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Politische Wirtschaftsethik: Grundlagen und finanzethische Konkretion

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Politische Wirtschaftsethik globaler Finanzmärkte
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Zusammenfassung

In diesem Kapitel entwickle ich das am Nell-Breuning-Institut entstandene Projekt einer „Politischen Wirtschaftsethik“ weiter und konkretisiere es für die Finanzwirtschaft. Dazu lege ich zuerst dar, warum ich mit der Begründung der wirtschaftsethischen Reflexion auf der Ebene einer Gesellschaft beginne und nicht gleich auf der globalen Ebene (Abschn. 3.1). Anschließend stelle ich in Grundzügen das ethiktheoretische Profil der Politischen Wirtschaftsethik dar (Abschn. 3.2) und verdeutliche das Verständnis des wirtschaftlichen Handlungsbereichs, das die Politische Wirtschaftsethik voraussetzt (Abschn. 3.3). Dabei wird auch deutlich, dass es in ihr vor allem um die politische Gestaltung der Wirtschaft geht. Was es bedeutet, diese Praxis ethisch zu orientieren, und welche Maßstäbe dabei zur Anwendung kommen können, entfalte ich im vorletzten Argumentationsschritt (Abschn. 3.4). Schließlich konkretisiere ich die wirtschaftsethischen Argumentationsgänge für finanzethische Fragestellungen (Abschn. 3.5).

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Notes

  1. 1.

    Das Bild der „Spielregeln“, mit dem die Ebene der Wirtschaftsordnung von der Ebene einzelwirtschaftlichen Handelns abgehoben wird, ist offenbar älter. Ein Beispiel fand ich in Euckens „Grundsätzen der Wirtschaftspolitik“. Nachdem er in dem Abschnitt „Was ist die Wettbewerbsordnung?“ die freien einzelwirtschaftlichen Entscheidungen der Betriebe, der Arbeiter und Konsumenten herausgestellt hat, fährt er fort: „Aber es besteht nicht die Freiheit, die Spielregeln oder die Formen, in denen sich der Wirtschaftsprozess abwickelt, die Marktformen und Geldsysteme, nach Willkür zu gestalten. Gerade hier hat die Ordnungspolitik ihr Feld“ (Eucken 1952, 246).

  2. 2.

    Einschlägige finanzwirtschaftliche Beispiele aus deutscher Perspektive sind die (fast) feindliche Übernahme von Mannesmann durch Vodafone, die Geschäftsstrategie der Deutschen Bank, die zumindest zwischenzeitlich stark auf das Investmentbanking statt auf das Kredit- und Einlagengeschäft setzte, und der Börsengang der Deutschen Telekom. Für die Politische Wirtschaftsethik ist – wie Reichert (2013, 267–304) zeigt – eine Rezeption der Verhältnisbestimmung von Struktur und Handlung durch Anthony Giddens fruchtbar. Für weitere moraltheoretische Rezeptionen vgl. Young 2010; Mieth 2010.

  3. 3.

    Exemplarisch bei John Rawls: „Eine Gesellschaft sei eine mehr oder weniger geschlossene Vereinigung von Menschen“ (Rawls 1979, 20 [§ 1]) oder „wobei wir uns Gesellschaft vorerst als geschlossenes System vorstellen, das keine Verbindung mit anderen Gesellschaften hat“ (Rawls 1979, 24 [§ 2]).

  4. 4.

    Hinsch 2003b, 287 mit Verweis (IHinsch 2003b, 287 Anm. 1) auf Ulrich Becks Diktum von einer „Container-Theorie der Gesellschaft“.

  5. 5.

    Vgl. Wienold 1994: Gesellschaft „als Summe von Individuen, die durch ein Netzwerk sozialer Beziehungen miteinander in Kontakt und Interaktion stehen, bzw. als Summe der sozialen Wechselwirkungen“. Einen Überblick über Definitionen des Gesellschaftsbegriffs in diversen Lexika bietet Jürgen Ritsert (1988, 11–22); in den spezifischeren Begriffsbestimmungen spielen Vereinigung von Menschen, Interaktion und alltägliches Handeln der Individuen eine zentrale Rolle (Ritsert 1988, 18–20).

  6. 6.

    Zur soziologischen Diskussion über die Integration moderner Gesellschaften vgl. z. B. Münch 1997. Die folgenden Eigenschaften sollen alle in die internationalen Finanzmärkte integrierten Gesellschaften umfassen.

  7. 7.

    Zur EU gehörten von Januar 1995 bis April 2004: Belgien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Irland, Italien, Luxemburg, Niederlande, Österreich, Portugal, Schweden und Spanien.

  8. 8.

    Vgl. z. B. Kaufmann 1998, 7: „Verbandsmäßige Zusammenschlüsse von Staaten stellen (…) keinen grundsätzlich anderen Vorgang dar, als er auch im Rahmen der nationalstaatlichen Zusammenschlüsse Italiens, der Schweiz oder Deutschlands zu beobachten war. Die Europäische Integration kann daher sowohl als Ausdruck transnationaler Entwicklungen als auch als Versuch einer politisch-sozialen Reintegration auf europäischer Ebene verstanden werden.“

  9. 9.

    Bei einer Analyse der Handelsverflechtungen für Waren zeichnet sich die EU −15 als ein eigenes Cluster (engere Beziehungen zwischen den Beteiligten als zwischen diesen und Drittländern) ab (Molle 2006, 76 f.). Bezogen auf das Gesamt-Bruttoinlandsprodukt (BIP) der EU − 15 konstatiert Molle (2006, 338) zwischen 1960 und 2000 einen Zuwachs des intraregionalen Warenhandels von 6 % auf 16 %. Im gleichen Zeitraum blieb das Verhältnis des Warenhandels der EU −15 mit anderen Ländern zum Gesamt-BIP in etwa unverändert (1960: 9 %, 2000: 10 %). Bei den Dienstleistungen gibt es keinen so markanten Unterschied zwischen dem intraregionalen und dem externen Austausch (Molle 2006, 76 f.). Für die gleiche Gruppe (mit Ausnahme Luxemburgs), nun aber für die Jahre 1999 bis 2010 konstatieren Renate Ohr und Jörg König (2012, 12 f.) ebenfalls einen starken Bedeutungszuwachs der Intra-EU-Verflechtungen bei Waren, Dienstleistungen, Direktinvestitionen und Arbeitskräften (in Relation zum BIP bzw. zur Zahl aller Erwerbstätigen; der Indexwert nur für Griechenland sinkend). Allerdings wuchsen in diesem Zeitraum in allen Ländern die Extra-EU-Verflechtungen noch schneller (Ohr/König 2012, 12).

  10. 10.

    Auch auf anderen Kontinenten gewinnen regionale Verflechtungen an Bedeutung. Sie sind zu berücksichtigen, wenn die weltwirtschaftliche Integration nicht-europäischer Staaten reflektiert wird. Allerdings haben die entsprechenden regionalen Integrationsprozesse (bisher) nicht die gleiche Intensität wie in (West-)Europa, so dass in diesen Fällen die Verwendung der Begriffe „Gesellschaft“, „Staat“, „Volkswirtschaft“ nicht problematisch ist.

  11. 11.

    Von „inter–national“ spreche ich in dieser Studie immer dann, wenn es darum geht, dass Gesellschaften interagieren.

  12. 12.

    Für eine ethische Reflexion des Bedeutungszuwachses der internationalen Wirtschaft vgl. Wissenschaftliche Arbeitsgruppe Hg. 1999 und Hengsbach 2000.

  13. 13.

    Vgl. Pries 2002, 264: Transnationalisierung bezeichnet die „Herausbildung relativ dauerhafter und dichter pluri-lokaler und nationalstaatliche Grenzen überschreitender Verflechtungsbeziehungen von sozialen Praktiken, Symbolsystemen und Artefakten“.

  14. 14.

    Angespielt wird hier auf die These von Michael Zürn, dass sich die OECD-Welt (Zürn 1998, 66 f.; Zürn 2002, 227) gesellschaftlich und politisch denationalisiere. Dabei versteht er unter gesellschaftlicher Denationalisierung, dass sich – was unbestreitbar richtig ist – „verdichtete soziale Handlungszusammenhänge bilden, die die nationalstaatlichen Grenzen überschreiten“ (Zürn 1998, 66). Als politische Denationalisierung bezeichnet er Prozesse, in denen sich seines Erachtens zwei der drei Dimensionen von Staatlichkeit fundamental verändern: Während die Nationalstaaten ihre Ressourcenverfügung (vgl. Besteuerung) bisher zu verteidigen wussten, verlagere sich die Politikformulierung zunehmend auf die internationale Ebene; außerdem erfolge die Anerkennung der Selbstbestimmungsfähigkeit heute nicht mehr ein für alle Mal bei der Staatengründung, sondern bleibe aufgrund des Bedeutungsgewinns der Menschenrechte in der internationalen Politik sowie der ständigen Politikkontrolle durch Ratingagenturen , IWF und andere dauerhaft prekär (Zürn 2002). Abgesehen von den im laufenden Text formulierten Einwänden ist darauf hinzuweisen, dass die zuletzt genannten Tendenzen kaum OECD-Staaten betreffen. Besonders problematisch ist jedoch, dass Zürn Veränderungsprozesse hochstilisiert, wie es für die internationale Politik z. B. in folgendem Zitat deutlich wird (Zürn 2002, 215): „Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass der derzeitige Wandel im historischen Kontext ähnlich grundlegend ist wie der Übergang von der Feudalordnung zum System der territorial definierten Nationalstaaten.“ Auch ein Teil der Global Governance-Theorien scheint den Bedeutungsverlust nationaler Regierungen zu überzeichnen (für einen Literaturüberblick: vgl. Reder 2004); das gilt allerdings nicht für alle Vertreter/-innen dieses Konzeptes, z. B. nicht für Dirk Messner und Franz Nuscheler (vgl. u. a. Messner/Nuscheler 1997).

  15. 15.

    Verwirklichung der Menschenrechte (oder auch: der moralischen Rechte) meint in dieser Studie nicht nur, dass die Akteure alle diese Rechte achten („respect“), also den entsprechenden Unterlassungspflichten genügen, sondern auch, dass sie (zumeist über geeignete Institutionen) das ihnen Zumutbare dazu beitragen, dass die Menschenrechte – insbesondere die politischen Beteiligungs- und die sozialen Grundrechte – für alle erfüllt („fulfill“) werden. Die Aufgaben „respect“ und „fulfill“ hier im Anschluss an Shues (1980, 52 f.) Zusammenstellung dreier staatlicher Aufgaben in Bezug auf Menschenrechte (außerdem: „protect“) [vgl. Abschn. 3.2.4].

  16. 16.

