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Fallrekonstruktionen zu Krisen und Krisenbearbeitungen im Referendariat

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Part of the book series: Rekonstruktive Bildungsforschung ((REKONBILD,volume 1))

Zusammenfassung

Im Zentrum der vier vorausgehenden Fallrekonstruktionen stehen verschiedene, in unterschiedlichem Maß Krisen induzierend wirkende Handlungsprobleme: Im ersten Fall tritt dem berichtenden Referendar in Gestalt einer zu bewertenden Klassenarbeit die vormals von ihm unbemerkte Eigensinnigkeit der Schülerinnen und Schüler entgegen. Den zweiten Fall kennzeichnet eine pointierte Nichtthematisierung einer Krise. Diesen bewusst als Randfall in das Sampling aufgenommenen Fall kennzeichnet eine Gelassenheit der schulischen Handlungssituation gegenüber und eine innere Großzügigkeit der Referendarin gegenüber eigenen Unzulänglichkeiten. Im dritten Fall wird die Vergabe von Halbjahresnoten zum Krisen induzierenden Handlungsproblem. Virulenz entfaltet hier das mit dieser Aufgabe verbundene Spannungsverhältnis von Entscheidungszwang und Entscheidungsunsicherheit, dass nicht durch eine Steigerung des Arbeitsaufwandes aufgelöst werden kann. Im Mittelpunkt des vierten Falls steht eine Auseinandersetzung der berichtenden Referendarin mit einem die schulische Ordnung störenden Schüler. Die Krisenhaftigkeit der Situation begründet sich darin, dass die erkennbar werdenden Versuche der Nichtbearbeitung und der Delegation des Handlungsproblems scheitern.

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Notes

  1. 1.

    Wie auch bei allen anderen in den Rekonstruktionen verwendeten Namen handelt es sich hier um ein Pseudonym.

  2. 2.

    Hinsichtlich der konkreten sozialen Situation ergibt sich aus der Tatsache, dass die Fallarbeit in kleinem Kreis stattfindet, also ungewöhnlich wenig Teilnehmerinnen und Teilnehmer anwesend sind, dass die Chance oder das Risiko, dass die eigene Situation zum Gegenstand der Fallarbeitssitzung wird, größer ist als gewöhnlich.

  3. 3.

    Dies kann an Hand eines Kontrastbeispiels verdeutlicht werden: Stellen wir uns vor, die Moderatorin fragte: Gab es wieder ein Problem mit ihren Ausbildern?, könnte diese Frage schlicht verneint werden. An die realisierte Frage ließe sich jedoch nur äußerst problematisch anschließen: Es ist nichts passiert, oder: Es gibt nichts zu erzählen.

  4. 4.

    Dies bedingt, dass nicht unmittelbar die Relevanz der Rekonstruktion in Bezug auf das erkenntnisleitende Interesse offensichtlich wird. Pointiert formuliert, verweist das „Ja“ selbst offensichtlich noch nicht auf eine spezifische Krisenhaftigkeit der Ausbildungssituation. Wie im Folgenden deutlich wird, ermöglicht das Vorgehen die Rekonstruktion der Bezugnahme des Sprechers auf die kommunikative Situation, in der sich in vermittelter Form die Strukturlogik des Umgangs mit der Krisenhaftigkeit der Ausbildungssituation manifestiert. Umgekehrt ließe sich ein kursorisches Vorgehen, bis zu einer Stelle, an der es offensichtlich um das uns interessierende Thema geht, nicht rechtfertigen. Ein solches Vorgehen bedürfte einer vorgängigen extensiven und damit kleinschrittigen Rekonstruktion, auf Grund derer erst relevante und weniger relevante Ausdrucksgestalten identifiziert werden könnten. Allein so wäre es möglich, die Darstellung der Fallrekonstruktion vom interpretativen Vorgehen weiter zu lösen. Dies aber arbeitete der zentralen Stärke der gewählten Methode, nämlich der transparenten Darstellbarkeit des interpretativen Vorgehens, entgegen (vgl. Kap. 5.1).

  5. 5.

    Streng rekonstruktiv verfahrend, kann die vorausgehend entwickelte Lesart des „Ja“ als Beantwortung einer inhaltlichen Fraglichkeit nicht ausgeschlossen werden, da der Beitrag des Referendars nicht unmittelbar an den der Moderatorin anschließt. Damit wäre zumindest vorstellbar, dass Andreas Broog auf eine unmittelbar an ihn gerichtete, im Protokoll fehlende Frage antwortet. Im Sinne einer fokussierenden Darstellung wird diese Lesart hier – im Gegensatz zum Vorgehen im Rahmen der Rekonstruktion – nicht verfolgt.

  6. 6.

    Als Zurückweisung ließe sich die Äußerung lesen, hätte Andreas Broog beispielsweise gesagt: Eigentlich hatte ich auch schöne Tage. Mit dem eigentlich verhielte sich der Referendar abgrenzend gegen konträre – uneigentliche – Unterstellungen. Einen derartigen Hinweis liefert die sich protokollierende Äußerung nicht. Damit braucht die Lesart, Andreas Broog weise die Normalerwartung zurück, nicht ausgeschlossen zu werden – vorstellbar wäre beispielsweise, dass sich in dieser Art bereits die Vorrednerin oder der Vorredner positioniert hätte und er sich dieser Positionierung mit dem „auch“ anschließt. Jedoch kann diese Deutung im Sinne des Sparsamkeitsprinzips (Kap. 5.2) bis auf Weiteres zurückgestellt werden.

  7. 7.

    Alternativ wäre die Aussage auch im Kontext der Schilderung schlechter Tage vorstellbar: Ich hatte nicht nur schlechte Tage, sondern „auch schöne Tage“. Eine derartige Gegenüberstellung von selbst erlebten schlechten und schönen Tagen lässt sich sinnvoll nur innerhalb einer biographischen Erzählung vorstellen. Dort bezeichnete der Begriff Tage nicht eine konkrete Anzahl von Tagen, sondern im übertragenen Wortsinn eine biographische Lebensphase und wäre am ehesten durch den Begriff Zeiten zu ersetzen. Mit Blick auf die sich aus der Eröffnungssequenz ergebende inhaltliche Strukturierung der Interaktionssituation kann diese Lesart ausgeschlossen werden: Hier geht es um den fraglichen Zeitraum der letzten Wochen, nicht um einen biographischen Lebensabschnitt.

  8. 8.

    Diese vergemeinschaftende Wirkung kann an Hand einer gedankenexperimentell entworfenen Szene illustriert werden: Erzählt jemand von einem Tennisturnier am vergangenen Wochenende und antwortet ein Gesprächsteilnehmer darauf, er spiele auch Tennis, wird diese Mitteilung in aller Regel Freude auslösen, weil über das geteilte Tennisspiel eine Gemeinsamkeit und damit etwas Verbindendes gefunden wurde. Die hier zum Vorschein kommende gemeinschaftstiftende Funktion einer derartigen Äußerung kommt insbesondere im Kontext der Thematisierung expliziter Geschmacksurteile zum Tragen. Ungeachtet seines etwas klischeehaften Charakters mag dieses der folgende Beispieldialog verdeutlichen: „Am liebsten verbringe ich meine freien Abende mit einem Glas Rotwein und einem guten Buch.“ Antwortet nun der Gesprächspartner: „Genauso geht es mir auch.“, so drückt sich über die Wertschätzung des in der Abendgestaltung zum Ausdruck kommenden distinguierten Stils der Freizeitgestaltung eine Habitusübereinstimmung aus. Man gehört zum gleichen Milieu und versteht sich entsprechend.

  9. 9.

    Die Differenz zwischen den beiden Lesarten liegt darin, dass innerhalb der zweiten der Aspekt der Konkurrenz um soziales Prestige zentralthematisch wird. Strukturell ist dieser jedoch auch innerhalb der ersten Lesart enthalten, da sich hier die Gemeinschaft auch nur über ihre Abgrenzung gegenüber jenen, die keine schönen Tage erleben konnten, generiert.

  10. 10.

    Eine detailliertere, diese Ausdeutung abstützende Interpretation des Adjektivs „schön“ findet sich bei Helsper (2004, S. 56).

  11. 11.

    Als alternative Lesart wäre die folgende Formulierung möglich: „ich hatte auch schöne Tage in“ den Ferien. Gegen diese Lesart spricht, dass innerhalb der tatsächlich realisierten Aussage nichts auf sie hinweist. Auch wenn wir sie an dieser Stelle nicht ausschlössen, ergäbe sich daraus keine entschiedene Akzentuierung der Rekonstruktion. Auch mit den Ferien wäre – wie in der sich anschließenden protokollierenden Äußerung – auf eine Außeralltäglichkeit verwiesen, welche die schönen Tage ermöglichte.

  12. 12.

    Warum die Äußerung eine zum Abbruch der Formulierung führende Korrektur erfährt, lässt sich an Hand des gedankenexperimentell rekonstruierten Anschlusses nicht abschließend klären. Unpassend wäre die Angabe des fraglichen Ortes, an dem sich Andreas Broog aufhielt, wenn der Sprecher nicht davon ausgehen könnte, dass der Ortsname bekannt wäre und damit auch einen Informationswert besäße. Jedoch bestünde in diesem Fall die unproblematische Möglichkeit, diesen im Anschluss zu erläutern. Ein Abbruch wäre also nicht notwendig. Unproblematisch hätte gesagt werden können: Ich hatte auch schöne Tage in Oberursel, ich war (dort) in einem Trainingslager.

  13. 13.

