teilhabeanspruch aus Art. 3 Abs. 1 GG, soweit eine Ungleichbehandlung durch keinen sachlichen Grund gerechtfertigt. Eine pauschale Abwägung Leben gegen Leben ist nicht zulässig. Offene Fragen bzw. Defizite bestehen bei der Einbeziehung Privater, insb. da der größte Teil der Lebensmittelversorgung über Privatunternehmen erfolgt. Eine gesetzliche Verpflichtung zur Bereithaltung von Notstromaggregaten zur Sicherung von Lebensmitteln könnte angedacht werden.

Im Haftungs- und Entschädigungsrecht wird die Verantwortlichkeit von Kommunen für nicht ausreichende Vorsorge bei Hochwasserereignissen bzw. deren Schadensminimierung diskutiert. Eine wichtige einschlägige Haftungsgrenze bildet ‚höhere Gewalt‘ (= Drittereignis ist für den Schaden ursächlich). Jedoch können ausgebliebene bzw. unterlassene Vermeidungs- bzw. Vorsorgemaßnahmen einen Haftungsanspruch auslösen. Dieser ist aber abhängig vom Umfang der Amtspflicht. Beschränkt werden Amtspflichten durch die Zumutbarkeitsgrenze. Anspruchsbegrenzend wirkt sich die Verantwortungsdifferenzierung aus: Katastrophenschutz- und -vorsorgeaufgaben obliegen nicht alleine dem Staat, da diesen keine Erfüllungsverantwortung trifft. Jedoch kann ihm eine Auffangverantwortung bzw. Gewährleistungsverantwortung zukommen, wo eine Versorgung durch Private nicht gewährleistet werden kann Daraus können jedenfalls Überwachungs-, Beobachtungs-, Organisations-, Förderungs- oder Regulierungsverantwortung entstehen. Folglich könnte man sagen, dass die staatliche Verantwortung zu einem ‚Privatisierungsfolgenrecht‘ wird. Die Einbindung Privater in die Aufgabenerfüllung des Staates kann durch Auftrag oder durch gesetzliche Vorgaben an die potentiellen Gefahrverursacher (nach dem Verursacherprinzip) oder die Auferlegung von Leistungsverpflichtungen erfolgen.

Es gibt nur eine geringe Anzahl an einfach gesetzlichen Regelungen zur Prioritätensetzung im Katastrophenfall. In § 1 Abs. 1 S. 2 BremHilfeG wird normiert, dass der Schutz des menschlichen Lebens und dessen Gesundheit vor allen anderen Rechtsgütern steht. Ähnliches regeln die Rettungsdienstgesetze, Rettungsdienstegesetz, wo die Notfallrettung vor den Krankentransport gestellt wird (vgl. Nachweise in Fn. 104). Bei Post-/Telekommunikationsstörungen besteht eine Einteilung nach Bevorrechtigten (§ 1 Abs. 2 Nr. 1 PTSG). Die Vorschriften im EnSiG, EVG, VerklG sehen Eingriffsmöglichkeiten in die Marktstrukturen bei Katastrophen vor. § 12 Abs. 1 ErdölBevG ermächtigt zu Vorgaben für eine bestimmte Verteilung von Ölvorräten im Katastrophenfall. In Art. 2 Nr. 1 der VO Nr. 994/2010 wird ein geschützter Kundenkreis bestimmt. Netzbetreiber sind zur Sicherstellung des Netzbetriebes nach § 13 Abs. 2, 4 EnWG verpflichtet. Die genannten Vorschriften beabsichtigen eine Prioritätenbildung, welche sich dadurch auszeichnet, dass dem Leben und der Gesundheit des Menschen der höchste Stellenwert zugeschrieben wird. Deutlich wird auch die Zielsetzung, Einrichtungen zur Krisenbewältigung funktionsfähig zu halten. Wegen der fragmentarischen Sonderregelungen der Prioritätensetzung muss z. T. subsidiär auf Generalklauseln der Landeskatastrophenschutzgesetze oder das allgemeine Ordnungsrecht zurückgegriffen werden. Strafrechtliche Normen bringen hingegen keine konkreten Handlungsanweisungen für die Prioritätenbildung.

