Zusammenfassung
Der nationale Wohlfahrtsstaat (NWS) und die Europäische Union (EU) sind zwei wertvolle Errungenschaften des zwanzigsten Jahrhunderts. Ihre wechselseitige Beziehung wird allerdings durch ungelöste Spannungen (und einen potentiellen Zusammenstoß) belastet, die sich in der jüngsten Krise deutlich verschärft haben. Wann, warum und wie hat die ursprüngliche „Wahlverwandtschaft“ zwischen dem WS und der EU-Sphäre angefangen zu bröckeln? Ist eine „Versöhnung“ möglich – und wenn ja, wie? Diese zentralen Fragen liegen den aktuellen akademischen und gesellschaftlichen Debatten zugrunde. Der Wohlfahrtsstaat erfüllt wesentliche wirtschaftliche, soziale und politische Funktionen. Seine Finanzierung belastet jedoch die öffentlichen Haushalte. Insbesondere mit Blick auf den demografischen Wandel stellt sich die Frage, wie er nachhaltig finanziert werden kann. Die EU (insbesondere die Wirtschafts- und Währungsunion) ist ihrerseits unerlässlich für Wachstum, Arbeit und makroökonomische Stabilität, tendiert aber dazu, das wesentliche Fundament des Wohlfahrtsstaats zu untergraben: das souveräne Recht des Staates, die Grenzen, die Form und das Ausmaß nationaler Solidarität zu bestimmen. Ziel dieses Aufsatzes ist es, durch einen Fokus auf die intellektuellen und politischen Logiken, die einerseits zur Herausbildung des Wohlfahrtsstaats und andererseits zur Ausgestaltung der EU geführt haben – und durch Untersuchung der Frage, inwiefern diese beiden Logiken für den „Clash“ verantwortlich sind – ein neues Licht auf dieses Spannungsfeld zu werfen. Unter Rückgriff auf Webers Einsichten zur Beziehung zwischen Werten, Ideen und Politikprozessen werden die Elemente eines neuen analytischen Rahmens zum Verständnis der aktuellen Herausforderungen skizziert.
Der Titel dieses Aufsatzes soll einen Ausdruck widerspiegeln, den Max Weber (1918, 2011) in seinem Essay über die deutschen Institutionen nach dem ersten Weltkrieg gebrauchte (neugeordnetes Deutschland). Ich möchte Stefano Bartolini, Francesco Battegazzorre, Martin Heidenreich und Pietro Rossi für ihre hilfreichen Anmerkungen danken. Der Text wurde von Lukas Fischer und Martin Heidenreich aus dem Englischen übersetzt.
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Notes
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Die bedeutendsten Analysen in diesem Feld stammen seit den frühen 1990ern von Fritz Scharpf. Eine aktuelle Fassung seiner Thesen findet sich bei Scharpf (2010).
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Für das besonders aussagekräftige Beispiel Griechenlands vgl. Matsaganis (2011).
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Diese Konfliktlinie hat sich nach der Osterweiterung von 2004 entwickelt und wurde insbesondere infolge der Bolkestein-Richtlinie zur Liberalisierung von Dienstleistungen deutlich. Trotz zeitweiliger Überschattung durch die Finanzkrise und die Nord-Süd-Spannungen ist der Ost-West-Konflikt nach wie vor aktiv, insbesondere wenn es um „Armutswanderung“ und die Verlagerung von Arbeitskräften geht (European Parliament 2013).
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Siehe wieder Streeck (2013).
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Die wichtigste soziale Regelung des Lissabon-Vertrags ist die so genannte „Sozialklausel“, welche die EU dazu verpflichtet, die sozialen Folgen jeglicher Gesetzgebung zu berücksichtigen. Die Europa 2020-Strategie hat die Armutsminderung zu einem ihrer Hauptziele gemacht, wodurch eines der symbolischsten Ziele des sozialen Schutzes Vorrang bei Reformen und Angleichungen in der EU erhält.
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Anton Hemerijck (2013) hat kürzlich das vielversprechende Konzept eines „Offenen Institutionalismus“ vorgeschlagen, um neben der Anerkennung historischer und politischer Beharrungsmomente genügend Raum für die Rolle von Akteuren und kreativen Lernprozessen auf der Basis von Wissen und praktischer Vernunft zu lassen.
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In der Sprache der modernen Philosophie ist eine Theodizee eine Doktrin, die historische Belege für das Böse mit der Existenz Gottes zu versöhnen sucht. Für Weber muss die Ausarbeitung von Theodizeen im Laufe der Geschichte als eine Antwort auf das „Sinnproblem“ betrachtet werden, das der menschlichen Verfassung innewohnt, d. h. der Tatsache, dass Gutes leiden und Schlechtes gedeihen kann, einen Sinn zu geben (Theodizee des Leidens), oder, noch einfacher gesagt, der Tatsache, dass einige Menschen bessere Resultate als andere erzielen (Theodizee des Glücks) (Weber 1946).
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Die ersten Sozialversicherungsreformen im Bismarckschen Deutschland waren maßgeblich durch die Ideen akademischer Sozialreformer wie Schmöller oder Wagner beeinflusst. Weber hat einige seiner wichtigsten Ideen zum Verhältnis von Sozialwissenschaften und Politik in der Zeit entwickelt, als er Herausgeber der einflussreichen Fachzeitschrift Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik war, die von Heinrich Braun 1888 im Zuge der Bismarck’schen Sozialreformen gegründet wurde.
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Wir mögen hier an Werbers Wertschätzung von „prophetischen“ im Gegensatz zu „priesterlichen“ Intellektuellen erinnern.
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Ein Beruf, der sich auf das stützt, was Habermas „ganz unheroische Tugenden“ genannt hat: Sich um die normative Infrastruktur des Gemeinwesens und ihre mentale Ausstattung zu bemühen; sich alternative Ordnungen der Dinge vorzustellen, brauchbare Alternativen zu entwerfen, in öffentliche und kontroverse Diskurse einzutreten (Habermas 2008).
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In den 1960ern haben die Werke von Historikern und Sozialwissenschaftlern eine wichtige Rolle für die Mehrung des wechselseitigen Wissens und Verständnisses gespielt; denken wir an die Rolle, die Grosser und Rovan für die besseren Kenntnisse der französischen Eliten über Deutschland und umgekehrt gespielt haben (Müller 2012). Auch heute ist die Art und Weise, wie nationale Intellektuelle über Europa reden, sehr vielfältig (vgl. Nicolaidis und Lacroix 2010).
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Diese normativen Probleme sind heikel, weil sie in dynamischer Weise gelöst werden müssen: Es gibt keine historische Grundlinie, von der eine Erörterung „gerechter“ Beziehungen zwischen den europäischen Nationen ausgehen könnte. Hannah Arendts berühmter Grundsatz des „Verzeihens und Versprechens“ (vergangenes Unheil vergessen, Bindungen für die Zukunft eingehen) könnte jedoch den passenden Ausgangspunkt liefern, um die zeitliche Dimension von normativen Entwürfen einer gerechten und demokratischen EU zu thematisieren und den „Kreislauf der Vergeltung“ zu vermeiden (Arendt 1958).
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Ferrera, M. (2014). Ein schlechtgeordnetes Europa: Eine neo-Webersche Perspektive auf die EU und den Wohlfahrtsstaat. In: Heidenreich, M. (eds) Krise der europäischen Vergesellschaftung?. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-03925-7_6
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