    Indem die Aussage nicht Neues aussagt, läuft sie der Griceschen Konversationsmaxime „Sei relevant!“ (Grice 1979, S. 248) zuwider und widerspricht damit der mit der Annahme der Sprecherrolle verbundenen Selbstverpflichtung, die mit dem eröffnenden „Ja“ explizit Ausdruck findet.

  14. 14.

    Möglich wäre hier auch eine explizite Begrenzung der durch das „Ja“ explizit ausgedrückten Erzählbereitschaft. So könnte Andreas Broog beispielsweise darauf hinweisen, dass eine weitere Erläuterung den Rahmen der Situation sprengte.

  15. 15.

    Eine nähere Auseinandersetzung mit dem Lachen als Ausdruckform erfolgt im Rahmen der zweiten Fallrekonstruktion.

  16. 16.

    Ein Geständnis ist konstitutiv ein Stück weit überraschend, ansonsten gäbe es nichts zu gestehen. Offenbar wird dies in der im Kontext politischer Skandale vorkommenden Kritik, der unter Verdacht Stehende gestehe immer nur die Verfehlungen, die ohnehin bereits bekannt geworden seien.

  17. 17.

    Zu lesen ist die Äußerung im Sinne einer materialen Mitnahme von Arbeit – etwa in Form der Mitnahme des Laptops oder von Arbeitsunterlagen. Gemeint ist nicht die Mitnahme der Arbeit im Sinne einer gedanklichen Beschäftigung mit dieser, da in diesem Falle davon die Rede sein müsste, die Arbeit mitgenommen zu haben.

  18. 18.

    In diesem Sinne transportiert die Äußerung auch die Botschaft: Seht her, wie fleißig ich bin. Im Gewand des Geständnisses eines Scheiterns würde damit auf ein ins Grenzenlose gesteigertes Arbeitsethos rekurriert werden, von dem ausgehend das Verhältnis von Arbeit und Nicht-Arbeit sich gegenüber der gängigen Konzeption des Verhältnisses von Erwerbsarbeit und Freizeit umdrehte: Die Freizeitgestaltung nähme den Platz des notwendigen Übels ein, die Arbeit den der autonomen Lebensgestaltung.

  19. 19.

    Streng genommen können die Tätigkeiten im Referendariat nicht als Erwerbsarbeit bezeichnet werden. Gleichwohl sind sie Teil der Ausbildung, welche auf die künftige Erwerbsarbeit vorbereitet. Außerdem entsprechen sich die Tätigkeiten in der Ausbildung und der späteren beruflichen Tätigkeit über weite Strecken.

  20. 20.

    Die Frage nach der Grenze zwischen Erwerbsarbeit und Freizeit wird insbesondere in tariflichen Festlegungen bezüglich der Arbeitszeit und -organisation vorentschieden. Jenseits formaler Regelungen verhindern auf kultureller Ebene verbreitete Formen des Verständnisses von Erwerbsarbeit, dass die Frage nach der Grenze überhaupt thematisch wird.

  21. 21.

    Erst vor dem Hintergrund dieses Konzeptes wird die tradierte positive Konnotation des Begriffs Freizeit verstehbar. So gewöhnlich eine derartige Sichtweise gegebenenfalls wirken mag, so ist sie keineswegs selbstverständlich: Spricht jemand beispielsweise davon, das eigene Hobby zum Beruf gemacht zu haben, so verweist dieses auf ein Verhältnis von Freizeit und Arbeit, welches durch eine Auflösung der besagten Grenze gekennzeichnet ist. Diese wird in diesem Fall jedoch nicht als Problem gedeutet, sondern als biographisches Gelingensmodell: Die behauptete Tatsache, dass man das Hobby zum Beruf machen konnte, bewirkte eine Überwindung des Entfremdungsproblems und lässt damit die Sphäre der Freizeit überflüssig erscheinen – freie Zeit für ein Hobby ist nicht mehr notwendig (vgl. Adorno 1997a).

  22. 22.

    Damit begegnet uns ein Fall der krisenhaften Auseinandersetzung mit dem Referendariat, welcher in geradezu pointierter Form sich dem Erklärungsmodell des Praxisschocks entzieht (vgl. Kap. 2.2).

  23. 23.

    Dies gilt für Klausuren in schulischen und in nichtschulischen Kontexten: Beispielsweise steht die Klausur – als Abschlussklausur – auch im universitären Kontext am Ende einer Veranstaltung.

  24. 24.

    Diese Behauptung basiert auf keiner gesicherten empirischen Basis, sondern auf den Feldkenntnissen des Autors. Als ein Hinweis auf die Richtigkeit der Einschätzung mag die Tatsache dienen, dass sich innerhalb der vierten Fallrekonstruktion eine vergleichbare Formulierung in vergleichbarer Verwendung findet.

  25. 25.

    Die Einbeziehung des Kontextwissens wäre problematisch, wenn sie zur Folge hätte, dass die Formulierung nicht mehr als Ausdruck einer derartigen Situationskonzeption erkennbar wäre, wenn also mit dem Verweis auf die Normalität der Formulierung geschlossen würde, dass dies gewohnheitsmäßig einfach gesagt worden sei.

  26. 26.

    Nicht behauptet werden soll damit, dass eine Klassenarbeit subjektiv und objektiv weniger Bedeutung haben muss. Plausibilisiert werden soll allein, dass einer Klausur als Prüfungsform mehr Renommee zukommt.

  27. 27.

    Denkbar wäre auch, dass Andreas Broog zunächst plante zu sagen: „und hatte“ mir vorgenommen, die noch zu korrigieren. Diese Variante verstärkte die entwickelte Deutung, wonach die sich protokollierende Korrektur der Aussage als Ausdruck des Bestrebens gelesen werden kann, die Mitnahme der Arbeit situativ mit dem Verweis auf einen äußeren Zwang zu begründen.

  28. 28.

    Wie bereits im Zusammenhang mit der Verwendung der Formulierung, die Klassenarbeit geschrieben, nicht aber schreiben lassen zu haben, ergibt sich aus der Feststellung, dass wir hier auf eine schulpädagogisch tradierte Formulierung stoßen, die Frage, inwieweit sie auf die uns zunächst interessierende spezifische Fallstruktur verweist oder darüber hinausweisend auf eine allgemeine Eigentümlichkeit des schulpädagogischen Umgangs mit der Selektionsfunktion von Schule: Wenn Lehrerinnen und Lehrer verbreitet, ggf. sogar normalerweise davon sprechen, eine Klassenarbeit zu korrigieren, nicht aber davon, sie zu bewerten, so könnte argumentiert werden, dass sich Andreas Broog diese Sprechweise nur zu eigen gemacht hat. Gleichwohl verwiese dies auf die Anschlussfähigkeit der uns interessierenden Fallstruktur an die in der Formulierung zum Ausdruck kommende Strukturlogik des schulpädagogischen Umgangs mit der Aufgabe, Klassenarbeiten schreiben zu lassen und bewerten zu müssen.

  29. 29.

    Tatsächlich liegen die Bedeutungen der Verben lesen und durchlesen eng beieinander, so dass es schwer ist, die hier behauptete Differenz zu explizieren. Überspitzt ließe sie sich folgendermaßen reformulieren: Man liest einen Text durch, um an sein Ende zukommen, um ihn komplett gelesen zu haben. Gelesen wird dagegen ein Text, um ihn zu verstehen. Dies mag an Hand der folgenden gedankenexperimentell entworfenen Szene nachvollziehbar werden: Stellen wir uns vor, vor Beginn einer Sitzung fragt ein Student seine Kommilitonin: Hast Du den Text für heute gelesen? Wenn sie nun in ihrer Antwort auf eine oberflächliche Lektüre verweisen wollte, mit der sie allein der geforderten Seminarvorbereitung genügen wollte, könnte sie antworten: Ich hab ihn mal durchgelesen. Weniger stimmig erschiene dagegen die Formulierung: Ich habe ihn mal gelesen.

  30. 30.

    Dass es um persönlich definierte Erwartungen geht, kommt darin zum Ausdruck, dass Andreas Broog von seinem, nicht aber von dem Erwartungshorizont spricht. Es liegt demnach kein fremddefinierter Bewertungsmaßstab vor, dessen sich der Referendar bedienen kann bzw. dem er verpflichtet ist.

  31. 31.

    Die hier behauptete Vorgängigkeit stellt ein konstitutives Merkmal von Erwartungen dar, da sich diese zwingend auf die Zukunft richten. Beispielsweise lässt sich ein Besuch nicht mehr erwarten, wenn er bereits eingetroffen ist. Auch normative Erwartungen, wie sie in Gestalt des Erwartungshorizontes hier thematisch sind, richten sich auf noch nicht eingetroffene Sachverhalte, wie sich im Tempus einer Aussage ausdrückt, innerhalb derer die Passung von Realität und Erwartung zum Thema gemacht wird. Gesagt werden kann: Das hatte ich aber anders erwartet, oder: Genauso habe ich das erwartet. Würde dagegen gesagt: Ich erwarte, dass das geändert wird, so bezieht sich die hier ausgedrückte Erwartung auf die Zukunft, woraus sich wiederum ihre Vorzeitigkeit ergibt.

  32. 32.

    Ginge es um eine Bewertung an Hand vorher definierter Erwartungen, bedürfte es zur Verfeinerung des Erwartungshorizontes keiner Lektüre der Klassenarbeiten. Streng genommen ließe sich der Verfeinerungsbedarf nicht erklären.

  33. 33.

