Zusammenfassung
Jörg Michael Kastl geht in seinem einleitenden Aufsatz „Behinderung in Deutschland. Recherchen über eine Erinnerung von Günther Cloerkes“ der Rolle der deutschen Rassenhygiene für den gesellschaftlichen Umgang mit Behinderung vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis in die 1970er Jahre hinein nach und bestimmt vor diesem Hintergrund die gesellschaftliche Bedeutung der Intervention der Soziologie der Behinderten und der Behinderung.
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Notes
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Im folgenden wird Fritz Lenz als Autor nur mit „Lenz“, Hanfried und Widukind Lenz dagegen mit „H.“ bzw. „W. Lenz“ zitiert.
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Ihm gehören natürlich noch weit mehr Vertreter der rassenhygienischen Intelligenzia an als die hier im Fokus stehenden, so etwa August Forel, Alfred Grotjahn, Erwin Baur, Ernst Rüdin, Heinrich Schade, Hans Nachtsheim, um nur einige bekannte Namen zu nennen (vgl. Weingart et al. 1992, S. 192; Lösch 1997, S. 95 sowie generell die Arbeiten von Schmuhl, Kröner, Klee, die Autobiographien von Hanfried Lenz (2002), Gerhard Koch et al.).
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Eine erste Karriere erfährt der Behinderungsbegriff genau aus diesem Grund ausgerechnet ab 1933. Er dient zu einer Abgrenzung rehabilitationsfähiger, nicht „erbkranker“, sondern gleichsam „legitim“, etwa durch Kriegs- oder Arbeitseinsatz behinderter Menschen von denen, die bereits Lenz als „Minderwertige“ bezeichnet (dazu Schmuhl 2010, Kap. 6).
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„Die im schulpflichtigen Alter stehenden geistig Minderwertigen kommen fast alle in die Hilfsschulen, soweit sie nicht wegen schwerer Minderwertigkeit in Anstalten untergebracht werden. Die Fortpflanzung der allermeisten Hilfsschüler aber liegt nicht im sozialen Interesse. Durch ihre Sterilisierung könnten die künftigen Generationen von einer Unsumme von Schwachsinn und anderer geistiger Minderwertigkeit entlastet werden.“ (Lenz 1921/1931, S. 279).
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Auch Massin betont, dass „Rassenhygiene“ von den 1920er-Jahren bis in die 1940er in Deutschland, aber auch in anderen Ländern als ein legitimes wissenschaftliches Forschungsfeld wahrgenommen wurde (Massin 2003, S. 190 f.), also durchaus nicht pauschal als eine „bis 1933 von den Gebildeten nicht ernst genommene Ideologie“ (Plessner 1974, S. 22) anzusehen ist.
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Fritz Lenz bekam schon 1946 in Göttingen wieder ein außerordentliches Professorat, Otmar von Verschuer 1951 in Münster. Auch Hans Nachtsheim wurde 1949 wieder Ordinarius für Genetik in Berlin. Eugen Fischer, Jahrgang 1874, wurde 1942 emeritiert, lebt aber noch bis 1967 in Freiburg. Erwin Baur starb bereits 1933.
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Klee (2013, S. 367) spricht von einer Pensionierung 1955 und einer „nachträglichen Emeritierung“ 1961.
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„In den meisten Ländern scheint die Sterilisation mongoloider Jugendlicher juristisch und ethisch nicht angefochten zu werden. In der Bundesrepublik hat der Gesetzgeber anscheinend das Problem nicht anzupacken gewagt, weil durch den Mißbrauch in der Nazizeit Argwohn noch verbreitet und eine objektive Würdigung erschwert war.“ (zit. bei Weber 1989, S. 94).
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Man kommt nicht umhin, hier an die engen Beziehungen zwischen den Familien Lenz und Verschuer zu denken und an die Protektion, die Widukind Lenz selbst zuteil wurde, als es um seine Münsteraner Stelle ging.
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So wird Hans-Jochen Luhmann in einem Beitrag des WDR-Fernsehens mit den Worten zitiert: "Für mich ist sein Verhalten ganz klar eine Wiedergutmachung, und zwar genau an der richtigen Stelle." (Hallberg 2006 , vgl. auch Luhmann 2001, S. 90); auf der Internetseite einer Ärztegemeinschaft findet sich die Formulierung: „Widukind Lenz hat sich damit um gerade jene verdient gemacht, die noch sein eigener Vater im Namen der ‚Rassenhygiene’ hätte beseitigen lassen.“ (http://www.ambulantechirurgie.info/contergan/contergan-iv/index.html).
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Auch der Bruder Hanfried Lenz hebt in seiner Autobiographie bei der ersten Erwähnung des Contergankomplexes vor allem darauf ab, dass es sich bei den Conterganschädigungen um „keine der bekannten Erbkrankheiten handelte“ (Lenz 2002, S. 92). Der Humangenetiker Friedrich Vogel zeigte sich irritiert, dass Lenz die Verschuer-Nachfolge antritt, obwohl sein wissenschaftlicher Ruf auf Verdiensten beruhte, die gar nichts mit Genetik zu tun hätten (vgl. Harper 2003).
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Internet-Quelle: http://www.nobodysperfect-film.de/de/filminfo.html, abgerufen 16.9.2013.
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Kastl, J. (2014). Behinderung in Deutschland. Recherchen über eine Erinnerung von Günther Cloerkes. In: Kastl, J., Felkendorff, K. (eds) Behinderung, Soziologie und gesellschaftliche Erfahrung. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-05018-4_2
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