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Looking-Glass Crime: Definitionskoalitionen im Prozess der Zuschreibung von Kriminalität

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Zusammenfassung

Sowohl die interaktionistische Devianzsoziologie als auch der Rechtspragmatismus haben lange gegen die Position opponiert, Abweichung bzw. Kriminalität wären bereits im Vergleich von Verhalten mit sozialen bzw. rechtlichen Normen abstrakt bestimmbar. „Normbruch“ ist kein „Datum“ im Sinne von gegebenem normbrüchigen Verhalten, sondern vielmehr das Ergebnis dessen, was erfolgreich in einem sozialen Kontext von konkreten Akteuren gemeinsam als Verletzung einer Norm definiert wurde. Das Wesentliche für Interaktionisten ist hier die Betonung der Gemeinsamkeit: „Erste“ Definitionen (der Handelnden selbst und der unmittelbaren Beteiligten) sind nie solipsistisch, sondern stehen bereits in einem Feld antizipierter Definitionen anderer. Die interpretierenden Personen „live in the minds of others“, sie antizipieren die multiplen „organized attitudes of the others that we definitely assume“; ihre Definitionen sind immer bereits sozial. Wie sie die Idee ihres Selbst an ihren Unterstellungen dessen ausrichten, welche Unterstellungen andere machen – Cooleys berühmtes looking-glass self –, definieren sie auch die Handlungen anderer mit Hilfe dieser unterstellenden Spiegelung: Was wäre eine normale Definition in dieser Gruppe, in dieser Situation, in diesem Rahmen? Diese Erwartungen werden dann in tatsächlichen Handlungen ausgespielt, wirken (in Reaktionen) zurück und führen zu Neuaushandlungen. Insofern Definitionen nicht solipsistisch sind, treffen in der Handlung jedoch nicht feste Definitionen aufeinander. Handelnde bieten durch ihre Handlungen Definitionen der Situation an, die zwar in Antizipation der Reaktion vertreten werden, die aber eben in dem Maße, in dem andere auch antizipieren und spiegeln, in ein offenes Spiel einfließen: Es kann fehlantizipiert und angepasst werden, die Definitionen der gespiegelten Teilnehmer können sich auf der Basis des Handelns der Antizipierer ändern, und die antizipierenden Teilnehmer müssen die erwartete Definition nicht als ihre eigene annehmen. Jede Handlung beeinflusst ihrerseits Antizipationen und Definitionen des Umfelds. Jede offen vertretene Definition stellt einen Versuch dar, den Kreis derer, die gemeinsam definieren, zu erweitern, denn um gemeinsam handeln zu können, muss die Situation auf gemeinsame Definitionen ausgerichtet werden. Die Vorgänge, in denen diese geleistet werden, können als ein Schmieden von Definitionskoalitionen konzeptionalisiert werden. Das soll den Vorgang bezeichnen, in dem Definitionen zur Grundlage von Handlungen (verbal oder nonverbal) gemacht werden, in der Hoffnung, dass andere diese ebenso zur Grundlage gemeinsamen Handelns machen und in dem diese Definitionen aneinander angepasst werden. Gelingt das nicht und handeln die Personen auf Arten und Weisen, die nicht dieselben Definitionen zur Grundlage zu haben scheinen, verbleiben anhaltende Definitionskonflikte, die zu neuen Anpassungsversuchen und gegebenenfalls zu anhaltenden Irritationen führen.

Dieser Beitrag erschien ursprünglich 2010 in der Zeitschrift für Rechtssoziologie 31: 209–229, erschienen bei Lucius&Lucius.

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Notes

  1. 1.

    Vgl. Becker 1963; Kitsuse 1962; Kitsuse und Spector 1975; Sack 1968, 1969; Grey 1989; Fish 1989, 1994; Peters 1996, 2009; Tamanaha 1997; Dellwing 2008a, 2009a, b.

  2. 2.

    Das heißt nicht, dass die, die antizipiert werden, machtvoll sind und die, die antizipieren, nicht. Zum einen antizipieren alle Beteiligten; zudem kommen die Antizipationen immer wieder in eine soziale Aushandlung, deren Ausgang immer auch mit der Form der Darstellung der Antizipation zusammenhängt und nicht schon von vornherein feststeht.

  3. 3.