    Wäre diese Vorstellung nicht vorhanden oder wirkmächtig, ließe sich mit der rekonstruierten Situation auch so umgehen, dass die Klassenarbeiten allesamt gleich bewertet würden. Wenn die sich im ursprünglichen Erwartungshorizont manifestierenden Unterscheidungsmerkmale als die sachlich gebotenen angesehen werden, innerhalb der geschriebenen Klassenarbeiten jedoch keine diesbezüglichen Unterschiede feststellbar wären, wäre dieser Umgang sachlich angemessen und immanent unangreifbar.

  34. 34.

    Die auffällige Satzstellung weist auf eine diesbezügliche Korrektur hin. Als Anschluss an den Äußerungsteil: „haben sie nicht das“ erscheinen das Partizip gemacht und die sich aus diesem ergebende Fortsetzung: was ich erwartet habe, weit naheliegender als die sich protokollierende Variante. Die realisierte Formulierung verweist also auf eine Ambivalenz, zumindest auf eine Unklarheit hinsichtlich der Frage, inwieweit es Andreas Broog hier um das Produkt oder um den Prozess der Leistungserbringung geht. Mit der letztlich sich durchsetzenden Formulierung positioniert sich der Referendar allerdings in Richtung des Prozesses.

  35. 35.

    Im Falle einer absoluten Gültigkeit bedürfte es sogar überhaupt keiner Formulierung der Deutung mehr. Die entwickelte Rekonstruktion der Bedeutung des eingefügten „natürlich“ als Charakterisierung einer Behauptung als nicht selbstverständliche Selbstverständlichkeit tritt in deutlicher Form in Erscheinung, wenn es innerhalb der Beantwortung einer Frage verwendet wird: Stellen wir uns vor, auf die Frage: Hast Du den Müll schon runter gebracht?, erfolgte die Antwort: Natürlich habe ich das gemacht, so impliziert diese Antwort eine Kritik an der Frage als Frage nach einer unfraglichen Selbstverständlichkeit.

  36. 36.

    Dass die schulische Praxis und damit der schulische Teil (vgl. Kap. 2.1) für Andreas Broog im Mittelpunkt der Ausbildung steht, wurde im Rahmen der Rekonstruktion nicht eigens thematisiert. Dies erscheint jedoch insofern offensichtlich, als dass die Ausbildungsorganisation sowie der Charakter des Referendariats als berufsbiographische Zugangshürde an keiner Stelle thematisch wurden.

  37. 37.

    Dieser thematische Sprung, durch den der strukturelle Zusammenhang allein auf der latenten Sinnebene rekonstruierbar wird, begründet die Wahl des Bildes der konzentrischen Kreise als miteinander unverbundener Teilfiguren gegenüber dem der Spirale als naheliegende bildliche Darstellung eines Annäherungsprozesses.

  38. 38.

    Autonom soll in diesem Zusammenhang zunächst allein heißen, dass die Schülerinnen und Schüler in ihrer Bezugnahme auf die schulische Realität nicht komplett durch deren Strukturierungskraft determiniert sind, sondern als Lebenspraxen, wie unscheinbar auch immer, einmalig innerhalb dieser agieren.

  39. 39.

    Dieser Aspekt wird als spezifische Besonderheit innerhalb des an späterer Stelle möglichen Fallvergleichs an Kontur gewinnen.

  40. 40.

    Offen bleibt, wie Andreas Broog diesen Fehler selbst deutet: Geschlossen werden könnte, dass er sich in der Anlage des Erwartungshorizontes von normativen Maßstäben leiten ließ, die unabhängigen von der konkreten Situation sind. Damit wäre die Situation zusätzlich durch eine normative Vorstellung von einem angemessenen Anspruchsniveau geprägt.

  41. 41.

    Dass das „selber“ die Authentizität des Gefühls betont, lässt sich an Hand einer Auslassprobe verdeutlichen, mit der offensichtlich wird, dass die Aussage des eingefügten „selber“ nicht bedürfte, um auf das eigene Gefühl zu verweisen: Wer, wenn nicht der Sprecher „selber“, sollte das Gefühl haben, von dem er in der Ich-Form berichtet?

  42. 42.

    Diese Konzeption reproduziert sich auch hier wieder in der Metapher des Schritte-Machens. Unterrichtliche Interaktion wird demnach als ein sich in Schrittfolgen vollziehender und damit gliederbarer Prozess gefasst.

  43. 43.

    Diese Deutung lässt sich an Hand einer gedankenexperimentell entworfenen Geschichte plausibilisieren: Stellen wir uns folgende Äußerung vor: Karl hat Ute dann doch angerufen. Sinnvoll kann diese Aussage nur getätigt werden, wenn entweder Karl ursprünglich Ute nicht anrufen wollte und sich dann erst umentschieden hätte oder wenn der Anruf eine Erwartung der Sprecherin bzw. des Sprechers entgegenliefe.

  44. 44.

    Diese Deutung lässt sich mit Hilfe eines Kontrastbeispiels leicht verdeutlichen. Alternativ zum sich protokollierenden Verlauf wäre die folgende Fortsetzung der Schilderung denkbar: „oder irgendwie, ich neige dazu zu große Schritte zu machen“, weil ich nicht bedenke, dass man nie wissen kann, ob sie das beim ersten Mal wirklich verstanden haben. Mit dieser denkbaren Formulierung würde Andreas Broog eine Grenze der planbaren Verfügbarkeit der Schülerinnen und Schüler explizit thematisieren. Deutlich wird jedoch auch, dass dies keineswegs bedeutet, komplett auf den Anspruch einer Planbarkeit der schulischen Handlungssituation verzichten zu müssen.

  45. 45.

    Anders gestaltete sich die Interpretation, hätte Andreas Broog beispielsweise gesagt: Die hätten das wissen müssen, oder: Die müssten das eigentlich wissen.

  46. 46.

    Würde es gelingen, ausgehend von dem Gedanken eine alternative Lesart des Falls zu entwickeln, welche diesen in seiner Gesamtheit schlüssig erklärte, setzte dieses die Gültigkeit der Fallstrukturhypothese unter Druck, weil mit Verweis auf die alternative Lesart behauptet werden könnte, dass sich die Fallstrukturhypothese nicht zwingend aus dem empirischen Material ableitete. In gewisser Weise wird mit diesem Gedanken einer alltagsweltlichen Überprüfung der Rekonstruktion im Sinne einer Einspruchsvorwegnahme begegnet.

  47. 47.

    Bei der Personenbeschreibung und der Figurencharakterisierung handelt es sich um zwei Textsorten, die tradierte Aufsatzformen im Deutschunterricht in der Sekundarstufe darstellen; sie sind daher hinsichtlich ihrer formalen Gestalt weitreichend normiert. Die zentrale Differenz zwischen beiden begründet sich im jeweiligen Gegenstand der Texte. Eine Charakterisierung wird demnach beispielsweise so definiert: „Im Gegensatz zu einer nur an äußeren Merkmalen orientierten Beschreibung die Darstellung von Eigenschaften, Verhaltensweisen, Entwicklungen eines Menschen oder einer Figur.“ (Kabisch 2006, S. 44)

  48. 48.

    Damit werden nicht die in den schulischen Curricula des Unterrichtsfachs Deutsch sich ausdrückenden tradierten Vorstellungen über eine alters- und entwicklungsangemessene Positionierung der verschiedenen Themen als zutreffend oder gar als nicht hinterfragbar bewertet. Jedoch stellt die Verwechslung nicht eine alternative Beantwortung der Frage nach der Angemessenheit des gewählten Unterrichtsgegenstandes dar, sondern vielmehr eine Nichtthematisierung der Frage.

  49. 49.

    Dazu passt die Beschreibung der Defizite, insbesondere der Hinweis, dass es den Schülerinnen und Schülern nicht gelungen sei, über eine additive Beschreibung („Diese Person ist eben so und so und so“) hinauszugehen. Erkennbar wird, dass der Referendar ungeachtet der Umbenennung an seinem Wunsch festhielt, dass die Schülerinnen und Schüler eine Charakterisierung schreiben würden.

  50. 50.

    Interessant ist, dass Andreas Broog betont, dass keine Schülerin und kein Schüler eine aus seiner Sicht zufriedenstellende Klassenarbeit schrieb. Es geht also nicht darum, was durchschnittlich geleistet wurde. Dies erklärt sich darin, dass sobald ein Schüler oder eine Schülerin eine zufriedenstellende Charakterisierung angefertigt hätte, dies als Beleg für die Erfüllbarkeit der Erwartungen angeführt werden könnte. Prekär erscheinen also die Ergebnisse der Klassenarbeiten nicht auf Grund einer durchschnittlich schlechten Leistung – dazu passend wird diese als nicht schlecht bezeichnet –, sondern dadurch, dass überdurchschnittliche Bearbeitungen fehlen, welche die Aufgabenstellung und den vorausgehenden Unterricht legitimierten. Hierin kann die Funktion der weiter oben thematisierten Norm gesehen werden, die Klassenarbeiten differenzierend zu bewerten, also unterschiedliche Noten zu verteilen.

  51. 51.

    Die Formulierung: Das habe ich zu spät erfahren, verweist auf eine Bringschuld eines Gegenübers. Dies lässt sich daran erkennen, dass die Frage: Warum habe ich das erst jetzt erfahren?, nur sinnvoll zu stellen ist, wenn der oder die Gefragte seiner bzw. ihrer Informationspflicht nicht nachgekommen ist. Dies wird auch daran deutlich, dass der in dieser Frage formulierte Vorwurf zurückgewiesen werden kann, indem geantwortet wird: Sie hätten sich ja informieren können. Diese Antwort wiese die im Raume stehende Informationspflicht explizit zurück.