    Vgl. a. Prinz/Beck 1999, 12 als Resumee eines Überblicks über die Empirie wirtschaftlicher Internationalisierung: „Daraus kann gefolgert werden, dass zwar die Volkswirtschaften näher zusammengerückt sind, dass sie aber weit davon entfernt sind, einen ‚Weltmarkt‘ zu bilden. Sieht man von für Volkskirchen typischen Vorsichtsklauseln wie „in vielerlei Hinsichten“ und „mehr oder weniger“ ab, dann behauptete der Rat der EKD in einer Passage der Denkschrift „Gemeinwohl und Eigennutz“ schon 1991 das genaue Gegenteil: „Die deutsche Wirtschaft (…) kann in vielerlei Hinsichten nur noch als Teil einer über alle Ländergrenzen hinweg mehr oder weniger fest integrierten globalen Wirtschaft verstanden werden“ (Rat der EKD 1991, 82); als ein Indiz dafür gilt die „Globalisierung der Finanzmärkte“ (Rat der EKD 1991, 82). Diese Feststellung hindert den Rat der EKD aber nicht, über weite Passagen dieser Denkschrift – wie auch sechs Jahre später in dem von ihm mit verantworteten Sozialwort (Rat der EKD/DBK 1997) – ethische Reflexionen vorzutragen, die sich auf die Gestaltung der deutschen Volkswirtschaft beziehen.

  17. 17.

    Nell-Breuning 1985, 297: Die Volkswirtschaft „besitzt eine eigene, ihr vom Staat gegebene oder zumindest von ihm gewährleistete Ordnung, die das ganze wirtschaftliche Geschehen im Hoheitsgebiete dieses Staates irgendwie zu einer Handlungseinheit zusammenfasst, an der alle Wirtschaftssubjekte einschließlich des Staates selbst aktiv beteiligt sind und für deren aller wirtschaftliches Gebaren diese Ordnung einen Rahmen und ein Mindestmaß gemeinsamer Ziele setzt. Weltwirtschaft dagegen ist offenbar (heute noch) keine solche Handlungseinheit, ist vielmehr ein bloßer, wenn auch sehr intensiver Verkehrszusammenhang . Das besagt, dass sie (bis jetzt) keine das Handeln der Wirtschaftssubjekte auf gemeinsame Ziele verpflichtende Ordnung besitzt, ihre Ordnung sich vielmehr in der Hauptsache in Verkehrsregeln erschöpft, wie sie für jeden Verkehrszusammenhang unentbehrlich sind.“

  18. 18.

    Mit dem Begriff „System der gemeinsamen Wertschöpfung“ schließe ich an Elizabeth S. Andersons (2000, 162–167) Konzept eines „Systems gemeinsamer Produktion“ an – aber mit einer etwas anderen Intention. Anderson geht es offenbar stärker um den von ihr erwarteten Zielpunkt gegenwärtiger Veränderungsprozesse, wenn sie z. B. schreibt (Andersons 2000, 162, Anm. 71): „In dem Maße, wie die Wirtschaft global wird, werden wir alle Teil der internationalen Arbeitsteilung, die einer egalitaristischen Beurteilung zugänglich ist.“ Ohne die Möglichkeit dieses Zielpunkts zu bestreiten, geht es mir darum, dass wir derzeit noch recht weit von ihm entfernt sind.

  19. 19.

    Dass ich den Begriff „prudentiell“ verwende, geht auf die Lektüre einschlägiger Texte von Wilfried Hinsch (1998, 40 f.; Hinsch 2002, 173 f., 267–274) zurück. Hinsch selbst redet in zwei Kontexten von „prudenziell“. Zum einen verwendet er den Begriff dann, wenn er die Perspektive eines Einzelnen (oder eine bestimmten Gruppe Einzelner) einnimmt und fragt, ob etwas (vor allem: das Zulassen einer bestimmten Einkommensdifferenz) in seinem (bzw. ihrem) Interesse ist: „so hat eine Person zum Beispiel dann einen prudenziellen Grund eine ungleiche Einkommensverteilung zu akzeptieren, wenn dies mit persönlichen Vorteilen für sie selbst oder ihr nahe stehende Personen verbunden ist“ (Hinsch 2002, 173; vgl. 273 in Bezug auf die am wenigsten Begünstigten). Zum anderen spricht er bei ethischen Reflexionen (insbesondere bei der öffentlichen Rechtfertigung ungleicher Verteilungen) von „prudenziell“, um auszudrücken, dass etwas im Interesse aller Beteiligten liegt: „Aus prudenziellen Gründen sind Ungleichverteilungen von Gütern öffentlich gerechtfertigt, wenn alle Beteiligten ihnen im Lichte ihrer rationalen persönlichen Präferenzen und Interessen zustimmen können“ (Hinsch 2002, 173; vgl. u. a. 174, 268). Letzteres nenne ich in dieser Studie „universalistisch-prudentiell“. In Bezug auf ethische Reflexionen spreche ich – im Unterschied zu Hinsch – auch dann schon von einem „prudentiellen“ Grund, wenn etwas im Interesse der weit überwiegenden Mehrheit der Beteiligten, nicht aber aller Beteiligten liegt. Prudentielle Argumente, die nicht universalistisch-prudentiell sind, begreife ich in dieser Studie dann als ethische Argumente, wenn sie mit moralischen oder sittlichen Gründen in einem Argumentationsgang verbunden sind.

  20. 20.

    Eine Handlungsweise ist moralisch erlaubt (man kann auch sagen: richtig), wenn sie gegen keine moralischen Rechte irgendeiner Person verstößt. Mit einer Handlung, die dieses Kriterium erfüllt, genügt ein Handelnder auch seiner moralischen Pflicht. Moralisch verboten ist eine Handlung, wenn sie moralisch nicht erlaubt ist. Moralisch geboten bzw. gesollt ist eine Handlung, wenn sie die einzige mögliche ist, mit der das Handlungssubjekt nicht gegen ein moralisches Recht irgendeines Betroffenen verstößt. Damit eine Handlung als sittlich erlaubt oder geboten bezeichnet werden kann, muss sie auf jeden Fall moralisch erlaubt sein. Sittlich erlaubt ist sie, wenn sie darüber hinaus den von (fast) allen Gliedern dieses Gemeinwesens oder dieser Gruppe verinnerlichten Werten und akzeptierten Normen nicht eindeutig widerspricht. Sittlich verboten ist eine Handlung, bei der es einen solchen eindeutigen Widerspruch gibt. Sittlich geboten ist eine Handlungsweise, wenn sie moralisch erlaubt ist und zudem als einzige mögliche Handlungsweise nicht im Gegensatz zu den in diesem Kontext weithin geteilten Wert- und Normvorstellungen steht. Im Vergleich zwischen zwei oder mehreren moralisch erlaubten Handlungsweisen kann eine Handlungsweise auch als sittlich vorzugswürdig gegenüber der oder den anderen bestimmt werden: Sie entspricht den Werten, die die Glieder des Gemeinwesens bzw. der Gruppe verinnerlicht haben, am besten oder steht zu den sittlichen Normen, die von ihnen akzeptiert werden, am wenigsten im Widerspruch. Ethisch verboten ist eine Handlung, die moralisch oder auch nur sittlich verboten ist. Ethisch geboten ist eine Handlungsweise, wenn sie moralisch oder sittlich geboten ist. Etwas weiter als der Begriff „ethisch geboten“ ist der Begriff „ethisch vorzugswürdig “; neben den moralisch oder sittlich gebotenen Handlungsweisen umfasst er auch die sittlich vorzugswürdigen Handlungsweisen und jene moralisch erlaubten Handlungsweisen, die aus prudentiellen Gründen – d. h.: aufgrund ihrer voraussichtlichen Auswirkungen auf das Wohlbefinden der Betroffenen – vorzugswürdig sind.

  21. 21.

    Relevant sind darüber hinaus die Mittel, mit denen die Akteure versuchen, das Gestaltungsziel zu erreichen.

  22. 22.

    In dieser Studie unterscheide ich nicht systematisch zwischen Wohlbefinden, Wohlergehen und Wohlfahrt . Allerdings verwende ich den Begriff „Wohlergehen“ vor allem dann, wenn es um längerfristige Entwicklungen der Lebensumstände Einzelner – also um die Entwicklung ihrer Chancen, Wohlbefinden zu erreichen – geht. Von „Wohlfahrt“ ist vor allem in zwei Kontexten die Rede: einerseits dann, wenn gesellschaftliche Positionen verglichen werden, also wenn unterschiedliche gesellschaftliche Bedingungen für Individuen, Wohlbefinden zu erreichen bzw. zu steigern, beleuchtet werden; andererseits in Passagen, in denen es um gesamtgesellschaftliche Zustände oder Entwicklungen geht, in denen also nach den gesellschaftlichen Voraussetzungen für das Wohlbefinden bzw. Wohlergehen aller (bzw. der meisten) Gesellschaftsglieder gefragt wird.

  23. 23.

    Bei der ethischen Reflexion wirtschaftlicher Institutionen macht m. E. der Versuch, bestimmte Institutionen als ethisch geboten zu qualifizieren, aus drei Gründen keinen Sinn: Man kann erstens nie sicher sein, dass nur die einbezogenen institutionellen Alternativen möglich sind; es besteht immer die Möglichkeit, dass noch eine andere Institution implementiert werden kann, die aus ethischer Sicht gegenüber der besten der einbezogenen Institutionen vorzugswürdig ist. Zweitens würde die Qualifikation von Institutionen als sittlich gesollt die beste künftige institutionelle Gestalt im Rückgriff auf das etablierte Ethos bestimmen: Von den möglichen künftigen Institutionen ist diese eine aus der Perspektive der heute akzeptierten Wert- und Normvorstellungen die beste! Damit wird versucht, der heutigen partikularen Sittlichkeit eine besonders weitgehende Orientierung für die Zukunft zu entnehmen. Bleibt prinzipiell noch die Möglichkeit, eine Institution als moralisch geboten zu qualifizieren. Aber auch dies ist problematisch, weil drittens wirtschaftliche Institutionen – abgesehen von Mindeststandards (wie etwa: keine menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen!) – moralische Rechte vor allem so tangieren, dass sie die langfristige wirtschaftliche Entwicklung beeinflussen, durch die die Verwirklichung sozialer Grundrechte (wie etwa: des Subsistenzrechtes aller Gesellschaftsglieder) wahrscheinlich oder unwahrscheinlich wird. Dieser Einfluss kann – mit erheblicher Unsicherheit – abgeschätzt werden und spielt in der ethischen Bewertung wirtschaftlicher Institutionen eine zentrale Rolle. Dabei handelt es sich aber nicht um die Identifikation einer bestimmten Institution (und keiner anderen) als aus moralischen Gründen gesollt, sondern nur um – in hohem Maße – prudentielle Erwägungen. Unter Beachtung der Unsicherheit jeder Folgenabschätzung können diese allenfalls zu einem Vorzugsurteil führen: dass aus ethischer Sicht eine bestimmte Institution aufgrund der zu erwartenden Folgen einer anderen Institution vorzuziehen sei.

  24. 24.