    Ob sie das tun oder nicht hängt eng mit der Zugehörigkeitsunterstellung zusammen, die gegenüber dem gespiegelten Teilnehmer gemacht wird. Sieht man diese Person als Teil der eigenen Gruppe, wird man eher die gespiegelte Definition als eigene verwenden, als wenn die Person als „Anderer“ markiert ist (vgl. Dellwing 2008c, 2009b).

  4. 4.

    Definitionskonflikte müssen nicht irritieren: Eine andere Definition anderer Teilnehmer kann erwartet sein, auch wenn sie nicht geteilt wird. Dann kann immer noch irritieren, dass sie angeboten und von anderen akzeptiert wird, sie kann aber auch verstanden und hingenommen werden. Dabei ist eine Hinnahme wohl abhängig davon, wie sehr die auf diesen Fremddefinitionen basierenden Handlungen die eigene Lebenswelt beeinflussen. Fish beschreibt, mit ironischem Unterton, „Fish’s first law of tolerance-dynamics: Toleration is exercised in an inverse proportion to their being anything at stake“ (1998, S. 217).

  5. 5.

    Die Frage der „Macht“ ist für interaktionsbasierte Ansätze komplexer als für strukturell orientierte Ansätze: Auch Machtrollen sind ausgehandelte Rollen, und die Benennung einer Person oder Handlung als „machtvoll“ stellt ebenso einen Aushandlungserfolg in einer sozialen Benennung dar (Dellwing 2009c). Vielmehr ist die Partei in der Regel die als machtvoll benannte, die ihre Definition erfolgreich durchgesetzt hat, was der Machtzuschreibung einerseits eine rückwirkende Komponente gibt, andererseits aber auch – als dann ausgehandelte Rolle – auch zur Formulierung späterer Erwartungen und Antizipationen beiträgt, was ins Definitionsspiel einfließt, anstelle Voraussetzung für es zu sein.

  6. 6.

    Vielmehr ist auch hier wieder eine Zugehörigkeitsdynamik im Spiel, vgl. Fn. 3.

  7. 7.

    „Signifikante andere“ werden hier verstanden als jene konkrete Andere, imaginiert oder tatsächlich präsent, an deren erwarteten Definitionen die eigenen gemessen werden: Ihre Definitionen sind zu antizipieren, um im Vergleich mit ihnen (oder ggf. auch in Abgrenzung zu ihnen) die Angemessenheit der eigenen Definition der Situation zu bestimmen.

  8. 8.

    Dabei soll „Irritation“ nicht verharmlosend verstanden werden: Irritationen, wie der Begriff hier verwendet wird, können auch Schock, Wut, und Trauer beinhalten.

  9. 9.

    Ein nicht geringer Teil der verwendeten Literatur verwendet zur Explikation solcher Aushandlungsprozesse als Beispiel Vergewaltigungsfälle, Quellen, auf die hier stark rekurriert werden wird. Dies geschieht nicht, um das Thema Vergewaltigung zum Hauptthema der Betrachtung zu machen, sondern da aufgrund der Besonderheit des Vorfalls, der nur dann Straftat ist, wenn ein Partner den Sexualakt nicht wollte, die Aushandlung besonders gut analysierbar ist, was sich in der erhältlichen Literatur niederschlägt: „Despite the obvious importance of personal definitions of crime, this is a relatively neglected area of study. What little we know comes from the literature on rape“ (Greenberg und Ruback 1992, S. 185). Das soll jedoch dezidiert für weitere Formen von Kriminalitätsdefinitionen ebenso gelten: In Fällen von Vergewaltigung ist diese Offenheit der Aushandlung lediglich auch für Vertreter objektivistischerer Positionen deutlicher nachvollziehbar, jedoch vertritt diese Arbeit die Position, dass diese Offenheit auf alle Kriminalitätsdefinitionen anwendbar ist: „[I]nterpretation becomes […] a formative process in which meanings are used and revised as instruments for the guidance and formation of action“ (Blumer 1996 [1969], S. 5), und jede Definition einer sozialen Handlung wird erst in einem sozialen Raum ausgehandelt.

  10. 10.

    Hier handelt es sich um die oben angedeutete komplexe Unterstellung von Definitionsmacht. Die Polizei „hat“ diese nicht einfach, wie unten weiter zu sehen sein wird. Aber die Antizipation ihrer Definition beeinflusst die eigenen, was eine Macht-Rolle zuschreibt, und ihr fehlen in einer Definitionskoalition kann für die Koalition verheerend sein – wenn nicht durch andere Koalition die polizeiliche Koalition erzwungen zu werden versucht wird, wie z. B. durch Einschaltung der Medien.