  52. 52.

    Damit findet sich in der empirischen Rekonstruktion die weiter oben entwickelte Differenzierung zwischen Krise und situativem Kontext derselben, der zufolge sinnvoll von einer krisenhaften Situation – oder noch präzisier von einer Krisen induzierend wirkenden Situation –, nicht aber von einer Krisensituation gesprochen werden kann (Kap. 5.1.3).

  53. 53.

    Plausibilität erlangt diese Deutung, wenn wir daran denken, dass von Schüben häufig im Kontext von Krankheiten die Rede ist: Verschiedene Krankheiten haben schubartige Verläufe. Beispielsweise gibt es Fieber- oder Malariaschübe. Doch auch zwischen diesen Schüben leidet der oder die Erkrankte an der jeweiligen Erkrankung.

  54. 54.

    Nur am Rande sei darauf verwiesen, dass mit der Formulierung, die Sachen lägen ihm im Nacken, zwei Bilder ineinandergeschoben werden: Zum einen kann die Rede davon sein, dass jemandem etwas im Nacken sitzt, zum anderen davon, dass jemandem etwas noch schwer im Bauch liegt. Die Verwerfung der beiden Bilder kann als pointierter Ausdruck für den krisenhaften und damit bedrohlichen Charakter der Situation gedeutet werden. Selbst im Versuch der bildlichen Konzeption gelingt es Andreas Broog nicht, die Bedrohung, der er sich ausgesetzt sieht, stimmig zu verorten.

  55. 55.

    Bezögen wir die spätere in der Fallarbeitssitzung folgende Auseinandersetzung mit dem Fall in die Rekonstruktion mit ein, ließe sich erkennen, dass sich jene ironische Brechung als Einstieg in die selbstreflexive Auseinandersetzung dort reproduziert und pointiert. Im weiteren Verlauf nähert sich Andreas Broog noch direkter und unmittelbarer dem Kern des krisenhaften Problems an, indem er diese „Zeitgeschichte“ als das Element der Situation in den Blick nimmt, welches er in den Mittelpunkt der Fallarbeitssitzung stellt. Die bereits innerhalb der rekonstruierten Ausführungen klar erkennbare Annäherung der manifesten Situationsdeutung an die latente Sinnstruktur findet hier ihre Fortsetzung. So formuliert der Referendar an späterer Stelle: „Also, bei einer Sache, wenn, sagen wir mal, ich wäre Bäcker, dann wüsste ich, die Brötchen backe ich von drei bis fünf morgens, oder so. Dann muss ich auch nicht dran denken. Dann stehe ich auf um halb drei und backe eben Brötchen. Aber ich kann einfach nicht sagen, von fünf bis sieben am Nachmittag bereite ich die Deutsch- und die Spanischstunde vor. Und das macht mich einfach nervös. Weil ich nicht weiß, was dazwischen kommt.“

  56. 56.

    Eine pointierte Ausdrucksform stellen die sogenannten tabellarischen Stundenverläufe dar, welche einen konstitutiven Bestandteil der sogenannten Stundenentwürfe darstellen.

  57. 57.

    Auf eine eingehendere Rekonstruktion dieser Äußerung wird an dieser Stelle verzichtet. Die Äußerung könnte als ironische Transzendierung der postulierten Eindeutigkeit und Unhinterfragbarkeit der der Situation zugrunde liegenden Deutungen verstanden werden und damit in Richtung einer an jeder Stelle möglichen Hinterfragung der Unhinterfragbarkeit weisen.

  58. 58.

    Eine Lehrerin bzw. ein Lehrer, die oder der zu Beginn einer Schulstunde vorschlüge, mit dem Unterricht zu beginnen, verdeckte damit die äußere, auf der Schulpflicht basierende Strukturierung der Unterrichtssituation, innerhalb derer ihr bzw. ihm die Entscheidungsmacht und letztlich die Eröffnungspflicht zwangsläufig zukommt. Dies würde spätestens dann offenbar, wenn die Schülerinnen und Schüler den Vorschlag ablehnten, dies aber folgenlos bleiben müsste.

  59. 59.

    Der Sprechakt der Frage impliziert in diesem Sinne immer eine Zumutung, indem sie den Adressierten bzw. die Adressierte immer zu einer Beantwortung nötigt. Dies findet in kommunikativen Rahmungen wie: Ich habe mal eine Frage, oder noch pointierter: Darf ich mal fragen, Ausdruck.

  60. 60.

    Tatsächlich ließe sich das Verb ergehen mit einer adverbialen Bestimmung verbinden, zum Beispiel: Mir ist es gut ergangen. Unmöglich dagegen ist die Formulierung: Mir sind Ferien ergangen.

  61. 61.

    Damit reproduzieren sich Prädikat und Subjekt der Frage auch hier in jenem Teil der explizierten Antwort, der im engeren Sinne die Frage beantwortet.

  62. 62.

    Insofern kann die Antwort auch ohne Explikation unstrittig als wohlgeformt gelten. Worum es also hier allein geht, ist die Frage, warum sie als wohlgeformt gelten kann.

  63. 63.

    Hier erscheint das Präteritum gebräuchlicher als die Perfektvariante (Wir haben Ferien gehabt), welche der in der Frage gewählten Form entspräche.

  64. 64.

    Auch bezogen auf die gesprächsorganisationale Offenheit der Situation – also bezogen auf die Frage nach der Übernahme des Rederechts – macht die entworfene Lesart die sich ausdrückende Fraglosigkeit bzw. Selbstverständlichkeit plausibel: Denn indem die Frage durch eine kollektiv als gültig präsupponierte Deutung beantwortet wird, reduziert sich diese Fraglichkeit allein darauf, wer diese verbalisiert; der Deutungsinhalt bleibt davon unberührt. Inhaltlich ist also egal, wer das Wort ergreift. Gesagt würde in jedem Fall dasselbe.

  65. 65.

    Vergleichen wir diese Explikationen mit der tatsächlich getätigten Äußerung, dann wird augenfällig, dass sie nur einen Teil des Äußerungsgehaltes erfassen: Was im Zuge der Explikation verloren geht, ist jener Eindruck der Unmittelbarkeit, der performativ durch die gewählte Aussageform zum Ausdruck kommt. Pointiert formuliert, liegt der Unterschied darin, dass die Explikationen Formulierungen darstellen, in denen von einem Erleben berichtet wird, während in der tatsächlich realisierten Form das Erleben – zumindest in seinem Nachhall – performativ und damit expressiv zum Ausdruck gebracht wird. Paradoxer Weise verkürzt die vorgenommene Explikation die Aussage also um ihre performativ zum Ausdruck kommende Expressivität. Sie stellt damit nur eine Explikation eines Äußerungsteils dar. Auf die sich hier andeutenden prinzipiellen Grenzen der Möglichkeit, den Sinngehalt elliptischer Äußerungen mit Hilfe einer Paraphrasierung zu explizieren, verweisen auch Behr und Quintin im Rahmen ihrer linguistischen Untersuchung verbloser Sätze im Deutschen: „In unserem Sinne kommt der Paraphrase […] jedoch nur der Status eines wissenschaftlichen Hilfsmittels zu. Sie stellt keinesfalls eine Form dar, von der der VLS [der verblose Satz; F.D.] abgeleitet wäre.“ (Behr/Quintin 1996, S. 53)

  66. 66.

    Dies zeigt sich beispielsweise im Wunsch: Schöne Ferien!, in dem sich die Vorstellung ausdrückt, Ferien seien normalerweise schön.

  67. 67.

    Zur Begründung der hier stillschweigend eingeführten Annahme, dass sich die protokollierte Thematisierung von Ferien auf Schul ferien bezieht, braucht nicht das Kontextwissen um die Zielgruppe der pädagogischen Fallarbeit herangezogen zu werden. Sie ergibt sich kontextfrei aus der Verwendung des Begriffs Ferien ohne nähere Spezifizierung: Zwar gibt es auch in Unternehmen und Universitäten Ferien, jedoch werden diese als Semester- oder Betriebs ferien spezifiziert. Ohne eine entsprechende Spezifizierung kennzeichnet der Begriff, als quasi originäre Form der Ferien, Schulferien.

  68. 68.

    Im Unterschied zum Urlaub obliegen weder die konkrete Dauer noch der Zeitpunkt von Ferien dem Einfluss derer, die Ferien haben. Sie werden vielmehr langfristig administrativ vorgegeben. Sprachlich drückt sich dieses darin aus, dass man Urlaub nehmen kann, während man Ferien nur bekommen kann. Insofern reproduziert sich der Zwangscharakter der Institution Schule auch in der Zeit der vermeintlichen Abwesenheit schulischer Zwänge.

  69. 69.

    Als zentrale Elemente dieser Strukturierungsmacht können insbesondere die zeitliche Strukturierung von Schule in Form von sich aus Schulstunden zusammensetzenden Stundenplänen, die inhaltliche Gliederung von Schule nach dem Fächerprinzip und die soziale Strukturierung entlang der Unterscheidung von Lehrer- und Schülerrolle angeführt werden.

  70. 70.

    Gemessen am Umfang der bisher interpretierten Äußerung Svenja Lichters mögen diese weit reichenden strukturhypothetischen Überlegungen irritierend wirken. Mit ihnen wird allein der Geltungsanspruch erhoben, dass sie sich aus dem empirischen Material, also der ersten Äußerung der Referendarin, ergeben und nicht an sie herangetragen werden. Sie dienen zunächst dazu, die weitere Rekonstruktion zu strukturieren. Dass an dieser Stelle bereits strukturhypothetisch argumentiert werden kann, ergibt sich daraus, dass die Rekonstruktion der Äußerung Svenja Lichters nicht kontextfrei, sondern vor dem Hintergrund der vorausgehend untersuchten Fallarbeitseröffnung erfolgte.