    Zu den Unterlassungspflichten, die aus dem Mindeststandard „menschenwürdige Arbeit“ folgen, vgl. Sachverständigengruppe 2008, 46–48.

  25. 25.

    Auch hier geht es um den Vergleich von Institutionen, die in etwa die gleiche gesellschaftliche Aufgabe aus ethischer Perspektive mehr oder minder gut erfüllen.

  26. 26.

    Eine solche Qualifikation hat hier zwei Voraussetzungen. Zum einen muss die Gesellschaft bzw. müssen breite Gesellschaftskreise den Werten, zu denen die in den Institutionen naheliegenden oder unumgänglichen Handlungen im Gegensatz stehen, oder den Normen, gegen die diese Handlungen verstoßen, einen besonders hohen Wert zusprechen. Zum anderen dürfen die sittlichen Werte und Normen nicht den moralischen Rechten und Pflichten entgegenstehen.

  27. 27.

    Das Rawlssche Differenzprinzip (Rawls 1979, 81 [§ 11], 336 [§ 46]), wohl das prominenteste Prinzip der Verteilungsgerechtigkeit der modernen Politischen Philosophie, basiert nicht auf einer rein moralischen Argumentation, sondern auch auf prudentiellen Überlegungen (deutlich z. B. Rawls 1979, 175 [§ 26]; vgl. z. B. Hinsch 2002, 173). Im Differenzprinzip geht es um möglichst gute längerfristige Aussichten der am wenigsten Begünstigten. Dabei sollen im Sinne einer prudentiellen Erwägung die Rückwirkungen des Verteilungsprofils auf die Bereitstellung der zu verteilenden Güter in die Bestimmung, welche Verteilung etwa des Einkommens gerecht sei, einbezogen werden. Wenn man der Blickverengung des ökonomischen Mainstreams folgt, kann man das, was einbezogen werden soll, auch einfach als Anreizwirkung der Verteilung begreifen: Die erwartete Verteilung des „Kuchens“ wirkt sich auf die Leistungsbereitschaft der Akteure und damit auf die Größe des zu verteilenden „Kuchens“ aus.

  28. 28.

    Ansprüche werden hier dann widerstreitend genannt, wenn sie nicht alle gleichzeitig ohne Abstriche gedeckt werden können.

  29. 29.

    Im Anschluss an Möhring-Hesse 2004, 95–98; vgl. a. Emunds 2008a.

  30. 30.

    Der Satz zielt auf Vertreterinnen und Vertreter einer normativen Ethik mit kognitivistischem Anspruch. Zu den Begriffen „normative Ethik“ und „kognitivistisch“ vgl. z. B. Düwell/Hübenthal/Werner 2002, 2, 12.

  31. 31.

    Die vertragstheoretischen Ansätze kann man als eine weitere starke Tradition der normativen Ethik mit kognitivistischem Anspruch begreifen (vgl. z. B. die ersten vier Kapitel in Pauer-Studer 2003). Allerdings lassen sich die neueren Ansätze recht gut entweder der kantischen Tradition (z. B. John Rawls) oder der welfaristischen Tradition (z. B. James M. Buchanan) zuordnen. Pauer-Studer (2003, z. B. 106) unterscheidet zwischen universalistischen Vertragsansätzen, die eine faire Berücksichtigung der Interessen aller Betroffenen anzielen, und rational-individualistischen Vertragsansätzen, die ausschließlich auf individueller Nutzenmaximierung basieren. Eine andere gängige Unterscheidung kognitivistischer Ansätze ist die zwischen teleologischen und deontologischen Ansätzen. Vgl. dazu u. a. Werner 2002a; Hübenthal 2002.

  32. 32.

    Vgl. z. B. Koslowski 1988; Koslowski 1991; Koslowski 2004.

  33. 33.

    Vgl. z. B. Homann/Blome-Drees 1992; Homann/Lütge 2005; Suchanek 2001 und die Beiträge in Pies Hg. 2009.

  34. 34.

    Meine an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster eingereichte Habilitationsschrift enthielt ein Kapitel, in dem ich die Wirtschaftsethiken von Koslowski, Homann und Ulrich sowie jeweils einige ihnen nahestehende finanzethische Schriften vorgestellt, eingeordnet und kritisiert habe. Weil bereits viele kritische Auseinandersetzungen mit diesen drei Ansätzen veröffentlicht wurden, wird dieses Kapitel in die vorliegende Studie nicht eingebunden. Einige zentrale Thesen sind allerdings in die Argumentation des vorliegenden Unterabschnitts eingegangen.

  35. 35.

    Im Kern bezeichnet der Begriff „Neoklassik“ eine ökonomische Theorie, die „die Preisbildung auf Güter- und Faktormärkten durch ein markträumendes Gleichgewicht von aus subjektiven Präferenzen abgeleiteten Angeboten und Nachfragen erklärt“ (Schefold 1994, 31). Darüber hinaus aber steht „Neoklassik “ – und dieses Begriffsverständnis wird auch in dieser Studie verwandt – für ein breites Spektrum von Analysen, die die soziale Wirklichkeit aus individuellen Handlungen heraus zu erklären suchen und diese Handlungen durchweg als den Versuch des individuellen Akteurs begreifen, die begrenzten ihm zur Verfügung stehenden Mittel zur möglichst umfassenden Verwirklichung seiner Zwecke einzusetzen (Robbins 1932, 16). Neoklassische Ökonomie in diesem Sinne tritt also mit dem Anspruch auf, eine allgemeine Handlungstheorie zu sein: Da auch außerhalb des wirtschaftlichen Handlungsbereichs Knappheit (fast) universal sei, könne man (fast) jedes menschliche Handeln als Einsatz knapper Mittel auf vorgegebene Zwecke deuten.

  36. 36.

    Allerdings wissen sich manche Wirtschaftsethiker/-innen mit dominantem ökonomischem Hintergrund zugleich dem unter den Ökonomen heute verbreiteten Selbstverständnis wertfreier Wissenschaft verpflichtet. So bemühen sich nicht wenige von ihnen, ihre Aussagen auf Effizienzfragen zu beschränken, die ihnen von Werturteilen unabhängig zu sein scheinen.

  37. 37.

    Zum Utilitarismus vgl. einführend Höffe 1975; Birnbacher 2002.

  38. 38.

    Neben dem hier angedeuteten klassischen Handlungsutilitarismus, der auf die Maximierung der Gesamtnutzensumme zielt, gibt es natürlich auch noch andere Varianten des Utilitarismus (z. B. Birnbacher 2002, 99–102), die hier übergangen werden.

  39. 39.

    Für eine prägnante Darstellung der drei grundlegenden Theoreme der neueren Wohlfahrtsökonomik vgl. Feldman 1987.

  40. 40.

    Das Konzept der Pareto-Effizienz wird in den gängigen Lehrbüchern der Mikroökonomie (z. B. Henderson/Quandt 1983, 300–319) ausführlicher dargestellt.

  41. 41.

    Für die Konzepte der effizienten Produktion und der Minimalkombination vgl. eine der Darstellungen in den üblichen betriebswirtschaftlichen Lehrbücher der Produktionstheorie (z. B. Fandel 1987, 48–51, 233–237). Ein weiterer hier übergangener Effizienz-Begriff ist das auf Harvey Leibenstein zurückgehende Konzept der X-Effizienz: Ein Wirtschaftssystem ist nicht X-effizient, wenn die Wirtschaftssubjekte nicht ausreichend stark motiviert sind, jede sich bietende wirtschaftliche Chance so effektiv wie möglich zu nutzen (z. B. Brus/Łaski 1990, 19–22).

  42. 42.

    Ein einfaches Beispiel: Der Output kann mit den Methoden M1 und M2 produziert werden. Bei M1 benötigt man für die gewünschte Outputmenge 2 Inputs I1 und 2 Inputs I2, bei M2 dagegen 5 Inputs I1 und 1 Input I2. Wenn die Preise der Inputs mit p1 = 2 Geldeinheiten (GE) und p2 = 10 GE gegeben sind, dann sind die monetären Kosten bei der Methode M2 (5 * 2 GE + 1 * 10 GE = 20 GE) geringer als bei M1 (2 * 2 GE + 2 * 10 GE = 24 GE).

  43. 43.

    Zu erwähnen sind allerdings drei Schwierigkeiten, die in dieser Studie nicht weiter verfolgt werden sollen: Erstens ist die Annahme gegebener Preise dann, wenn zwischen verschiedenen gesellschaftlichen (oder gar internationalen) Institutionen ausgewählt werden soll, hoch problematisch. Zweitens verweist die Vorstellung frei werdender Ressourcen, die anders genutzt werden können, auf den Theoriekontext der Neoklassik , insbesondere auf die Vollbeschäftigungsannahme, die für nicht wenige Analysen sehr problematisch ist. Drittens bedeuten Kosteneinsparungen immer auch reduzierte Einkommen für diejenigen, die die Leistungen erbringen. Insofern dürfte eine Pareto-Verbesserung eigentlich nur dann behauptet werden, wenn nachgewiesen werden könnte, dass diese Personen durch den Institutionenwechsel wirklich nicht schlechter gestellt werden bzw. dass ihre Nachteile voll kompensiert werden.

  44. 44.

    Hinzu kommt, dass Effizienzvergleiche zwischen komplexen institutionellen Arrangements – außer in Fällen eklatanter Ineffizienz – häufig nicht zu einem eindeutigen Ergebnis kommen.

  45. 45.

    Präziser, aber weniger prägnant wäre es, wenn man Reflexionen mit Hilfe des Pareto-Prinzips als Suche nach Win-Not-Lose-Konstellationen bezeichnen würde. Das paretianische Profil solcher Ethiken wird in der von Karl Homann begründeten Ökonomischen Theorie der Moral besonders deutlich, paradigmatisch z. B. in Homann 2001; vgl. a. die Beiträge in Pies Hg. 2009.

  46. 46.

    Eine systematische Darstellung der Konzepte „öffentliches Gut“, „Gemeineigentum“ und „externe Effekte“ findet sich u. a. in Lehrbüchern der Umweltökonomie, z. B. Cansier 1993, 18–25.

  47. 47.

    Die Menschenrechte werden hier als unbedingt verpflichtende Rechte begriffen und deshalb nicht selbst als Wohlfahrtssteigerungen bezeichnet. Damit wird ein deutlicher Unterschied zum Sprachgebrauch welfaristischer Ansätze markiert. Dieser legt nämlich den Fehlschluss nahe, es könne moralisch legitim sein, wenn eine Gesellschaft eine Entwicklungsstrategie wählt, bei der einerseits diese Rechte eingeschränkt werden, andererseits – z. B. durch Förderung des Wirtschaftswachstums – ein höheres Wohlfahrtsniveau erreicht wird. Die Verwirklichung der Menschenrechte erhöht zwar im allgemeinen das Wohlbefinden der meisten beteiligten Personen; sie ist aber keine Wohlfahrtssteigerung wie jede andere, deren Nicht-Realisation durch andere Wohlfahrtsverbesserungen kompensiert werden könnte.

