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Psychiatrieformalismus und Psychiatrierealismus: Zu einer Soziologie psychischer Störungen im Umweg über die Debatte zwischen Rechtsformalisten und Rechtsrealisten

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Zusammenfassung

In der Diskussion zu „psychischen Krankheiten“ taucht häufig die Aussage auf, psychiatrische Diagnosen unterschieden sich qualitativ von somatischen Diagnosen. Zumindest für das Vokabular, in dem die Diagnoseaktivität formuliert wird, trifft das zu: Während medizinische Diagnosen ätiologische Diagnosen sind, in denen zur Feststellung einer Krankheit Ursachenfaktoren nachgewiesen werden, ist eine psychiatrische Diagnose (nach DSM-IV und 5) rein symptomdeskriptiv. Diese Deskriptionen basieren nicht auf medizinischen Ätiologien des Verhaltens, sondern auf professionellen Einschätzungen des Patientenverhaltens von Praktikern im Feld auf der Basis von vorhergehenden Einschätzungen der „Unverständlichkeit“ durch das persönliche Umfeld der Betroffenen. (Rosenberg 1984, S. 294). Anders als die „klassische“ Medizin ordnet die Psychiatrie daher Verhalten, nicht Körperzustände (und auch nicht Personen), durch ihre Benennung im DSM- oder ICD-Schema in „krank“ und „gesund“ ein. Sie leistet „only the provision of a name, not of a name and explanation … There are only names of syndromes and statistical prognoses, plus some pragmatic treatments“ (Bowers 1998, S. 74). Auf dieser Basis ist die Psychiatrie oft kritisiert worden, sowohl von innerhalb als auch von außerhalb der Profession: Thomas Szasz kämpft seit Jahrzehnten gegen die Einordnung der Psychiatrie als Medizin, (1974, 1991; u. v. m.), und ihre mangelnde Medizinförmigkeit ist einer der Gründe, warum sie, wie Kirk und Kutchins feststellen, „at the bottom of the totem pole in medicine“ stünden. (1992, S. 10). Die Debatte in der Soziologie der siebziger Jahre sah in ihr daher – und dagegen – vielmehr eine rechtsförmige Instanz der sozialen Kontrolle, die eine medizinische Performativität zur naturalisierenden Legitimation von Eingriffen in das Verhalten der von ihr kontrollierten Personen nutzt.

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Notes

  1. 1.

    Es ist derweil das erklärte Ziel der Rortianischen Version des Pragmatismus, diesen Formalismus auch als Bedingung des Zuschreibungsspiels in seinem Ironimus zu Fall zu bringen (1989). Fish stellt sich dagegen auf die Position, dass das unmöglich sei (v. a. 1994, 1999), eine Position die Rorty zumindest für die Allgemeinheit zu teilen scheint, indem er feststellt, dass Ironismus keine Einstellung aller sein könne (1989, S. 87). Ob es unmöglich ist und für wen, sei dahingestellt; für die Gegenwart ist jedenfalls festzustellen, dass Sprachspiele formale Argumentationen benötigen, ohne, dass diese formalen Gründe repräsentational wären.

  2. 2.

    Zudem die Argumentation, dass Reproduzierbarkeit gar nicht erwünscht sei, da der Sinn der Gewaltenteilung – und auch der Teilung der Gerichte in Instanzen – darin besteht, andere Urteile erlangen zu können.

  3. 3.

    So benötigt z. B. die Diagnose der Schizophrenie zusätzlich zu Wahnvorstellungen, Halluzinationen, Desorganisation u. Ä. auch die Störung einer sozialen Interaktion als weiteres Kriterium, um diagnostiziert werden zu können, womit die Wahnvorstellungen nicht bereits für sich Schizophreniesymptome darstellen, sondern erst, wenn sie ein soziales Miteinander stören. Somit kann argumentiert werden, dass Störungen des sozialen Miteinanders die eigentlichen Symptome darstellen, die dann mit verschiedenen scheinbar „objektiven“ Zusatzsymptomen wie Halluzinationen „konkretisiert“ werden müssen.

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Dellwing, M. (2015). Psychiatrieformalismus und Psychiatrierealismus: Zu einer Soziologie psychischer Störungen im Umweg über die Debatte zwischen Rechtsformalisten und Rechtsrealisten. In: Recht und Devianz als Interaktion. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-04270-7_9

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  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-04270-7_9

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  • Publisher Name: Springer VS, Wiesbaden

  • Print ISBN: 978-3-658-04269-1

  • Online ISBN: 978-3-658-04270-7

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