  71. 71.

    Dies wäre nur dann nicht der Fall, wenn im Rahmen der Rekonstruktion erkennbar würde, dass die Bezugnahme auf die kommunikative Situation durch eine problematische Strukturierung derselben geprägt wäre, wenn also die Fallstruktur der pädagogischen Fallarbeit die der Umgangsweise Svenja Lichters mit ihrer Situation im Referendariat überdeckte.

  72. 72.

    Innerhalb der Strukturlogik des Settings hat eine derartige Erzählung vor dem Hintergrund der konzeptionellen Fassung der Ferien als Unterbrechung des Referendariats keinen Platz.

  73. 73.

    Dies impliziert die Behauptung, dass ein gemeinsames Lachen mehr als ein gleichzeitiges Lachen einzelner Kommunikationsteilnehmerinnen und Kommunikationsteilnehmer darstellt. Darauf, dass diese Intuition alltagskommunikativ gedeckt ist, verweist die alltagssprachliche Redeweise, dass Lachen ansteckend sei. Behauptet werden soll an dieser Stelle, dass es für den noch näher zu bestimmenden Ausdrucksgehalt des Lachens relevant ist, dass hier eine Gruppe – als Kollektiv – gleichzeitig lacht.

  74. 74.

    Innerhalb einer rein spezifisch strukturierten sozialen Situation wäre ein Lachen fehl am Platz. Dass empirisch in Situationen, welche wir als spezifisch strukturiert fassen können, durchaus gelacht wird, verweist auf den idealtypischen Charakter der Differenzierung zwischen einer spezifischen und einer diffusen Interaktionslogik. Von dieser ausgehend ließe sich ein empirisch zu beobachtendes Lachen innerhalb einer spezifisch strukturierten Situation dahingehend charakterisieren, dass es trotz und nicht auf Grund der spezifischen Interaktionslogik vorkommt und diese mindestens vorübergehend transzendiert.

  75. 75.

    Diese Notwendigkeit einer Reinterpretation verweist nicht auf einen Mangel der vorausgehenden Interpretation. Dass innerhalb dieser keine Lesart entwickelt wurde, der zufolge die Aussage ein Lachen nach sich ziehen wird, ergibt sich aus dem Sparsamkeitsprinzip (Kap. 5.2).

  76. 76.

    Diese Konzeption des Lachens als Ausdrucksform schließt an Helmut Plessners philosophische Anthropologie des Lachens und Weinens an. Hinsichtlich des Untersuchungsgegenstandes dieser Studie besonders interessant erscheint, dass Plessner das Lachen – genauso wie das Weinen – als „Reaktion auf eine Krise menschlichen Verhaltens“ (Plessner 1961, S. 203) fasst, welche er zwar keineswegs als bewusst intendiert, jedoch trotzdem als sinnstrukturiert entwirft.

  77. 77.

    Die hier behauptete Schwierigkeit liegt darin begründet, dass Lachen zwar als sinnstrukturierte Ausdrucksgestalt verstanden werden kann, dass also keineswegs zufällig gelacht wird, und dass ein Lachen entsprechend alltagsweltlich verstanden werden kann. Jedoch scheinen diese interaktiven Praxen einem reflexiven Verstehensprozess nur partiell zugänglich zu sein. Dadurch entzieht sich jene Regelhaftigkeit, welche dem Lachen als sinnstrukturierter Ausdrucksform zugrunde liegt, zumindest in Teilen einer Rekonstruktion seitens der Lachenden. In diese Richtung weist Freuds Resümee seines Versuches, die Technik des Witzes als das lachend machende Moment eines Witzes zu rekonstruieren. Im Anschluss an seine extensive Rekonstruktion eines umfangreichen Korpus verschiedenster Witze folgert er pointiert: „Wir wissen also strenggenommen nicht, worüber wir lachen.“ (Freud 2009a [1905], S. 116) Die zentrale Pointe von Freuds Auseinandersetzung mit dem Witz und später mit dem Humor (Freud 2009b [1927]) ist, gerade in dieser Unkenntnis ein konstitutives Moment zu sehen, welches einen Witz oder – allgemeiner – welches Komik ausmacht.

    Empirisch gestützt wird die These der reflexiven Unzugänglichkeit des lachend machenden Momentes durch Martin Hartungs empirische Studie über alltagssprachliche Ironie: In dieser wurden Probandinnen und Probanden unter anderem Äußerungen vorgelegt, die sie danach bewerten sollten, ob es sich um ironische Äußerungen handelte oder nicht. Wie Hartung berichtet, zeigte sich dabei, dass den Befragten diese Unterscheidung in aller Regel spontan unproblematisch möglich war, sie in der Folge jedoch in Bezug auf die als ironisch identifizierten Äußerungen häufig nicht angeben konnten, worin sich ihre Bewertung begründete. Hartung weist überdies darauf hin, dass das Scheitern eines derartigen Explikationsversuchs oft sogar zu einer Rücknahme der Charakterisierung der vorgelegten Äußerung als ironisch führte (Hartung 1998, S. 12). Auch bei Plessner findet sich dieser Gedanke im Rahmen seiner Analyse des Komischen wieder: „Denn es ist keineswegs sicher, daß das, worüber man sich freut, den Grund darstellt, aus welchem man lacht.“ (Plessner 1961, S. 93) Demnach ist Lachen nicht zwangsläufig Ausdruck des sprichwörtlichen Spaßes an der Freude.

  78. 78.

    Die hier vorgenommene grundlegende Fokussierung auf eine Widersprüchlichkeit ist unmittelbar anschlussfähig an die inkongruenztheoretischen Erklärungsansätze von Komik, Humor (Bachmaier 2005) und Ironie (Hartung 1998; Preukschat 2007). Willibald Ruch zufolge hat sich auch innerhalb der psychologisch orientierten Humorforschung international ein entsprechender inkongruenztheoretischer Zugriff etabliert. Gleichzeitig verweist er jedoch auch auf die Grenzen der Erklärungskraft desselben: „Dispite some critics […], there is widespread agreement that incongruity is a necessary condition for humor. However, it was occasionally argued that it is not a sufficient one“ (Ruch 2008, S. 25).

  79. 79.

    Sollte die Behauptung, dass dies ein Lachen provoziert, wenig überzeugen, sei auf die folgende denkbare Parallelsituation verwiesen: Stellen wir uns vor, eine Person werde mit Blick auf den bevorstehenden Urlaub gefragt, worauf sie sich am meisten freue. Antwortete der oder die Befragte: Auf den Rückflug, so ergibt sich das gleiche Verhältnis von Erwartung und Antwort.

  80. 80.

    Vor dem Hintergrund der Rekonstruktion der normativen Erwartungen wird begründbar, warum beide Varianten des Gedankenexperiments als lachend machende Situationen umso überzeugender erscheinen, je jünger wir uns die Schülerin oder den Schüler denken, der bzw. dem wir die Antwort Ferien in den Mund legen. Offenbar erscheint in Bezug auf einen Schüler oder eine Schülerin zu Beginn der Schullaufbahn die normative Erwartung, dass er oder sie ein Lieblingsfach habe bzw. die Schule möge, evidenter als in Bezug auf eine Schülerin oder einen Schüler an späterer Stelle der Schullaufbahn.

  81. 81.

    Die Akzentuierung der Normativität jeder komischen Begebenheit findet sich als ein zentraler Leitgedanke innerhalb Helmut Plessners Auseinandersetzung mit dem Lachen wieder. So führt er in Bezug auf das Komische als ein das Lachen begründendes Phänomen aus: „Auf dem Hintergrund solcher Ansprüche, wie sie der Mensch erhebt: auf Individualität, also Einzigartigkeit, Einmaligkeit und Unvertretbarkeit, auf Würde, Beherrschtheit, Elastizität, Ebenmaß, Einklang zwischen Leib, Seele, Geist – kann so gut wie alles, was er ist, hat und tut, komisch wirken. Ähnlichkeit, die zwei Menschen nicht mehr unterscheidbar macht, ist lächerlich; Nachahmung von Gesicht, Tonfall, Bewegungen – lächerlich; Verwechselung – lächerlich; Verkleidung (und jede Kleidung, die lange genug aus der Mode ist, und nicht zu lange, um bereits unserer Einfühlung entglitten zu sein, wirkt als Verkleidung) – lächerlich. Unproportionierte Formen, ungeschicktes Benehmen, Übertriebenheiten jeder Art, Monomanien, Zerstreutheiten, Fixiertheiten: unerschöpfliche Quellen der Komik […].“ (Plessner 1961, S. 116) Die von Plessner beispielhaft angeführten Unverhältnismäßigkeiten haben gemeinsam, dass sie allesamt gegen Normalvorstellungen und damit gegen tradierte Ordnungsvorstellungen verstoßen und auf Grund dessen komisch wirken. Dieser Gedanke, dass innerhalb des Komischen immer die Frage nach dem Richtigen thematisch ist, findet sich auch in Sigmund Freuds Abhandlung über den Witz und seine Beziehung zum Unbewußten (Freud 2009a [1905]). Zwar unterscheidet Freud zwischen tendenziösen und tendenzlosen Witzen, wonach allein die tendenziösen Witze, wie beispielsweise die Zote, gegen geltende Moralvorstellungen verstießen. Gleichwohl fasst er auch den tendenzlosen Witz als pointierten Regelverstoß auf. Im Unterschied zum tendenziösen Witz zentriert sich dieser jedoch um einen Verstoß gegen universell geltende Regelhaftigkeiten. Witze transzendieren demnach jene Metanormen sinnstrukturell kohärenten Verhaltens, welche beispielsweise Herbert Paul Grice in Bezug auf kommunikatives Handeln in Gestalt seiner Kommunikationsmaximen zu fassen versucht (Grice 1979).