  48. 48.

    Zur Geschichte des Naturrechts vgl. die Überblicke bei Korff 1985, 34–47; Honnefelder 1990 und Hertz 1993.

  49. 49.

    Die Skizze der Konzeption weitgehend im Anschluss an Specht 1973, 46–48, 50, 55–59. Vgl. aber auch Korff 1985, 43–45 und Honnefelder 1990, 23–27.

  50. 50.

    Einem verbreiteten Begriffsverständnis entsprechend unterscheide ich nicht zwischen Naturgesetz (lex naturalis) und Naturrecht (ius naturale), obwohl in der katholisch-theologischen Ethik eine Einschränkung des Naturrechts auf den Teil des Naturgesetzes, der das Gemeinschaftsleben und deren Rechtsordnung betrifft (z. B. Nell-Breuning 1967a), nicht unüblich ist (Böckle 1962, 825).

  51. 51.

    Die scholastischen Autoren behaupten nur, dass die Menschen prinzipiell zu dieser Erkenntnis in der Lage sind. Aufgrund der sündhaften Verfasstheit des Menschen gibt es Menschen, die das Wesen der Dinge bzw. das Naturrecht nicht (umfassend) erkennen. In der Neuscholastik wird deshalb auf die Offenbarung und das römische Lehramt verwiesen: Mit deren Hilfe können die Menschen die vorgegebene Ordnung mit Gewissheit erkennen (Korff 1985, 44 f.).

  52. 52.

    Der Begriff „Katholische Soziallehre “ wird hier ausschließlich für die neuscholastische katholische Sozialethik verwandt, die sich im deutschen Sprachraum im 19.Jahrhundert und in den ersten 70 Jahren des 20. Jahrhunderts als eine Einheitslinie formieren konnte. Zum Begriff vgl. Hengsbach/Emunds/Möhring-Hesse 1993a, 8–10. Eine sehr ähnliche normative Argumentationsstruktur findet sich bei den Vertretern des Neoaristotelismus in der Politikwissenschaft. Als deren herausragende Vertreter nennt Lenk (1991, 998–1001) u. a. Arnold Bergsträsser, Eric Voegelin, Dolf Sternberger und Wilhelm Hennis. Zum philosophischen Profil des Neoaristotelismus vgl. Schnädelbach 1986.

  53. 53.

    Der Begriff „telelogisch“ wird hier also verwandt, um die Art und Weise der eingeforderten bzw. als Legitimationsgrundlage behaupteten Funktionalität einer Institution oder Geschäftspraxis zu charakterisieren. Es geht hier um eine Unterscheidung in der Gesellschaftstheorie nicht um eine Unterscheidung zwischen verschiedenen Ethiktheorien (vgl. „teleologisch“ vs. „deontologisch“); der Begriff „teleologisch“ bezieht sich hier also auf die (implizite oder explizite) normative Struktur einer Gesellschaftstheorie.

  54. 54.

    Vgl. Hengsbach 1990a, 327: „Oswald von Nell-Breunings ‚Sache‘ sind (…) nicht bloß die ‚nackten Tatsachen‘ oder die ‚wertfreien Sachverhalte‘, die dem analytischen Zugriff offenstehen, sondern auch das, was er in anderem Zusammenhang als ‚Sachziel‘ bzw. ‚wahren Sinn‘ bezeichnet, der mit dem ‚Vernünftigen‘, dem Mehrheitsfähigen bzw. dem, was unter vernünftigen Menschen zustimmungsfähig ist, identisch ist – also etwas eminent Wertgeladenes.“ Die recht umfassende Definition des Sachzwecks ist wohl auch durch das gesellschaftsteleologische Denken bedingt: In den aristotelisch-naturrechtlichen Ansätzen wird eben nicht nach den aktuell erfüllten gesellschaftlichen Aufgaben einer Institution (bzw. Praxis) gefragt, sondern nach den Aufgaben, die eine solche Institution (bzw. Praxis) in ihrer Zielgestalt als Teil einer perfekten Gesellschaftsordnung erfüllen würde.

  55. 55.

    Zum Verstoß gegen das Humesche Gesetz vgl. z. B. Ricken 1983, 43–50.

  56. 56.

    So bezeichnet Rawls (z. B. 2003, 66) die Koexistenz mehrerer nicht unvernünftiger Globalanschauungen des guten Lebens in liberalen Gesellschaften.

  57. 57.

    Zum konservativen Duktus aristotelisch geprägter Ethiken vgl. Schnädelbach 1986. Für die Kritik eines systematischen Theologen daran, dass die Katholische Soziallehre z. T. Ordnungsvorstellungen vergangener Zeiten vertrat und diese „in abstrakten Formeln“ als „eine überzeitliche Sozialdogmatik zu formulieren“ versuchte, vgl. Ratzinger 1964, hier: 29.

  58. 58.

    In seiner Auseinandersetzung mit kommunitaristischen Ethiken weist Noetzel (1999b) zu Recht darauf hin, dass die Legitimität politischer Ordnung in modernen Gesellschaften nicht mehr möglich ist im Rückgriff auf scheinbar nicht weiter begründungsbedürftige Vorstellungen einer guten Ordnung, sondern einzig und allein im Rekurs auf die Freiheitsräume von Individuen: „Jede moderne Politikvariante zielt in irgendeiner Form auf das Selbstbestimmungsrecht von Individuen. Wer etwa Solidarität mit den Armen fordert und deshalb staatliche Umverteilungsprogramme befürwortet, tut dies, um die Freiheitsräume der Angehörigen dieser Gruppe zu vergrößern, d. h. ihre Möglichkeiten der Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung auszubauen. Offensichtlich steht gar keine andere Sprache als die der individuellen (Rechts-)Ansprüche zur Verfügung, um politische Forderungen in der modernen pluralistischen Gesellschaft formulieren zu können.“

  59. 59.

    Gegen das heute in der Ethik unumgängliche Gebot des normativen Individualismus verstößt z. B. Peter Koslowski in seiner ethischer Reflexion von Unternehmensübernahmen: Ethische Bedenken gegen das „asset stripping“, also die Übernahme eines Unternehmens, seine Zerstückelung und den Weiterverkauf seiner produktiven Teile, meldet er nicht etwa aufgrund negativer Folgen für die Beschäftigten oder für andere individuelle Akteure an, sondern weil damit gegen den „eigenen Zweck“ (Koslowski 1997, 96) des Unternehmens verstoßen werde bzw. die „Interessen der erworbenen Gesellschaft als solcher“ (Koslowski 1997, 96) missachtet würden.

  60. 60.

    Zum Unterschied zwischen erfolgs- und verständigungsorientiertem Handeln vgl. Habermas 1984a, 459–464; Habermas 1988, 63–68.

  61. 61.

    Werner 2002b, 141. Zu den verschiedenen Versionen des Universalisierungsprinzips U und des diskursethischen Grundsatzes D vgl. u. a. Werner 2002b, 146–150 sowie Gottschalk-Mazouz 2002, 87–91.

  62. 62.

    In diese Richtung weist Sen (2012, 151–180) mit seinem Konzept einer „offenen Unparteilichkeit“. Allerdings scheint Sen auszuschließen, dass partikulare Wert- und Normvorstellungen im öffentlichen Vernunftgebrauch jemals eine konstruktive Rolle spielen können.

  63. 63.

    Giegel 1992, 8. Für eine Rezeption in der Christlichen Gesellschaftsethik vgl. u. a. Höhn 1997, 17–27; Möhring-Hesse 1997, 393–406 und Hengsbach 2001, 63f.

  64. 64.

    Die Idee eines „überlappenden“ oder „übergreifenden Konsenses“ spielt in der späteren Fassung der Rawlsschen Gerechtigkeitstheorie eine zentrale Rolle: Die Bürgerinnen und Bürger einer wohlgeordneten Gesellschaft vertreten unterschiedliche „Globallehren“ des guten Lebens, sie bejahen aber dieselben Gerechtigkeitsgrundsätze – nur eben aus unterschiedlichen Gründen (z. B. Rawls 2003, 63–71). Matthias Möhring-Hesse (1997, 442 Anm. 124) macht zu Recht darauf aufmerksam, dass Rawls damit eine andere Konzeption des Moralischen und folglich des Unterschieds zwischen Richtigem und Gutem vertritt als die Diskursethik ; für letztere stimmen die Akteure den moralischen Normen „aus den gleichen Gründen und damit im gemeinsamen Interesse“ (Möhring-Hesse 1997, 442) zu. Im Unterschied zu Rawls ordne ich in dieser Studie den Begriff des „überlappenden Konsenses“ eindeutig dem Sittlichen zu: Es geht um konvergierende Vorstellungen einer guten Gesellschaftsordnung. Mit der Behauptung eines solchen Konsenses wird das von Rawls für liberale Gesellschaft mit Recht betonte „Faktum des Pluralismus“ nicht geleugnet. Denn der Konsens ist nicht selbst eine umfassende Lehre vom guten Leben, sondern besteht lediglich aus partiellen Konvergenzen zwischen den verschiedenen „Globallehren“, sofern diese von den Bürgerinnen und Bürgern dieser einen Gesellschaft vertreten werden.

  65. 65.

    Auch mit diesen Regeln bleiben einige der oben genannten „Unvollkommenheiten“ hoch problematisch. Zum Beispiel ist es mit dem Prinzip der Mehrheitsentscheidung manchmal nicht möglich, die oben an zweiter Stelle genannten Divergenzen in den Präferenzordnungen der Individuen auf überzeugende Weise zu einer gesellschaftlichen Präferenzordnung zu „verarbeiten“, die transitiv ist. Beispiel für eine Präferenzordnung, die nicht transitiv ist: X < Y und Y < Z, aber eben auch Z < X. Zu diesem Condorcet-Problem vgl. z. B. Jehle/Reny 2011, 269 f.; zu dem weiteren Arrow-Unmöglichkeitstheorem vgl. z. B. Varian 2010, 631–634, Feldman 1987 und mit Blick auf die Debatte über Gerechtigkeit Sen 2012, 115–140.

  66. 66.

    Eine Beeinträchtigung der Freiheit, die eigenen Vorstellungen guten Lebens zu verwirklichen, kann allenfalls in den Fällen als moralisch legitim gelten, in denen die Verwirklichung dieser Vorstellungen ihrerseits die Freiheit anderer beeinträchtigen würde. Die Belastung von materiell gut gestellten Personen durch Steuern und Abgaben ist keine moralisch illegitime Beeinträchtigung ihrer Freiheit.

  67. 67.

    Mit dieser Formulierung wird auf die einschlägigen Formulierungen von Karl Homann und seinen Schülern angespielt, z. B. Homann/Pies 1994, 11: „Die Implementation moralischer Ideen schlägt (…) auf die Geltung durch.“

  68. 68.