Die Verteilung medizinischer Ressourcen im Pandemiefall kann sich in zwei Unterfälle einteilen lassen. Impfstoffe sollen die Morbidität/Mortalität der Betroffenen minimieren. Dazu werden zuerst die Beschäftigten im Gesundheitswesen geimpft, um die weitere Versorgung zu gewährleisten, dann Berufsgruppen, die für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Infrastruktur von Nöten sind, anschließend Risikogruppen und zuletzt die übrige Bevölkerung. Hingegen lassen sich bei der Verteilung von antiviralen Medikamenten keine Rückschlüsse auf eine einheitliche Zielsetzung ziehen. Es ist unklar, ob die bevorrateten Mengen auch bei nur kurativem Einsatz nur für Schlüsselpersonal und ggf. Risikogruppen oder für alle Erkrankten ausreichen. Innerhalb der Krankenhäuser wird im Notfall die Regelversorgung eingeschränkt (planbare OPs verschoben, Patienten vorzeitig entlassen). Bei komplexen Schadenslagen ist die Katastrophenbewältigung ohne Hilfe von außen regelmäßig unmöglich, deswegen muss auch eine Prioritätenbildung bei Anfragen um Unterstützung an andere Stellen stattfinden. Sie wird von den angefragten Behörden gewährt, wenn die eigenen Aufgaben der ersuchten Behörde gewährleistet sind und davon ausgegangen werden kann, dass diese Stelle effektiven Schutz leisten kann. Mögliche Abwägungsgründe können die Anfahrtsstrecke, Zeit, Umfang und Größe der Gefahr sein. Grundsätzlich wird Nachbarschaftshilfen kostenfrei geleistet. Bei Amts- und Katastrophenhilfe sind der hilfeleistenden Körperschaft grds. die Kosten zu erstatten. Die Praxis ist jedoch differenziert. Die Feststellung des Katastrophenfalles durch einen Landkreis führt grds. dazu, dass der der betreffende Landkreis die Kosten für den Katastropheneinsatz zu tragen hat. Daraus könnte eine Zurückhaltung bei der Feststellung des Katastrophenfalles folgen. Dies konnte jedoch nicht eindeutig festgestellt werden. Teilweise übernehmen die Bundesländer die Kosten.

Die Praxis lässt sich so zusammenfassen: Rettungsmaßnahmen orientieren sich an den Kriterien der Effektivität, Quantifizierung, Unwiederbringlichkeit, Erfolgsaussicht, Zeit, eigenen Gefährdung und möglichen Folgen. Menschen werden vor Tieren, der Umwelt und Sachwerten gerettet. Die Rettungsmaßnahmen erfolgen in mehreren Phasen: Rettungs-, Versorgungs- und Wiederaufbauphase.

Ziel der Triage ist, möglichst viele Menschenleben zu retten. Dazu werden die Verletzten in vier Gruppen unterteilt, um so die höchste Zahl an Überlebenden zu sichern. Gesetzliche Regelungen zur Prioritätenbildung sind nur lückenhaft vorhanden. Auch im Bereich der Leistungsverwaltung bedarf es einer gesetzlichen Grundlage für staatliches Handeln wenn grundrechtlich geschützte Lebensbereiche betroffen sind (Wesentlichkeitstheorie). Dies würde auch Rechtssicherheit für die Helfer schaffen. Demgegenüber werden Nützlichkeit und Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung von den interviewten Experten verneint mit der Begründung, dass eine gesetzliche Regelung zu starr und allgemein wäre. Die Mitarbeiter könnten aus solchen Regelungen keine Rückschlüsse auf die Prioritätenbildung ziehen. Bei konkreten und begrenzten Fragestellungen sind gesetzliche Regelungen jedoch möglich und geboten. Für Katastrophen, die komplexe Lagen und kaum planbare Entwicklungen beinhalten, lassen sich dagegen keine konkreten Vorgaben, sondern nur sehr allgemeine Kriterien formulieren.