  82. 82.

    Ob nun diese lachend machende Inkongruenz als spezifische Form des Normverstoßes, als ironische Bezugnahme oder unfreiwillige Komik gedeutet wird, hängt allein davon ab, inwieweit die Zuhörenden der Aussage in der rekonstruierten Gestalt Intentionalität zusprechen.

  83. 83.

    Wie die Verweise auf die entsprechenden theoretischen Erklärungsmuster anzeigen, basiert diese Lesartenbildung nicht auf generativen Regelhaftigkeiten jenseits der Ebene universell gültiger Regeln. Entsprechend gilt es an dieser Stelle, den Gültigkeitsanspruch einzuklammern: Die Lesart ist demnach nur unter der Voraussetzung gültig, dass die Darstellung der an die Lehrerinnen- bzw. Lehrerrolle geknüpften normativen Erwartungen zutrifft.

  84. 84.

    Diese Bedürfnisse stünden dann im thematischen Zentrum der Schilderung, wenn sich die Referendarin auf die Strukturlogik des Settings einließe.

  85. 85.

    Die Wahl der Bezeichnung „ironisch“ begründet sich darin, dass mit ihr im Gegensatz zu den denkbaren Alternativen „witzig“ oder „komisch“ einerseits auf die Intendiertheit und andererseits auf das rekonstruierte Moment der kritischen Distanznahme gegenüber bestimmten normativen Erwartungen verwiesen wird.

  86. 86.

    Diese Fragestellung mag zunächst mit Blick auf die methodologische Begründung des Vorgehens irritieren, der zufolge sich eine objektiv-hermeneutische Rekonstruktion zunächst allein auf die Ebene des latenten Sinngehaltes bezieht. Davon ausgehend spielt in aller Regel die Frage nach der Intendiertheit einer Äußerung keine Rolle. Sie wird jedoch hier zwingend thematisch, da uns eine Inkongruenz begegnet, welche jedoch, soweit sie als Ironie gedeutet werden kann, nicht als Wohlgeformtheitsfehler gedeutet werden darf. Damit begegnet uns hier der Sonderfall, dass der objektive Sinngehalt der Äußerung vom manifesten Sinngehalt abhängt. Gleichwohl gilt es, die Frage der Intendiertheit der Inkongruenz an Hand der objektiven Ausdrucksgestalt zu klären.

  87. 87.

    Als ein derartiges Signal konnte innerhalb des vorausgehenden Falls das demonstrative Räuspern Andreas Broogs gedeutet werden, was es zweifelsfrei ermöglichte, den ironischen Charakter des thematischen Geständnisses zu rekonstruieren. Als ironische Formel können Formulierungen gefasst werden, welche normalerweise und damit in hohem Maße konventionalisiert ironisch verwendet werden (vgl. Hartung 1998).

  88. 88.

    Diese Nichtpositionierung eröffnet erst die Möglichkeit im Anschluss an eine ironische Äußerung, einer Kritik an derselben mit dem Hinweis zu begegnen, die Aussage sei doch nur ironisch – und damit gar nicht ernst gemeint gewesen.

  89. 89.

    Würde der Beginn der Schilderung als inakzeptabler Affront gegen die Moderatorin aufgefasst werden, würde auf diesen nicht mit einem Lachen geantwortet. Genauso verböte sich ein Lachen, wenn die zum Ausdruck kommende auf die unterrichtliche Praxis bezogene Haltung inakzeptabel erschiene.

  90. 90.

    Eine Explikation dieser Position könnte beispielweise so lauten: Tja, die Ferien sind nun einmal vorbei. Da hilft kein Jammern.

  91. 91.

    Die Einfügung des „wieder“ verweist auf das Ende einer Unterbrechung, hier also auf das Ende der Ferien, woraus geschlossen werden kann, dass die sich protokollierende Fallarbeitssitzung nach Ende des dritten Nicht-Ferientags, also des dritten Schultags stattfand.

  92. 92.

    In gewagter Deutung kann die Verwechslung von Herbst- und Weihnachtferien im Sinne einer Fehlleistung als Ausdruck dieser radikalen konzeptionellen Trennung gelesen werden: Gedanklich steht die Auseinandersetzung mit dem besonderen Unterrichtsbesuch in so großer Distanz zum sonstigen Geschehen, dass sie in der Erinnerung auch zeitlich viel weiter weg erscheint, nämlich vor den Herbstferien liegend, als es tatsächlich der Fall ist.

  93. 93.

    Dafür müssten im Vergleich zur entwickelten Deutung weit aufwändigere Lesarten entwickelt werden. Beispielsweise wäre es möglich, den Verweis auf den Unterrichtsbesuch als Begründung für ein ungewöhnlich großes Erholungsbedürfnis zu lesen. Dies aber erforderte ein beträchtliches Maß an kontextuellen Zusatzannahmen, die an das Material herangetragen werden müssten.

  94. 94.

    Diese Deutung lässt sich an Hand der folgenden Äußerung illustrieren: Es war nicht so, dass sie ihn nicht gemocht hätte, er war ihr eher gleichgültig. Hier stellt das „eher“ explizit zwei alternative Aussagen in eine Relation zueinander.

  95. 95.

    Entsprechend dieser Deutung, dass Svenja Lichter hier die vorausliegende Zeit thematisiert, ließe sich der unverständliche Abschluss sinngemäß folgender Weise rekonstruieren: Und sonst erst mal gucken, was so anliegt, oder: und sonst erst mal gucken, was so passiert. Vor dem Hintergrund der vorausgehenden Äußerungen und der konjunktionalen Anknüpfung an diese in Form des „und sonst“ kann ausgeschlossen werden, dass sie sich hier weiterhin auf zurückliegende Ereignisse bezieht. So stellte die Formulierung: und sonst erst mal schauen, was passiert ist, inhaltlich keinen wohlgeformten Anschluss dar.

  96. 96.

    In der Nichtthematisierung der Unangemessenheit des Rechtfertigungsbestrebens reproduziert sich jenes ambivalente Moment der Adressierung, welches im Rahmen der vorausgehenden extensiven Rekonstruktion einer Sitzungseröffnung rekonstruiert werden konnte (Kap. 6.2): Hier wie dort wird den Teilnehmenden die Möglichkeit gegeben, ihre Bezugnahme auf das Setting als Beitrag und nicht als Anfrage zu formulieren, ohne dass dies als unpassend kritisiert würde.

  97. 97.

    Auf eine Irritation bezüglich dessen, was die letztmalige Abwesenheit mit der Behauptung zu tun hat, dass es nichts über die anstehenden Ereignisse zu erzählen gäbe, könnte bereits eine sich protokollierende Pause oder ein Verzögerungslaut verweisen.

  98. 98.

    Denkbar wäre, dass der erwähnte BUB als Begründung herangezogen werden sollte. Zwar wurde dieser – und damit der Grund des Nichterscheinens – vorausgehend thematisiert. Jedoch lässt sich aus dieser Erwähnung, trotz des Hinweises, dass die vorausgehende Zeit durch den BUB geprägt gewesen sei, nicht unmittelbar und wie selbstverständlich schließen, dass die Referendarin deswegen nicht anwesend war. Ansonsten verböte sich streng genommen die Rückfrage der Moderatorin.

  99. 99.

    Die begriffliche Differenzierung zwischen erster und zweiter Ebene soll auf die Besonderheit verweisen, dass hier nicht unmittelbar normative Orientierungen der angehenden Lehrerin thematisch sind, sondern ihre – wiederum in sich normative – Umgangsweise mit tradierten Normen.

  100. 100.

    Die Moderatorin strukturiert also mit dem „Ja. O.K.“ die kommunikative Situation als eine Reihung in sich geschlossener und voneinander unabhängiger Erzählungen.

  101. 101.

    Dies lässt sich an Hand zweier gedankenexperimenteller Beispiele illustrieren: Wird auf die Frage: Sollen wir ins Cafe gehen? Hast du Durst?, geantwortet: Ein bisschen, so drückt sich in der Antwort eindeutig eine Zustimmung zum Vorschlag, das Cafe zu besuchen, aus. Sollte eine Ablehnung des vorgeschlagenen Cafebesuchs folgen, müsste die Antwort zumindest durch ein nur ergänzt werden: Nur ein bisschen. In die gleiche Richtung weist, dass die evaluative Aussage: Das war ein bisschen blöd, fast ausschließlich nur als ironische Äußerung verstanden werden kann.

  102. 102.

    Davon ausgehend kann der Grad der Konventionalität der ironischen Redeweise daran bemessen werden, wie groß diese Uneindeutigkeit ist.

  103. 103.

    Stellen wir uns vor, auf die Äußerung: Du hast sicher Hunger, ne?, würde mit einem Nein geantwortet, so gäbe der Antwortende zu verstehen, nicht hungrig zu sein.

  104. 104.

    Dies lässt sich unschwer daran erkennen, dass ein rückversicherndes „ne?“ im Anschluss an eine expressive Äußerung irritierte: Ich bin so unglücklich, ne?, stellt keine wohlgeformte Äußerung dar.