    Die folgenden Argumentationen können mit Hilfe von Ethiken, die wie die Ansätze von Amartya Sen und Alan Gewirth vor allem auf die Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten aller Menschen zielen, weiterentwickelt und vertieft werden. Vgl. Sen 2001; Sen 2012; Gewirth 1996. Zur Rezeption Sens in der Christlichen Sozialethik vgl. u. a. Wallacher 2001; Fisch 2002. Zu Gewirth vgl. Steigleder 1999; Hübenthal 2006, 213–353. Für finanzethische Positionen im Anschluss an Gewirth vgl. Steigleder 2011; Reichert 2013.

  69. 69.

    Hier wird weder der Anspruch erhoben, alle Rechte aufzulisten, die sich alle Menschen wechselseitig zusprechen müssen, noch der Anspruch, einen archimedischen Punkt zu bestimmen, aus dem heraus eine überzeugende Systematik dieser Rechte entfaltet werden könnte. Vielmehr geht es lediglich darum, auf moralische Rechte hinzuweisen, die für die Wirtschaftsordnung relevant sind.

  70. 70.

    Zum Subsistenzrecht bzw. zum Schutz vor extremer Armut vgl. u. a. Kersting 2002a, 126–137; Hinsch/Stepanians 2005; Pogge 2011 und die Beiträge in Horster Hg. 2010.

  71. 71.

    Da in dieser Studie zwar die Vorstellung [vgl. u. a. Abschn. 5.3.2], nicht aber der Begriff eines Rechts der Völker auf Entwicklung verwandt wird, bezeichnet „Entwicklungsrecht “ im Folgenden immer das Entwicklungsrecht des Einzelnen.

  72. 72.

    In diesem Teilabschnitt und späteren Argumentationsschritten spreche ich häufiger von „Chancen“. Dabei geht es mir aber nicht nur um Startchancen, also um die in Kindheit und Jugend eröffneten Möglichkeiten, seine Talente zu entwickeln, um dann im Verlauf seines Lebens ein angesehenes Mitglied der Gesellschaft sein zu können. Vielmehr ziele ich in einem umfassenden Sinn auf die gesellschaftlich bestimmten Möglichkeiten jedes Menschen zur Persönlichkeitsentfaltung sowie zur Beteiligung an den wichtigen gesellschaftlichen Prozessen, allen voran an der politischen Willensbildung.

  73. 73.

    Die Rede vom Entwicklungsrecht – in Analogie zum Existenz- und Subsistenzrecht – im Anschluss an Kersting 2002a, 135. Eine weitere Konkretisierung wäre möglich mit den Ansätzen von Sen und Gewirth. Vgl. dazu die in Fußnote 68 genannte Literatur.

  74. 74.

    Ein Beispiel ist das Recht auf (Erwerbs-)Arbeit in Art. 23 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1949, in dem – wie in Abschn. 3.2.1 skizziert – das Recht auf gleichberechtigte Zugehörigkeit mit einer stark arbeitsgesellschaftlichen Konnotation konkretisiert wird.

  75. 75.

    Außerhalb von Abschn. 3.3 steht der Begriff „Unternehmen“ ausschließlich für die gewinnorientierten Organisationen der Realwirtschaft. Gewinnorientiert ist eine Organisation, wenn die Leitung bei ihren Entscheidungen auch das Ziel verfolgt, dass auf die Dauer ein ausreichend großer Überschuss der laufenden Einnahmen über die laufenden Ausgaben entsteht. Dieser Überschuss ist dann ausreichend, wenn mit ihm – im Zusammenspiel mit der externen Finanzierung, insbesondere mit der Aufnahme von Schulden – jene Investitionen finanziert werden können, die für den dauerhaften Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens notwendig sind. Wenn ausgesagt wird, dass ein Management gewinnorientiert agiert, ist damit also noch nicht behauptet, dass es Gewinnmaximierung betreibt, d. h. das Ziel verfolgt, den Eigenkapitalwert des Unternehmens zu maximieren.

  76. 76.

    Für eine kurze systematische Darstellung dieser Sicht in Auseinandersetzung mit Habermas´ „Theorie des kommunikativen Handelns“ vgl. Möhring-Hesse 1992. Zum Verständnis der funktionalen Differenzierung bei Luhmann vgl. z. B. Kneer/Nassehi 2000, 122–141.

  77. 77.

    Berger (1992, 173 Anm. 30) unterscheidet im Anschluss an Paula England und George Farkas: Spot-Märkte, contingent claim-Märkte (der Zahlungsanspruch ist abhängig von der Umweltkonstellation, z. B. bei Mietverträgen mit Inflationsanpassung des Mietzinses) und Märkte auf der Grundlage impliziter Verträge . Mit dem Hinweis auf Märkte für Verträge, die nur jeweils in Verbindung mit einem impliziten Kontrakt sinnvoll sind, verschwimmt freilich die Grenzlinie zwischen Märkten und Unternehmen, da letztere ja als „nexus of contracts“ zu begreifen sind. Vgl. a. Berger 1992, 177 Anm. 34: „Man kann sich die in dem Subsystem ‚Wirtschaft‘ möglichen Formen sozialer Beziehungen auf einer Linie angeordnet denken, deren Endpunkte Auktionsmärkte einerseits und hierarchische Unternehmungen andererseits bilden.“

  78. 78.

    Vgl. z. B. Johannes Bergers (1992, 157) Kritik an der „Eliminierung von Wirtschaftsorganisationen (…) aus der Wirtschaft“, die „in Luhmanns (…) Reduzierung der Wirtschaft auf Zahlungen“ auf „die Spitze getrieben“ (Berger 1992, 157) sei. Ähnlich kritisierten bereits Vertreter des Solidarismus Tendenzen in den Wirtschaftswissenschaften, Wirtschaft auf den Güteraustausch zu reduzieren (z. B. Nell-Breuning 1953, 4 f.): „Nicht das bloße Tauschgeschehen, die ‚Katallaktik‘, macht den Inhalt der Wirtschaft aus. Nur der – allerdings durch das Tauschgeschehen vermittelte – Zusammenhang von Erzeugung, Verteilung und Verbrauch ist (…) Wirtschaft“ (Nell-Breuning 1953, 5).

  79. 79.

    Vgl. Berger 1992, 162–164. Für den Herrschaftsbegriff vgl. Weber 1972, 28: „Herrschaft soll heißen die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden“. Zum Folgenden vgl. Berger 1992, 177–193.

  80. 80.

    Im Begriff „materielle Reproduktion“ ist „materiell“ ein anderer Begriff für „stofflich“. In anderen Kontexten – z. B. im nächsten Absatz („materielle Besserstellung“) – steht „materiell“ für Einkommensströme und für Güter, die käuflich erworben werden können. „Materielle Reproduktion“ ist ein feststehender Begriff; deshalb habe ich ihn nicht durch „stoffliche Reproduktion“ ersetzt. Das „vor allem“ im laufenden Text spielt auf personenbezogene Dienstleistungen an, die nicht oder nur schwer als Sicherung der stofflichen Voraussetzungen für den Bestand der Gesellschaft begriffen werden können.

  81. 81.

    Neben den Gütermärkten, also den Märkten für Waren und Dienstleistungen, zählen zu den Märkten: die Arbeitsmärkte, die Märkte für (das Eigentum an oder die Nutzung von) Immobilien und die Finanzmärkte.

  82. 82.

    Zu diesen Einnahmen zählen auch die Einnahmen aus dem Verkauf von Aktiva, einschließlich der Verschuldung und des Verkaufs anderer neu herausgegebener Finanztitel.

  83. 83.

    Mit diesem Satz knüpfe ich an eine vergleichsweise alte Tradition von Konjunkturtheorien an, in der die Privatwirtschaft als aus sich selbst heraus instabil begriffen wird. In einer anderen, heute vorherrschenden Tradition der Konjunkturtheorie werden konjunkturelle Schwankungen dagegen auf externe Störungen der Privatwirtschaft – wie z. B. auf Änderungen der Finanz- oder der Geldpolitik – zurückgeführt. Zum Hintergrund vgl. Trautwein 2000 und Emunds 2000, 321 f. sowie die dort angegebene Literatur.

  84. 84.

    In diesen Modellen sind die aktuellen Ausprägungen der Variablen von ihren früheren Ausprägungen abhängig („dynamisch“) und werden nicht alle (re-)konstruierten Kausalitäten in linearen Funktionen abgebildet („nicht-linear“). Zur Einführung vgl. z. B. Baumol/Benhabib 1989.

  85. 85.

    In der Katholischen Soziallehre wurde Wirtschaft häufig als „Kultursachbereich“ oder „Kulturbereich“ bezeichnet; späte Beispiele sind etwa Nell-Breuning 1985, 160; Höffner 1983, 169. Dabei sind die Vertreter der Katholischen Soziallehre in ihrem Verständnis von Wirtschaft durch die Historische Schule der Nationalökonomie geprägt.

  86. 86.

    Damit soll hier an die Position von Bertram Schefold angeknüpft werden, der immer wieder (z. B. Schefold 1981, 116 f.; Schefold 1994, 12, 25, 51) auf die Vorteile hinweist, die in einer Verbindung der funktionalen Analyse des Systems Wirtschaft mit hermeneutischen Methoden, vor allem mit dem Verstehen des Wirtschaftsstils einer Epoche liegen. Ohne die Bedeutung einer mit formalen Modellen operierenden Wirtschaftstheorie kleinzureden, geht es ihm um eine „begrenzte Ehrenrettung der historischen Schule“ (Schefold 1994, 20), die deren nationalistischen Fehlentwicklungen nicht verschweigt, sondern sie sich bei dem Versuch, positiv an diese Tradition ökonomischer Theoriebildung anzuknüpfen, stets bewusst hält.

  87. 87.

    Für Schefold (1994, 99) bezeichnet Wirtschaftsstil die „zusammenhängende Charakterisierung der Besonderheit der Wirtschaftsweise in einer bestimmten Epoche und einem bestimmten Raum“. Für einen Überblick über die Verwendung des Konzepts vgl. Schefold 1994, 79–99.

  88. 88.

    Die folgende Liste ist angestoßen durch eine Darstellung Schefolds (Meyer-Abich/Schefold 1986, 144–162) und durch die ihr zugrunde liegende Liste Arthur Spiethoffs (1932, 76 f.). Vgl. a. Schefold 1981, 112–121.

  89. 89.

    Vgl. z. B. Ebner 2002, 64: „These economic styles reflect a coherent system of interdependent elements, which are rooted in specific institutional configurations.“

  90. 90.

    Hier geht es zuerst einmal um die gesellschaftliche Legitimität der Institutionen, d. h. um ihre Akzeptanz bei den Gliedern der Gesellschaft, nicht um ihre ethische Legitimität als moralisch richtige und wohlfahrtsmaximierende oder sittlich-gute Institutionen.

  91. 91.

