Zusammenfassung
Dieser Beitrag fragt danach, wie sich die demokratischen Kontroll- und Partizipationsformen in der EU entwickelt haben und inwiefern hiermit ein Wandel europäischer Staatlichkeit und eine Transformation der kapitalistischen Organisationsmuster und Dynamiken korrespondiert. Letztere bilden nicht einfach nur einen zusätzlichen weiteren Kontext- und Einflussfaktor, sondern eine grundlegend konstitutive Analysedimension. Schließlich strukturiert die kapitalistische Entwicklungsdynamik ihrerseits maßgeblich die gesellschaftlichen Verhältnisse, sozialen Milieus und auch zivilgesellschaftlichen Organisationsformen und Diskurse, also selbst noch die politische Öffentlichkeit und den „erweiterten Vorhof“ politischer Debatten und Entscheidungen. Diese Strukturierung hat sich über die vergangenen Jahrzehnte qualitativ gewandelt. Sie vollzieht sich in wachsendem Maße als ein transnationaler, durch die europäische Integration geprägter Prozess, der sich unter demokratiepolitischen Gesichtspunkten vielfach als problematisch präsentiert. Nachfolgend wird in diesem Sinne die These entfaltet, dass die Volkssouveränität durch den Integrationsprozess zunächst allmählich, unter Krisenbedingungen zuletzt allerdings vermehrt in Frage gestellt und beschleunigt transformiert wird.
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Notes
- 1.
Um nicht missverstanden zu werden: Nicht alle Tendenzen der Entdemokratisierung sind der europäischen Integration zuzuschreiben; weitere Entwicklungen und Faktoren wie etwa die Globalisierung oder sozialstrukturelle Umbrüche spielen ebenfalls eine Rolle. Zugleich stellt die veränderte Qualität und Funktionsweise der EU – insbesondere der europäischen politischen Ökonomie – aber einen ganz wichtigen Erklärungsfaktor dar.
- 2.
Klassische Ausnahmen bilden die letztlich vom Faschismus faszinierten Vertreter der politischen Führungsauswahl: Vilfredo Pareto, Gaetano Mosca und Robert Michels (vgl. Deppe 1999, S. 179 ff).
- 3.
Die diversen Erweiterungsrunden, insbesondere die Osterweiterung, fügen sich in diese Entwicklung insofern ein, als durch sie die innere Heterogenität der EU und mit dieser die Möglichkeiten einer steuer-, arbeits- und sozialpolitischen Unterbietungskonkurrenz weiter gesteigert wurden (vgl. Höpner 2013).
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Bieling, HJ. (2015). Volkssouveränität und europäische Integration: Zur Transformation eines ehemals komplementären Spannungsverhältnisses. In: Abbas, N., Förster, A., Richter, E. (eds) Supranationalität und Demokratie. Staat - Souveränität - Nation. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-05335-2_4
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