  11. 11.

    Das zeugt von der Offenheit der zu antizipierenden Definitionen: Sie stehen nicht bereits von vornherein fest.

  12. 12.

    Dieses Ergebnis wurde in einem Land nicht erzielt, nämlich in den USA. Das ausführlich zu diskutieren ist im hier gesteckten Rahmen nicht möglich. Es kommt jedoch in Betracht, dass die amerikanische Zivilreligion als politisch-rechtlicher Kitt der Gesellschaft Konflikte viel schneller als öffentlich wahrzunehmen bereit ist als die Konfliktkultur anderer Länder.

  13. 13.

    Ob ein Konflikt veröffentlicht wird, ist eine Abwägungsfrage; erst, wenn jemand skandalisiert werden soll, wird die „Anzeigenorm“ zitiert, um die Illusion zu reproduzieren, alles, was als Rechtsbruch aufgefallen sein könnte, müsse öffentlich geregelt werden. Das ist praktisch natürlich niemals der Fall, wäre von den Instanzen gar nicht handhabbar und würde soziale Beziehungen schlechterdings verunmöglichen.

  14. 14.

    Wobei solche Zahlen hier um im Rest des Manuskripts immer mit Vorsicht zu genießen sind: Wenn Kriminalität keine objektive, durch Vergleich Norm-Verhalten bereits klare Kategorie ist, dann 20 % – wovon? Schon hier sind Konstruktionsleistungen zu verzeichnen, die für jede dieser Zahlen dekonstruiert werden müssten.

  15. 15.

    Die Polizei kann durchaus eine Handlung als Straftatbestand definieren und dennoch nicht verfolgen, ein Umstand, durch den sie erst in Bruch des Legalitätsprinzips geraten würde. Offizielle Polizeiberichte suchen jedoch die Performativität des Befolgens und definieren daher nicht offiziell, was informell durchaus als Straftat definiert wird, aber nicht verfolgt werden soll.

  16. 16.

    Da die US-Polizei nicht dem Legalitätsprinzip unterworfen ist, kann sie zunächst ohne Angabe von Gründen Fälle ablehnen und weiterhin Fälle, bei denen sich keine Spur ergibt, selbst offiziell einstellen. Die erste Zahl meint Fälle, in denen die Involvierung der Polizei rundheraus abgelehnt wurden, die zweite Fälle, in denen das Opfer gehört wurde, aber (in den meisten Fällen) entscheiden wurde, dass die Beweislage nicht ausreichen werde.

  17. 17.

    Greenberg bemerkt mit dramatischem Pathos: „Perceiving no visible solution to their distress, these victims have no recourse but to live with the injustice and wait in fear for the inevitable occurrence of the next victimization“ (Greenberg et al. 1983, S. 98).

  18. 18.

    Die Behandlung von Zeugen als Beweismittel vor Gericht schildern eindrucksvoll Legnaro und Aengenheister (1999, S. 45).

  19. 19.

    Von denen sie bemerken, „Wir nennen sie so, und wenn wir mächtig genug sind, heißen sie so“ (Menzel und Peters 2003, S. 8).

  20. 20.

    Besonders interessant die Aushandlung von verschiedenen Wahrheiten zur selben Situation bei unterschiedlichen Angeklagten als „Angebote an die Verteidigung“, um die Verhandlung weiterzutreiben, Legnaro und Aengenheister 1999, S. 65, und die instrumentelle Feststellung von Sachverhalten, um Rechtsfolgen zu erreichen, 66.

Danksagung

Ich danke Michèle Spohr für ihre Mitarbeit am Manuskript und Thomas Feltes für Literaturhinweise

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© 2015 Springer Fachmedien Wiesbaden

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Dellwing, M. (2015). Looking-Glass Crime: Definitionskoalitionen im Prozess der Zuschreibung von Kriminalität. In: Recht und Devianz als Interaktion. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-04270-7_2

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  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-04270-7_2

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  • Publisher Name: Springer VS, Wiesbaden

  • Print ISBN: 978-3-658-04269-1

  • Online ISBN: 978-3-658-04270-7

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