    Vgl. Schefold 1994, 25. Ebner 2002, 66 verweist darauf, dass Spiethoffs Ablehnung einer grundsätzlichen Priorität bestimmter Elemente sein Wirtschaftsstilkonzept in eine doppelte Frontstellung gegen marxistische Materialisten und romantische Idealisten bringt. „In that particular sense, Spiethoff´s approach proved to be analytically superior to alternative notions of economic style that put the analytical emphasis on the component of economic spirit, then understood in terms of world-views and religious underpinnings“ (Ebner 2002, 66, wobei der Begriff des „Wirtschaftsgeistes“ dem siebten Element der in dieser Arbeit vorgeschlagenen Liste entspricht).

  92. 92.

    Die Verwirklichung der liberalen Idee einer politischen Öffentlichkeit war von Anfang dadurch beeinträchtigt, dass sich in den Assoziationen der bürgerlichen Öffentlichkeit nur männliche Angehörige des Besitzbürgertums zusammenschlossen. Die damit verbundenen Ausschlusstendenzen konnten in der weiteren Entwicklung nur bruchstückhaft überwunden werden; auch kam es zumindest vorübergehend zu neuen Exklusionen – vor allem bei Gruppen, die von den etablierten Gruppen als zu radikal wahrgenommen wurden. Trotz der Vermachtung der politischen Öffentlichkeit durch Parteien, Interessenverbände und Massenmedien gab und gibt es in ihr Reste argumentativen Ringens um Lösungen im Interesse aller Bürgerinnen und Bürger, die man als einen realen ethischen Diskurs – oder vorsichtiger: als politisch-ethische Deliberation – begreifen kann (vgl. Habermas 1990, 43 f.).

  93. 93.

    Vgl. Etzioni 1975, 483: „Der Staat ist das organisatorische Werkzeug der Gesellschaft.“

  94. 94.

    Die Formulierung knüpft an Habermas Universalisierungsgrundsatz U an, den dieser allerdings als Argumentationsregel für moralisch-praktische Diskurse formuliert hatte (z. B. Habermas 1983, 75 f.): „So muss jede gültige Norm der Bedingung genügen, dass die Folgen und Nebenwirkungen, die sich jeweils aus ihrer allgemeinen Befolgung für die Befriedigung der Interessen eines jeden Einzelnen (voraussichtlich) ergeben, von allen Betroffenen akzeptiert (und den Auswirkungen der bekannten alternativen Regelungsmöglichkeiten vorgezogen) werden können.“

  95. 95.

    Bei partikular-sittlichen Normen hat dies weitreichende Folgen, insofern bei ihnen – im Vergleich zu den moralischen Rechten und Pflichten – die Gültigkeit von der sozialen Geltung, d. h. von ihrer Akzeptanz und Befolgung in einem bestimmten Kontext, nicht so stark entkoppelt ist. Zum Unterschied zwischen dem faktischen Befolgt-Werden und der Gültigkeit ethischer Normen vgl. Kettner 1994, 38. Für Normen der partikularen Sittlichkeit – nicht für moralische Rechte und Pflichten – klingt sogar das bekannte Diktum Karl Homanns und seiner Schüler plausibel: Unter Wettbewerbsbedingungen „schlägt die Implementation einer Norm auf ihre Geltung durch“ (z. B. Homann/Pies 1994, 5).

  96. 96.

    Vgl. a. Kettners (1994, 38) Unterscheidung zwischen (der moralischen Prüfung) einer moralischen Norm für das Handeln von Wirtschaftsakteuren und (der moralischen Prüfung) einer „Maxime des Gesetzgebers, (die Norm; B.E.) N als geltendes Recht zu praktizieren“.

  97. 97.

    Vgl. Hengsbach/Emunds/Möhring-Hesse 1993b; Hengsbach 1995; Emunds 1995; Möhring-Hesse 1997; Hengsbach 2001.

  98. 98.

    Das bedeutet natürlich nicht, dass bei der Folgenabschätzung nicht auch einmal eine ökonomische Minderheitenposition vertreten werden kann, sofern diese nicht als eindeutig widerlegt zu gelten hat. Beispiele für Positionen, die als eindeutig widerlegt zu gelten haben, sind die undifferenzierte Befürwortung einer Abkopplung der Entwicklungsländer vom Welthandel (zum Stand der Diskussion: VENRO 2003) und die aggregierte Version einer Grenzproduktivitätstheorie der Verteilung (zu deren Kritik vgl. z. B. Garegnani 1989; Kurz 1987).

  99. 99.

    Einen solchen Vorwurf macht Elke Mack (2002, 169) der am Nell-Breuning-Institut entwickelten Christlichen Gesellschaftsethik.

  100. 100.

    Die kurze Argumentation im laufenden Text ist vor allem an der Systemtheorie des späten Parsons (vgl. dazu z. B. Schneider 2005, 144–179) orientiert, weniger an der autopoietischen Systemtheorie Luhmanns (vgl. Kneer/Nassehi 2000, 35–42).

  101. 101.

    Die Institutionen des Handlungsbereichs Wirtschaft und die Institutionen, die die materiellen Voraussetzungen der gesellschaftlichen Selbstreproduktion sichern, sind auch bei einer rein binnenwirtschaftlichen Betrachtung nicht deckungsgleich: Einerseits sind die Märkte, Unternehmen und Finanzinstitute nicht allein für die materielle Reproduktion der Gesellschaft „zuständig“, sondern werden in der Erfüllung dieser Funktion durch Operationen anderer Institutionen, vor allem staatlicher Einrichtungen und privater Haushalte, ergänzt. Andererseits gibt es zahlreiche personenbezogene Dienstleistungen, die zwar nicht zur materiellen Reproduktion der Gesellschaft gehören, aber trotzdem marktförmig organisiert sind und von gewinnorientierten Einheiten der Wirtschaft erbracht werden (können).

  102. 102.

    Da der Begriff „Güter“ in dieser Studie Waren und Dienstleistungen umfasst, geht es – daran sei kurz erinnert – bei dem Begriff „Güterbereitstellung“ um die Produktion und Lieferung von Waren und das Erbringen von Dienstleistungen.

  103. 103.

    Das Verständnis der Gesellschaft als Kooperationszusammenhang zum gegenseitigen Vorteil ist grundlegend für Rawls´ Gerechtigkeitstheorie (vgl. z. B. Rawls 1979, u. a. 20, 149 [§§ 1, 22]; Rawls 2003, 24–27). Der hier im Anschluss an Rawls verwendete Kooperationsbegriff schließt nicht aus, sondern ein, dass Wirtschaftsakteure auf Märkten untereinander konkurrieren. Schließlich findet diese Konkurrenz in gemeinsamen Institutionen und unter Einhaltung von Wettbewerbsregeln statt. Dieser Kooperationsbegriff setzt auf einer grundsätzlichen Ebene der Gesellschaft an, nämlich bei der Reflexion der für alle vorteilhaften gesellschaftlichen Arbeitsteilung, die auch Momente des Wettbewerbs enthält.

  104. 104.

    In ethischen Argumentationsgängen, für die der Argumentierende den Anspruch erhebt, dass sie methodisch reflektiert sind, sollte der Argumentierende versuchen, zwischen einer moralischen, universalistisch-prudentiellen bzw. moralisch-prudentiellen Handlungsorientierung auf der einen Seite und ihrer partikular-sittlichen Konkretisierung auf der anderen Seite zu unterscheiden. Unumgänglich sind solche Unterscheidungen bzw. Unterscheidungsbemühungen, wenn solche wirtschaftlichen Institutionen ethisch reflektiert werden, die nicht auf eine Gesellschaft beschränkt sind; denn die sittlichen Orientierungsmuster werden vielfach von den Bürgerinnen und Bürgern anderer Gesellschaften nicht geteilt. Sie können daher immer nur mit Bezug auf eine Gesellschaft entfaltet werden – semantisch zutreffend, kohärent und überzeugend wahrscheinlich sogar nur von „Insidern“, d. h. von Personen, die in diesem Ethos-Zusammenhang leben bzw. gelebt haben.

  105. 105.

    Vgl. Rawls 1979, 62 (§ 8): Nach einer lexikalischen Ordnung „muss der erste Grundsatz erfüllt sein, ehe man sich dem zweiten zuwenden kann, dieser vor dem dritten usw. Ein Grundsatz kommt erst zum Tragen, wenn die ihm vorgeordneten entweder voll erfüllt oder aber nicht anwendbar sind. Eine lexikalische Ordnung macht also eine Gewichtung der Grundsätze überhaupt unnötig; die weiter vorn stehenden haben im Vergleich zu den späteren gewissermaßen absolutes Gewicht und ausnahmslose Geltung.“

  106. 106.

    In der Frage der Einkommensverteilung wird damit in dieser Studie die Position vertreten, dass die grundlegende Gerechtigkeitsforderung in einer Mindestgüterausstattung aller Bürgerinnen und Bürger besteht. Das kommt der sog. non-egalitaristischen Position nahe, wie sie z. B. von Elizabeth S. Anderson (2000, 155–167) oder Angelika Krebs (2002, 132 f., 206–208) skizziert wurde. Allerdings kann in dieser Studie offen bleiben, ob die Gesellschaft in der materiellen Ausstattung ihrer Bürgerinnen und Bürger über diese Garantie eines „Sockels“ hinaus moralisch zur Herstellung von mehr Gleichheit verpflichtet ist. Eine solche Zweistufigkeit der Verteilung – zu garantierende Mindestausstattung für alle, für den Rest der zu verteilenden Güter dann Anwendung eines die Ungleichheiten eng begrenzenden Prinzips – wird explizit von Wilfried Hinsch (z. B. 1998, 41–51) vertreten. Auch der späte Rawls nennt als ein wesentliches Merkmal der liberalen politischen Gerechtigkeitskonzeptionen, zu denen auch die egalitären Konzeptionen gehören: dass „allen Bürgern ein angemessener Anteil an allgemein dienlichen Mitteln zugesichert (wird), so dass sie ihre Freiheiten und Chancen wirksam nutzen können.“ (Rawls 1998, 70) In „Recht der Völker“ dehnt Rawls diesen Gerechtigkeitsaspekt auf die sog. achtbaren Gesellschaften aus (Rawls 2002, 42): „dass in allen vernünftigen liberalen (und achtbaren) Gesellschaften die Grundbedürfnisse der Bevölkerung befriedigt werden“. „Unter Grundbedürfnissen verstehe ich im Großen und Ganzen solche, die erfüllt werden müssen, damit Bürger in der Lage sind, die Rechte, Freiheiten und Lebenschancen ihrer Gesellschaft zu nutzen“ (Rawls 2002, 229, Anm. 47).

  107. 107.

    Diese Aussage ist beeinflusst von der prudentiellen Rechtfertigung begrenzter Ungleichheiten im Rawlsschen Differenzprinzip : Es geht darum, auf die Dauer die Position der am schlechtesten Gestellten soweit wie möglich zu verbessern (vgl. Rawls 1979, 81–104 [§ 11], 174–177 [§ 26], 335–337 [§ 46]).

