Zusammenfassung
Margret Dörr und Cornelia Füssenhäuser setzen sich in ihrem einleitenden Beitrag mit den für diesen Band zentralen Begriffen „Biografie“ sowie „Lebenswelt“ auseinander. Während das Konzept der Biografie stärker den Blick auf die Interdependenzen von Subjekt- und Strukturperspektive richtet, fokussiert das Konzept der Lebenswelt deutlicher auf die Perspektive der objektiven Dimension bzw. der gesellschaftlich-objektiven Rahmenbedingungen und deren Schnittstelle mit subjektiven Deutungs- und Bewältigungsmustern. Angesichts vielfältiger gesellschaftlicher Herausforderungen und Spaltungen verfolgen die Autorinnen zudem die Frage, inwiefern sich mit den Konzepten der „Biografie“ bzw. der „Lebenswelt“ Perspektiven der Kritik, der kritischen Aufklärung und Infragestellung gesellschaftlicher Bedingungen entfalten, um so für die Soziale Arbeit neben der Betonung von Subjekthaftigkeit stärker gesellschaftliche Bedingungen und Zumutungen in den Blick zu nehmen um darüber Soziale Arbeit deutlicher als kritische Soziale Arbeit zu formulieren.
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In diesem Zusammenhang ist auch die derzeitige neurowissenschaftliche Gedächtnisforschung zu sehen, die Erinnern grundsätzlich als ein Prozess des (Re)Konstruierens betrachtet. Dieser Prozess hat eine materiale (neuronale), dynamische Matrix, was beinhaltet, das eine ständige Verarbeitung vorhandener Erinnerungsspuren stattfindet (vgl. Haubl 1999, S. 17 ff.).
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Diesen Sachverhalt versucht Michail Bachtin (1979) mit seiner ‚Theorie der Dialogizität‘ zu erfassen. Für ihn ist das Subjekt weder nur psychologisch noch nur soziologisch, sondern „dialogisch“ konstituiert (vgl. Welzer 2008). Das Selbst des Individuums ist per se polyphon, da es sich innerlich mit alternativen Perspektiven eines historisch-kulturellen Kontexts kontinuierlich auseinandersetzen muss. Diese Auseinandersetzung findet somit auf einer inneren Kommunikationsbühne statt (vgl. Bachtin 1979, S. 183).
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„Wenn nämlich der Verarbeitungsmodus bestimmter Problemlagen vor allem durch die selbstreferentielle Kapazität der Betroffenen beeinflusst wird, dann müssen sich ‚institutionelle Umwelten‘ verändern, dann wird institutionelle Selbstreflexivität zur Basisvoraussetzung professionellen Handelns.“ (Alheit 2000, S. 162).
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(Selbst-)Reflexion ist nicht allein als Äußerungsform diskursiven Verstandes zu begreifen – enthält doch Reflexion die Bedeutung des Spiegelns als Zurückwerfen von Bildern. Damit geht es auch um ein sehendes Erkennen und „imaginierendes Vorausgreifen“ (Bloch 1972, S. 389f).
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Zur Welt der Pseudokonkretheit gehören „die Welt der äußeren Erscheinungen (…); die Welt der Versorgung und Manipulation (…), die Welt der geläufigen Vorstellungen“ als Projektion äußerer Erscheinungen im Bewusstsein und die Welt der quasi natürlichen Objekte, deren eigentlich gesellschaftliche Bedingtheit verschleiert bleibt (Kosik 1976, S. 9).
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Ohne im Rahmen dieser Darstellung dezidiert darauf einzugehen sei an dieser Stelle an Micha Brumlik (1995) erinnert, der die Einführung des Begriffs des „gelingenderen Alltags“ als einen „menschenfreundlichen Schmuggel“ bezeichnet, mit dem es gelungen sei, die, durch den zunehmenden Einfluss der Sozialwissenschaften auf die Pädagogik, zerstörte Utopie der Pädagogik gewissermaßen durch die Hintertüre wieder hereinzutragen.
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Sorge ist, im Anschluss an Kosik, subjektiv transponierte Wirklichkeit des Menschen, sie ist das elementare Muster, in dem „die Ökonomie für den Menschen existiert“ (Kosik 1976, S. 62). Sorge ist somit nicht physischer Zustand, sondern gesellschaftlich vermittelte Wirklichkeit.
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Dörr, M., Füssenhäuser, C. (2015). Einleitung. In: Dörr, M., Füssenhäuser, C., Schulze, H. (eds) Biografie und Lebenswelt. Perspektiven kritischer Sozialer Arbeit, vol 20. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-03835-9_1
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