  105. 105.

    Während sich vermuten lässt, dass Svenja Lichter unabhängig von der Dauer in den ersten Tagen nach Wiederbeginn des Unterrichts den Ferien nachtrauert, verweist Britta Schwarz’ Äußerung auf eine Konzeption der Situation, welche die Möglichkeit hinreichend langer Ferien beinhaltet.

  106. 106.

    Darauf, dass die Äußerung so zu lesen ist, verweist auf der Ebene der sprachlichen Oberfläche insbesondere die Präteritumform des Prädikats.

  107. 107.

    Hätte Britta Schwarz gesagt: Es war tatsächlich nicht so, dass sich die Vorstellung xy bewahrheitete, dann nähme sie damit Bezug auf eine Erwartung, die sie bereits vor den Ferien hatte und die sich in diesen bestätigte. In diesem Fall drückte sie also aus, der Vorstellung bereits vorgängig misstraut zu haben. Dies tut sie mit der sich tatsächlich protokollierenden Formulierung nicht.

  108. 108.

    Dieses nicht nur, weil es einen inkongruenten Anschluss an die vorausgehende Problematisierung der Feriendauer, also der Größe des Zeit raums der Ferien, darstellte. Schließlich würde damit der im Kontext des „ne?“ bestätigte Konsens über das Problem der zu kurzen Ferien komplett dementiert. Auch schließt die Formulierung selbst diese Lesart aus: Sie müsste nämlich lauten: Es war nicht so, dass irgendwas mit der Zeit war, weil nur so die Formulierung als implizite Form der Aussage: Es war nicht so, dass irgendwas mit der zur Verfügung stehenden Zeit war, gelten kann.

  109. 109.

    Vor dem Hintergrund dieser Rekonstruktion kann nun mit Blick auf die erste Äußerung zu den Ferien: „die Ferien waren ein bisschen kurz“, die Lesartenfrage zu Gunsten der ironischen Lesart eindeutig entschieden werden, da nur so die aktuell interpretierte Äußerung einen kongruenten Anschluss an die vorausgehende darstellt.

  110. 110.

    Verstehen wir den Hinweis auf die Mappen in dem Sinne, dass Britta Schwarz die Arbeitsmappen ihrer Schülerinnen und Schüler einsammelte, schließt dies streng genommen aus, dass sie weitere bearbeitete Arbeitsmaterialien einsammeln konnte: Schülermappen dienen der Sammlung aller relevanten Unterrichtsmaterialien, angefangen von bearbeiteten Arbeitsblättern über Unterrichtsmitschriften bis hin zu Hausaufgabenbearbeitungen. Dies unterscheidet sie vom klassischen Schulheft. Entsprechend dürfte es keine weiteren, diesen Mappen gleichenden, Sammlungen geben.

  111. 111.

    Alternativ zu dieser Lesart ließe sich unterstellen, dass mit dem „und so“ auf etwas verwiesen wird, auf das die adressierten Anwesenden durch den Hinweis auf die „Mappen“ unzweifelhaft schließen können. Die herausgearbeitete Unbestimmtheit der Ergänzung würde dieser Lesart zufolge durch ein geteiltes Kontextwissen kompensiert werden und könnte demnach nicht als Ausdrucksgestalt einer Brüchigkeit der spezifischen Bezugnahme Britta Schwarz’ auf die Ferienproblematik gelesen werden. Diese Lesart kann nicht ausgeschlossen werden. Jedoch kann sie im Sinne des erläuterten Sparsamkeitsprinzips zurückgestellt werden: Schließlich kann eine analoge Lesart in Bezug auf jede denkbare diffus wirkende Äußerung entwickelt werden. Sie ist also nicht fallspezifisch gedeckt und trägt damit nicht zur Rekonstruktion der Fallstruktur bei.

  112. 112.

    Während die Referendarin sagt, sie habe zwei Klassenarbeiten geschrieben, wird hier reformuliert, sie habe zwei Klassenarbeiten schreiben lassen. Dies begründet sich doppelt: Die darin zum Ausdruck kommende Lesart, dass der angehenden Lehrerin die Rolle der Prüfenden und nicht eines Prüflings zukommt, stützt sich darauf, dass uns hier eine schulpädagogisch tradierte Formulierung begegnet: Demnach reden Lehrerinnen und Lehrer häufig davon, Klassenarbeiten zu schreiben, um die Tatsache zu bezeichnen, Klassenarbeiten schreiben zu lassen. Bereits im Rahmen der ersten Fallrekonstruktion begegnete uns diese Auffälligkeit. Zum zweiten schließt sich die Thematisierung der Klassenarbeitsterminierung als eigene Entscheidung aus Perspektive einer Schülerin aus. Es bedarf demnach nicht einmal der Kontextinformation, dass Britta Schwarz Referendarin ist, um diese Lesart, welche die Formulierung nahelegt, ausschließen zu können, sondern allein ein Blick auf den immanenten Kontext.

  113. 113.

    Hinsichtlich dieser Ankündigungspflicht gibt es bundeslandspezifische Unterschiede. Gemein haben alle Regelungen, dass sie die Terminierung und Durchführung von Klassenarbeiten der persönlichen Willkür einer Lehrerin oder eines Lehrers entziehen.

  114. 114.

    Es liegt auf der Hand, dass ein Aufsatz im Fach Deutsch über Schillers Wilhelm Tell genauso wenig vor der Behandlung des Dramas im Deutschunterricht geschrieben wird wie eine Mathematikarbeit zum Thema Kurvendiskussion, bevor die entsprechenden Verfahrensweisen im Unterricht eingeführt und geübt wurden.

  115. 115.

    In diese Richtung weist die alternativ vorstellbare Formulierung: Und habe gedacht, das mache ich dann Weihnachten ganz entspannt. Diese Formulierung ließe erkennen, dass sich Britta Schwarz erinnern kann, was sie früher dachte. Nun hört sie sich gewissermaßen nur noch etwas sagen.

  116. 116.

    Wird der Verlauf eines geschäftlichen Treffens als „ganz entspannt“ bezeichnet, so verweist dies auf die Abwesenheit inhaltlicher oder sozialer Konflikte. Die Entscheidung, diese Lesart nicht zu verfolgen, begründet sich in der vorausgehenden Fokussierung auf die Zeitthematik.

  117. 117.

    Dass sich das Korrigieren auf die Mappen oder Klassenarbeiten bezieht, kann geschlossen werden, da ansonsten deren vorausgehende Erwähnung nicht sinnvoll erschiene. Wie bereits innerhalb der ersten Fallrekonstruktion ausführlich diskutiert, kann davon ausgegangen werden, dass mit dem Verb „korrigieren“ ein Bewertungsprozess bezeichnet wird (vgl. Kap. 7.1).

  118. 118.

    In diesem Zusammenhang kommt dem Detail Bedeutung zu, dass Britta Schwarz nicht davon spricht, dass sie die ganzen Weihnachtsferien, sondern Weihnachten am Korrigieren war. Dies pointiert die Totalität der im Medium der Mappen und Klassenarbeiten in die Ferien Eingang findenden schulischen Fremdstrukturierung.

  119. 119.

    Die Gültigkeit dieser Überlegungen wird sich im Rahmen der weiteren Rekonstruktion daran bemessen, inwieweit Britta Schwarz begründet, warum sie keine andere Wahl hatte, als Weihnachten nur am Korrigieren zu sein. Sollte sie dies erläutern, falsifizierte dies die Deutung. Bleibt eine Begründung aus, bestätigte sie sich darin empirisch.

  120. 120.

    Damit bestätigt sich an dieser Stelle abschließend, dass es bei der thematischen Bearbeitung der Mappen, der das Einsammeln derselben diente, um eine Bewertung geht.

  121. 121.

    Darauf, dass das Lesen als das originäre und das Daumenkino als das defizitäre Vorgehen gefasst werden, weist insbesondere die Attribuierung des Lesens als „richtiges“ Lesen hin. Wenn auch weniger offensichtlich verweist auch das pejorativ wirkende, vor dem Daumenkino eingefügte „so“ in diese Richtung.

  122. 122.

    Weniger drastisch fiele die Gegenüberstellung aus, spräche Britta Schwarz beispielsweise davon, die Mappen nur noch überflogen zu haben, oder davon, die Mappen nur noch in Auszügen oder kursorisch gelesen zu haben.

  123. 123.

    Unabhängig davon, dass das „Daumenkino“ hier offensichtlich als Bild zur pointierenden Charakterisierung des Vorgehens genutzt wird, verweist es auf die Flüchtigkeit des Vorgehens: Ein Daumenkino zeichnet sich gerade dadurch aus, dass die einzelnen Bilder, aus denen es besteht, nicht als solche wahrgenommen werden können und sollen. Erst dadurch werden sie zum „Daumenkino“-Film.

  124. 124.

    Mit den zu bewertenden Mappen und dem Verweis auf die beiden Klassenarbeiten thematisierte Britta Schwarz bisher Tätigkeitsbereiche, welche der Bewertung schulischer Leistungen zuzuordnen sind. Noch nicht abschließend beantwortbar ist, inwieweit sich dies situativ begründet, da diese Tätigkeiten gerade aktuell anstanden, oder inwieweit in Bezug auf diese Tätigkeiten jenes Kontrollbedürfnis besondere Virulenz entfaltet.

  125. 125.