  108. 108.

    Zu Recht verweist u. a. Amartya Sen (z. B. 2001, 86–110) immer wieder darauf, dass geringes Einkommen nur eine von mehreren Dimensionen der Armut ist. Diese begreift er als eine gesellschaftliche Position, mit der keine oder nur sehr wenig Entfaltungs- und Beteiligungschancen verbunden sind („capability deprivation“).

  109. 109.

    Mir ist bewusst, dass die Formulierung für den zuletzt genannten Teilaspekt des Wohlstands unscharf ist. Ihn wegzulassen scheint mir aber nicht sinnvoll zu sein. Denn einerseits geht es mir darum, dass Wohlstand nur die materiellen Voraussetzungen für Wohlbefinden bzw. persönliche Entwicklung und gesellschaftliche Beteiligung umfasst, also nicht einfach ein Synonym für alles Positive ist. Deshalb sollen so wichtige Aspekte wie die Rechtssicherheit oder die Freiheit zur politischen Selbstbestimmung nicht unter Wohlstand gefasst, sondern als immaterielle Voraussetzungen für die persönliche Entfaltung und gesellschaftliche Beteiligung (bzw. für das Wohlergehen) der Bürgerinnen und Bürger begriffen werden. Andererseits soll „Wohlstand“ ja gerade nicht zu eng gefasst werden. Neben den – privat oder öffentlich bereitgestellten – Waren und Dienstleistungen, die nicht nur irgendwie als „goods“, sondern als einzelne, klar voneinander abgegrenzte Güter wahrgenommen werden, sollen deshalb auch solche Aspekte einer von vielen geteilten Lebenswelt (wie etwa die Umweltqualität an einem Ort) berücksichtigt werden, die die meisten Individuen in ähnlicher Weise in ihre Entscheidungen (z. B. über einen Umzug oder ein Urlaubsziel) einbeziehen wie die Kosten der einzelnen Waren und Dienstleistungen. Dies geschieht, in dem sie das, was ihnen diese Aspekte wert sind, in Beziehung setzen zum eigenen Einkommen oder anderen monetären Größen und/oder zu Gütern, für die es Preise gibt.

  110. 110.

    Mit dem Begriff „allgemeines Wohlstandsniveau“ ziele ich auf das Wohlstandsniveau breiter Bevölkerungskreise. Wenn es in einer Gesellschaft wenigen Reichen gelingt, ihr eh schon sehr hohes Einkommens massiv weiter zu steigern, während der Wohlstand aller anderen unverändert bleibt, dann steigt das allgemeine Wohlstandsniveau der Gesellschaft nicht.

  111. 111.

    Ein Gegenbeispiel ist der Handel mit Emissionszertifikaten (z. B. Edenhofer 2003, 23).

  112. 112.

    Neben den 20 Gründungsmitgliedern der OECD (Gründung 1961) gehören also Australien, Finnland, Japan und Neuseeland dazu, die zwischen 1964 und 1973 beitraten. Von den heutigen 34 Mitgliedsstaaten (OECD 2013) werden die folgenden zehn Länder den peripheren Ländern zugerechnet: Chile, Estland, Israel, Mexiko, Polen, Slowakei, Slowenien, Südkorea, Tschechien, Ungarn. Diese Länder traten zwischen 1994 und 2010 der OECD bei.

  113. 113.

    Ein Beispiel für ein Teilziel des ökologischen Umbaus, das durch eine Wirtschaftskrise „erreicht“ werden „konnte“, ist die Reduktion von Emissionen, die in der Bundesrepublik in den 1990er Jahren in dem zuvor angekündigten Umfang verwirklicht wurde, weil die ostdeutsche Industrie kollabierte (z. B. Zschiesche 2003, 34).

  114. 114.

    An dieser Stelle sei noch einmal daran erinnert, dass hier, in Kap. 3, die Interessen von Menschen, die in anderen Gesellschaften leben, aufgrund der gewählten Reihung der Argumentationsschritte nicht berücksichtigt werden, aber – gewissermaßen im Hinterkopf – immer präsent bleiben.

  115. 115.

    Peter Ulrich (z. B. 1998, 428; Ulrich 2011, 4) spricht von „normativer Geschäftsgrundlage“. Auf den Begriff greife ich – mit leichter Veränderung – zurück; ich weise ihm aber entsprechend der Funktion, die er in meiner Argumentation hat, Inhalte zu, die von denen, die er bei Ulrich hat, abweichen.

  116. 116.

    In diesem Punkt argumentiert Ingo Pies – mit Verweis auf ordoliberale Positionen – ähnlich. Vgl. z. B. Pies 2009, 24: „Unternehmen sind Wertschöpfungsagenten im gesellschaftlichen Auftrag. (…) In der wettbewerblich verfassten Marktwirtschaft erfüllen Unternehmen eine bestimmte Funktion. Sie organisieren Bedürfnisbefriedigung. Insofern steht das eigeninteressierte Handeln der Unternehmen im Dienst der Konsumenten.“ Allerdings sind auch die Unterschiede zur Politischen Wirtschaftsethik markant: Pies hat einen sehr weiten Wertschöpfungsbegriff; denn er setzt ihn mit dem Aufspüren und Nutzen von Win-Win-Potentialen gleich (z. B. Pies 2008, 4). Zudem sieht er nur in den Gewinnen und nicht auch in Arbeitseinkommen einen Indikator für gelingende Wertschöpfung. Vor allem nutzt er den Wertschöpfungsbegriff, um ethische Anliegen, soweit dies geht, betriebswirtschaftlich – als im Interesse der Eigentümer liegend – zu reformulieren, um dann die Inhalte, bei denen dies nicht möglich ist, polemisch zurückzuweisen.

  117. 117.

    Der Begriff „unternehmerische Leistungserstellung “ meint die Bereitstellung und den Verkauf von Gütern durch Unternehmen.

  118. 118.

    Vgl. u. a. Vogel 2009; Demele 2011; Jähnichen 2011; Möhring-Hesse 2011;Schneider 2011; Rapu 2013.

  119. 119.

    Einnahmen können auch im Unternehmen verbleiben und den Beteiligten nur zugerechnet werden. Das wichtigste Beispiel sind thesaurierte Gewinne.

  120. 120.

    Vgl. z. B. Schneider 2011; Emunds 2011a; Rapu 2013.

  121. 121.

    Peter Ulrich z. B. spielt häufiger mit dem Dreiklang Wirtschaft – Werte schaffen – Wertschöpfung. Den Begriff „Wertschöpfung“ verwendet er vor allem dann, wenn er von einer herrschaftsfreien Verständigung aller Betroffenen spricht, in der eine bestimmte wirtschaftliche Handlung (eine wirtschaftliche Institution) als ethisch gesollt oder vorzugswürdig ausgezeichnet würde (z. B. Ulrich 1994, 84: „sozialökonomisch rational“; vgl. Ulrich 1998, 438 f.). Das ist dann der Fall, wenn die Werte „lebensdienlich“ sind: sinnvolle Werte (solche, die dem guten Leben dienen) für Menschen, die einen Bedarf haben (legitimes Wirtschaften für ein gerechtes Zusammenleben) (Ulrich 1998, 203–205). Und in der Unternehmensethik fordert er die Entscheidungsträger auf, eine „unternehmerische Wertschöpfungsaufgabe“ (Ulrich 1998, 429 f.) zu bestimmen. Für ihn besteht dies in einer „Orientierung der unternehmerischen Tätigkeit an einer ‚Vision‘ der lebenspraktischen Werte, die geschaffen werden sollen, seien es solche auf der Ebene der menschlichen Lebensgrundlagen oder solche auf der Ebene der Erweiterung der menschlichen Lebensfülle“ (Ulrich 1998, 430).

  122. 122.

    Eine rechtsstaatliche Ordnung wird hier als gegeben vorausgesetzt.

  123. 123.

    Wer nach methodologischen Überlegungen Christlicher Gesellschaftsethiker zum Status einer solchen Kriterienbildung sucht, wird vor allem bei Arthur Rich (1984, 102–104, 169–171, 222–233) fündig. Auch wenn Rich einen anderen theologischen, erkenntnis- und ethiktheoretischen Standpunkt vertritt, kann seine Begriffsbildung hier Anhaltspunkte für eine Einordnung der folgenden Kriterienbildung geben. Sowohl die Überlegungen zum moralisch-prudentiellen Fundament der Wirtschaft als auch die folgenden Kriterien der finanzethischen Reflexion würde Arthur Rich den „Maximen“ der sozialethischen Urteilsbildung zuordnen. Deren Normativität ist „relativ“ (Rich 1984, 223), weil sie neben den ethischen Grundanliegen (bei ihm „Prinzipien“ oder „Kriterien des Menschengerechten“, hier: die moralischen Rechte und die prudentielle Ausrichtung auf Steigerungen des allgemeinen Wohlstandsniveaus für alle Gesellschaftsglieder) auch Aussagen über die Wirkungszusammenhänge des ethisch reflektierten Handlungsbereichs enthalten, die sich natürlich als falsch herausstellen können. Auch innerhalb der Gruppe der „Maximen“ differenziert Rich. „Maximen“ können – wie die Aussagen zum moralisch-prudentiellen Fundament – eher prinzipiellen Charakters sein oder – wie die hier vorgeschlagenen Kriterien – dem „mehr tentativ-prudentiellen Typus“ (Rich 1984, 232) zugeordnet werden.

  124. 124.

    Finanzpraktiken sind Geschäftspraktiken der Finanzwirtschaft. Eine Finanzpraxis ist entsprechend die Gesamtheit der finanzwirtschaftlichen Handlungen finanzwirtschaftlicher Akteure (also insbesondere: der Mitarbeiter der Finanzinstitute), die einem gemeinsamen Handlungsmuster folgen.

  125. 125.

    Der Begriff „Finanzbranche “ steht – mit Blick auf eine einzelne Gesellschaft – für die Gesamtheit der Finanzinstitute eines Landes.

  126. 126.

    Für ethische Reflexionen finanzwirtschaftlicher Institutionen, die vor allem auf einer Einschätzung aufbauen, wie gut diese die gesamtwirtschaftlichen Funktionen des Finanzsystems erfüllen, vgl. neben den teleologischen Argumentationen der naturrechtsethischen Ansätze u. a.: Dembinski/Schoenenberger 1993, 45–69; Liedekerke 1997; Emunds 1996b; Emunds 1997a und jetzt auch Steigleder 2011. In dem offenbar stark von Paul Dembinski geprägten Editorial der ersten Ausgabe der Zeitschrift „Finance & Bien Commun/Common Good“ wurde die Frage, ob bzw. wie die expandierenden Wertpapiermärkte ihre Finanzierungsfunktion wahrnehmen, als eine der vier wichtigsten finanzethischen Forschungsachsen identifiziert (Conseil éditorial de „Finance & Bien Commun“ 1998, 17, 19).

  127. 127.

    Nicht ohne finanzethische Brisanz ist auch der hier nicht weiter verfolgte Aspekt der externen Kosten. Man denke nur an das – in der Globalen Finanzkrise überdeutlich zu Tage getretene – Problem, dass Finanzinstitute häufig nicht für ihre Verluste haften, oder an ihre Neigung zu „boom and bust“.

  128. 128.

    Zu denjenigen, die von den Finanzinstituten Einkommen beziehen und deshalb nicht zu den „anderen Akteuren“ gehören, seien hier auch die Einkommensbezieher der folgenden Organisationen gezählt: der Unternehmen, die für die Finanzinstitute Leistungen erbringen (z. B. entsprechend tätige Reinigungsdienste oder Baufirmen), und der Dienstleister, deren Leistungen teilweise mit den Finanzdienstleistungen der Institute eng verbunden sind (etwa auf Wirtschaftsrecht spezialisierte und z. B. an Mergers & Acquisitions gut verdienende Kanzleien).

  129. 129.

    Mit den sechs gesamtwirtschaftlichen Funktionen der Finanzwirtschaft konkretisiere ich die [vgl. Abschn. 3.4.3.4] aufgestellte Forderung, dass Güter bereitgestellt werden, „von denen Akteure, die an der Leistungserstellung nicht beteiligt sind, einen Vorteil haben“. Sollten in der weiteren Diskussion – was ich keineswegs ausschließe – noch andere gesamtwirtschaftlichen Funktionen identifiziert werden, dann ist der Test natürlich zu erweitern. Die Beschränkung auf die sechs Funktionen erfolgt, damit es überhaupt möglich ist, diesen Test mit einem negativen Ergebnis abzuschließen – wobei dies natürlich immer nur ein Abschluss unter dem Vorbehalt weiterer Einsichten (u. a. auch in die gesamtwirtschaftlichen Funktionen der Finanzwirtschaft) ist.

  130. 130.

    Vgl. insbesondere die Versicherungs- und Liquiditätsfunktion der Spekulation [vgl. Abschn. 2.3.2.1]. Zur sozialethischen Bewertung der Spekulation vgl. neben den dort rezipierten Veröffentlichungen von Nell-Breuning und Wiemeyer auch Peter 1993; Peter 2004.

  131. 131.

    In neuscholastischer Begrifflichkeit hat Nell-Breuning diesen Gedanken in der Preistheorie seiner „Börsenmoral“ entfaltet (Nell-Breuning 1928, 24–72; vgl. a. 18–21). Darin geht der Autor davon aus, dass das System der Güterpreise, das den Verbrauch sowie die Erzeugung und mit ihr die Einkommensentstehung steuert, der iustitia legalis zu entsprechen hat, nämlich auf den Zweck der Wirtschaft, also die „Unterhaltsfürsorge für die Gesamtheit des Wirtschaftsvolkes“, ausgerichtet sein muss. Ist von dort her für jeden Preis eine Spanne vorgegeben, innerhalb derer er gerecht ist (Nell-Breuning 1928, 37), dann verlangt die iustitia commutativa, dass die faktisch geforderten und erzielten Preise diese Vorgabe einhalten (Nell-Breuning 1928, 41). Auf der Einkommensseite der Preise zeigt sich die Ausrichtung des Preissystems auf den Zweck der Wirtschaft darin, dass die Berechtigung von „Verdienst“ im „Dienst“ gesehen wird: Ein am Markt erzieltes Einkommen ist nur dann gerechtfertigt, wenn es gezahlt wurde für eine Leistung, d. h. wenn der Einkommensbezieher seinen Mitmenschen einen Dienst erwiesen bzw. etwas volkswirtschaftlich Nützliches getan hat (Nell-Breuning 1928, z. B. 19–21).

  132. 132.

    Ein Beispiel gewissermaßen mit umgedrehtem Vorzeichen ist der Niedriglohn für eine Vollzeiterwerbstätigkeit, mit dem in Deutschland viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in etwa das Niveau von Sozialhilfe und ALG II erreichen.

  133. 133.

    Für eine wirtschaftsethische Kritik des Wettbewerbs der Unternehmen um Kapital vgl. a. Thielemann 2009, 188–214. Im Vergleich zu Thielemann (Thielemann 2009, 133 f.) gewichte ich aber den Anteil der Null-Summen-Spiele bei der Entstehung zusätzlicher Einkommen nicht so stark und den Anteil der Positiv-Summen-Spiele stärker.

  134. 134.

    Dabei ist das Kriterium in der vorliegenden Formulierung zugegebener Weise recht vage. Bei Bemühungen um seine Operationalisierung ist zu beachten, dass die Fähigkeiten der anderen Institutionen, ihre Funktionsfähigkeit gegen die Folgen eines höheren unternehmerischen Gewinndrucks abzusichern, von Gesellschaft zu Gesellschaft sehr unterschiedlich sein können. Das gleiche gilt wohl auch für die durchschnittlichen Fähigkeiten der Menschen, sich in ihren privaten Lebensformen mit hohen Leistungserwartungen so zu arrangieren, dass die Bemühungen nicht aufgegeben werden, eigene Lebenspläne zu verwirklichen, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen und sich an der politischen Meinungsbildung zu beteiligen.

  135. 135.

    Die Steigerung der Gewinne durch neue Güter, für die die Menschen besonders viel zu zahlen bereit sind, ist für den Unternehmenssektor insgesamt (im Unterschied zu einzelnen Unternehmen) vor allem das Resultat von grundlegenden Verschiebungen der Nachfrage (z. B. Wandel der Konsumpräferenzen) oder der längerfristigen technologischen Entwicklung (z. B. im Sinne der Kondratjew-Zyklen), auf welche die Unternehmen wenig Einfluss haben.

    Die Einführung kostengünstigerer Produktionstechnologien dürfte im Allgemeinen nur zu vorübergehenden Extragewinnen einzelner Unternehmen führen.

    Für Gewinnsteigerungen durch eine Senkung der Löhne – was wegen der negativen Rückwirkungen auf das allgemeine Wohlstandsniveau im Übrigen ethisch nicht zu rechtfertigen ist – gibt es für den Unternehmenssektor insgesamt deutliche Grenzen: z. B. den Wettbewerb zwischen den Unternehmen um qualifizierte und geeignet spezialisierte Arbeitskräfte oder – im Niedriglohnbereich – die Höhe von Sozialtransfers, sofern diese für die Arbeitnehmer als Alternative zum Arbeitseinkommen in Frage kommen.

    Der Versuch, Vorleistungen günstiger zu beziehen, ist für den Unternehmenssektor insgesamt keine eigenständige Strategie: Zwar erzielen einige Konzerne höhere Gewinne. Aber die Zulieferer erreichen dann nur noch niedrigere Gewinne oder sie reduzieren die Arbeitseinkommen ihrer Beschäftigten.

  136. 136.

    In Vermögensbegriffen ausgedrückt: Die Gewinnsteigerungen führen zu einer Übernutzung der Vermögen. Kurzfristig wird alles aus ihnen herausgeholt, während die für den langfristigen Erhalt der Vermögen notwendigen Investitionen ausbleiben bzw. zu gering ausfallen.

  137. 137.

    Je höher die geforderte Mindestrendite, umso weniger Investitionsprojekte genügen den Gewinnansprüchen der Eigenkapitalgeber und werden entsprechend auch durchgeführt, was sich auf das Bruttoinlandsprodukt und die Beschäftigung negativ auswirkt. Zudem kann man prekäre Beschäftigung als Reaktion der Unternehmensleitungen auf besonders hohe Renditeziele begreifen. Um diese zu erreichen, müssen die Arbeitskosten gesenkt werden. Insofern kann man auch hier unterstellen, dass ein steigender Gewinndruck auf Unternehmen den Trend zu mehr prekärer Beschäftigung forciert.

  138. 138.

    In den Entwicklungsländern ist damit zu rechnen, dass die Leistungen zumindest partiell in jenem Teil der informellen Ökonomie erbracht werden, der ohne Geld funktioniert. Insofern ist an dieser Stelle die Differenz zwischen dem Wachstum der Geldwirtschaft und der Steigerung der gesellschaftlichen Wohlfahrt von Relevanz. Da in der geldlosen Tauschwirtschaft Leistungen nur unter sehr ungünstigen Bedingungen [vgl. Abschn. 2.2.1] getauscht werden können, ist jedoch davon auszugehen, dass die Integration dieses Sektors in die Geldwirtschaft auch zu einer starken Ausdehnung der unternehmerischen Leistungserstellung führen würde.

  139. 139.

    Was den Effizienzvergleich zwischen dem markt- und dem bankendominierten Finanzsystem-Typ angeht, so hat z. B. Martin Hellwig Mitte der 1990er Jahre die Position vertreten, für keinen der beiden Typen lasse sich überzeugend ein eindeutiger Vorrang begründen (z. B. Hellwig 1997, 239).

  140. 140.

    Zur informellen Finanzierung gehört das Ausleihen von Geld bei anderen Familienmitgliedern und Freunden oder bei traditionellen Geldverleihern.

  141. 141.

    Vorausgesetzt sei, dass die Wirtschaft des Landes das sog. Störungsverbot beachtet, also die Institutionen anderer Handlungsbereiche nicht in ihrer Funktionsweise beeinträchtigt, und dass zwischen der Verwirklichung der bürgerlichen Freiheits- und politischen Beteiligungsrechte einerseits und einer guten wirtschaftlichen Entwicklung kein Zielkonflikt besteht.

  142. 142.

    Die Logik dieser Maximierungsregel, die Verbindung von Wachstums- und Verteilungsüberlegungen, erinnert nicht zufällig an die des Rawlsschen Differenzprinzips (vgl. Rawls 1979, 81–104 [§ 11–13], 174–177 [§ 26], 335–337 [§ 46]).

  143. 143.

    Allerdings spielen auch bei den sog. Entwicklungsländern sittliche Überlegungen eine Rolle: Ein Finanzsystem kann nur dann seine Funktionen besonders gut erfüllen und damit auch zu besonders hohen Einkommensvorteilen der Benachteiligten führen, wenn es den Wirtschaftsstil der Gesellschaft nicht in Frage stellt, der langfristig für gute Wachstumsaussichten einer Volkswirtschaft von zentraler Bedeutung ist [vgl. Abschn. 5.3.3.2]. Das bedeutet auch, dass bei den Versuchen, die institutionelle Weiterentwicklung des nationalen Finanzsystems zu steuern, das Ziel zu beachten ist, dass die Dissonanzen zwischen der Funktionsweise des Finanzsystems bzw. den Finanzpraktiken einerseits und den sittlichen Überzeugungen der Bürgerinnen und Bürger andererseits nicht zu groß werden dürfen.

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Emunds, B. (2014). Politische Wirtschaftsethik: Grundlagen und finanzethische Konkretion. In: Politische Wirtschaftsethik globaler Finanzmärkte. Springer Gabler, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-04712-2_3

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