    Denkbar ist, dass Britta Schwarz mit der Äußerung eine gestische Darstellung verbindet, das „so“ also als unmittelbarer deiktischer Verweis auf eine szenische Darstellung gelesen werden kann, welche sich in der gewählten Form der Protokollierung nicht abbildet. Doch auch in dieser Lesart stellt die Sequenz keine wohlgeformte Äußerung dar, weil sie abgebrochen wird: Ebenso könnte in diesem Fall die gestische Darstellung als Ausdruck des Mangels einer stimmigen verbalsprachlichen Fassung gedeutet werden.

  126. 126.

    Warum Britta Schwarz in diesem Zusammenhang die „Mädchenmappen“ anspricht und nicht die Jungenmappen und warum sie überhaupt diese Differenzierung einführt, kann nicht abschließend rekonstruiert werden. Als mögliche Lesart bietet sich an, dass sich hinsichtlich dieser Mappen das thematische Problem in besonders pointierter Form stellte.

  127. 127.

    Detailliertere Erläuterungen zu dieser Darstellungsmodifikation finden sich in den beiden vorausgehenden Fallrekonstruktionen.

  128. 128.

    Die Extensität dieser einmonatigen Vorbereitung wird offensichtlich, wenn wir berücksichtigen, dass ein „besonderer Unterrichtsbesuch“ eine Unterrichtsstunde umfasst (vgl. Kap. 2.1).

  129. 129.

    Alternativ zur Formulierung, die Noten in der Klasse vergeben zu müssen, hätte Britta Schwarz beispielsweise auch davon sprechen können, ihren Schülerinnen und Schülern Noten vergeben zu müssen. Mit einer derartigen Formulierung konzeptionierte Britta Schwarz die Notenmitteilung unabhängig davon, in welcher Form diese tatsächlich vollzogen wurde, als kommunikativen Akt, an dem sie und die Schülerinnen und Schüler als einzelne Akteure beteiligt sind, nicht jedoch als Kollektiv der Schulklasse.

  130. 130.

    Diese Interpretation der Formulierung kann an Hand eines einfachen Parallelbeispiels plausibilisiert werden: Stellen wir uns vor, nach dem Abpfiff eines Fußballspiels sagt ein Spieler im Interview: Offensiv haben wir gar nicht schlecht gespielt, nur die Chancenverwertung war der große Knackpunkt. Unzweifelhaft könnten wir davon ausgehen, dass uns in diesem Parallelbeispiel ein Spieler der unterlegenen Mannschaft begegnet. Die mangelnde Chancenverwertung entschied also insgesamt das Spiel zu Ungunsten seines Teams.

  131. 131.

    Dieser Deutung liegt die Annahme zu Grunde, dass die Position einer Referendarin bzw. eines Referendars gegenüber der einer Lehrerin bzw. eines Lehrers immer als defizitär konzeptioniert wird. Ein Referendar unterscheidet sich von einem Lehrer dadurch, dass ihm durch die Adressierung als noch Auszubildender Fähigkeiten abgesprochen werden, welche für die Ausübung des angestrebten Lehrerberufs als genuine Voraussetzungen angesehen werden. Nur das legitimiert seinen Staus als Auszubildender und die damit verbundene Vorenthaltung des endgültigen Zugangs zum Lehrerberuf. Damit verbunden handelt ein Referendar innerhalb der schulischen Praxis immer unter Bewährung, was in den „Unterrichtsbesuchen“ und der finalen Examensprüfung in besonders pointierter Form symbolischen Ausdruck findet (vgl. Kap. 2.1).

  132. 132.

    Eine komplett andere Einordnung in die Darstellung ergäbe sich, wenn Britta Schwarz die Aussage mit einem weil einleitete. In diesem Fall käme der Referendarsrolle die Funktion einer Begründung der vorausgehend dargestellten Schwierigkeiten zu, auf die die Notengebungsproblematik insgesamt zurückgeführt würde.

  133. 133.

    Auch diesbezüglich lässt sich sowohl eine Parallele als auch ein Unterschied gegenüber der Ferienschilderung erkennen: Hier wie dort wird erkennbar, dass die einfachen Entscheidungen nicht unbegründet erfolgten. Im Unterschied zur Ferienepisode wird dies jedoch hier explizit zum Ausdruck gebracht.

  134. 134.

    Stellen wir uns vor, im Anschluss an ein Fußballspiel sagt der interviewte Trainer der einen Mannschaft: Wenigstens hat sich kein Spieler ernsthaft verletzt, so können wir davon ausgehen, dass die von ihm trainierte Mannschaft das vorausgegangene Spiel verlor. Der Hinweis auf die ausgebliebenen Verletzungen stellt also allein einen Trost dar, der die Enttäuschung der Siegeshoffnung höchstens mildern kann.

  135. 135.

    Auch kann die motivationale Wirkung guter Noten nicht als nachgeordnetes, allein in Zweifelsfällen zum Zuge kommendes Entscheidungskriterium gelten, da sich im Folgenden bestätigt, dass es sich bei den Fällen, welche auf der Kippe stehen, nicht um alle Fälle handelt, in denen die Leistung zwischen zwei Noten verortet wird, sondern allein um jene, bei denen eine versetzungsgefährdende Benotung zur Diskussion steht. Insofern kann bei der Entscheidung für die bessere Note, um die es hier geht, nicht von guten Noten die Rede sein.

  136. 136.

    Auf Grund des Kontextes können wir schließen, dass mit dem „epochal“ auf die schulische Praxis verwiesen wird, die innerhalb eines Schuljahres vorgesehenen Wochenunterrichtsstunden eines Faches in einem Halbjahr zusammenzufassen, während im anderen Halbjahr in dem Fach kein Unterricht erteilt wird. Damit fallen die Halbjahresnote und die Schuljahresnote in eins. Hinsichtlich der Vorstellung einer Benotung, innerhalb derer es gilt, die schulischen Leistungen entlang der Kriterien Quantität und Qualität zu beobachten und entsprechend – nach welchen konkreten Maßstäben auch immer – zu verbuchen, verhält sich diese Blockung des Fachunterrichts neutral.

  137. 137.

    Darin, dass die Referendarin die sich bereits auf dem Zettel manifestierenden Entscheidungen am Vorabend der Notenbekanntgabe noch revidierte, reproduziert sich ihr Bestreben, in Reaktion auf ihr Entscheidungsproblem die Entscheidungen möglichst revidierbar zu halten. Dies ist bis zum Vorabend der Notenverkündung möglich, so dass sie nicht zufällig auf diesen Abend fokussiert und nicht auf jene Entscheidungsprozesse, welche zu den fünf Fünfen auf dem Zettel führten. Dies wäre im Übrigen erwartbar gewesen, wenn sich das Notengebungsproblem tatsächlich um das Problem zentrierte, mit der Notenvergabe Selektionsentscheidungen treffen zu müssen.

  138. 138.

    Dieser Vorstellung zufolge würde die gleiche schulische Leistung je nach Schulform mit unterschiedlichen Noten zertifiziert werden.

  139. 139.

    Unter Einbeziehung von Kontextwissen erscheint es plausibel, dass sich die beschriebene Wirkungsweise der realisierten Notengebung darin begründet, dass es unter den Schülerinnen und Schülern verpönt ist, sich über eine zu gute Bewertung eines Mitschülers oder einer Mitschülerin zu beschweren. Die Referendarin nutzt dieser Lesart zufolge die Solidarität innerhalb der Peer-Group zum Zweck, sich vor potenzieller Kritik an ihrer Notengebung zu schützen.

  140. 140.

    Diese Vorgehensweise bewährte sich in der ersten Fallrekonstruktion als tragfähig. Darüber hinausgehend stützt die Annahme, dass die Referendarinnen und Referendare sich im Wesentlichen auf den Einstieg der Moderatorin und weniger auf die Schilderungen der Vorrednerinnen und Vorredner beziehen, einen im Rahmen der zweiten Fallrekonstruktion herausgearbeiteten Aspekt: Teil des dort interpretierten empirischen Materials ist auch die zäsurierende Reaktion der Moderatorin auf die Schilderung der Referendarin. Diese bringt eine Strukturierung der kommunikativen Situation zum Ausdruck, innerhalb derer die Schilderungen als in sich geschlossen und damit ohne Bezug aufeinander konzipiert werden. Gleichwohl wird sich die das dargestellte Vorgehen begründende Prämisse innerhalb der Rekonstruktion empirisch bewähren müssen.

  141. 141.

    Dass wir hier wie bereits im Rahmen der dritten Fallrekonstruktion die vorausgehenden Interpretationen nutzen können, erklärt, warum wir das „Ja“ nicht als eigene Sequenz behandeln.

  142. 142.

    Kontextübergreifend kann die Konjunktion „obwohl“ als Verweis auf eine Gegensätzlichkeit oder als Ausdruck einer Relativierung gelesen werden: Wird beispielsweise gesagt: Ich helfe beim Umzug, obwohl ich keine Zeit habe, so könnte das obwohl in dieser Verwendung sinngemäß mit einem trotzdem umschrieben werden. Wird jedoch gesagt: Mir geht es gut. Obwohl, ich habe doch ein wenig Rückenschmerzen, dann kommt dem obwohl der zweiten Aussage der Charakter einer Gültigkeitseinschränkung im Sinne eines aber oder eines allerdings zu. Vergleichen wir die syntaktischen Strukturen der beiden gedankenexperimentellen Beispielsätze mit der der protokollierten Aussage, so verweist dies eindeutig auf die oben dargestellte Lesart.

  143. 143.

    Grammatisch wohlgeformter erscheint die Formulierung: Obwohl der nächste BUB in genau einer Woche vor der Tür steht, weil mit dieser die Stellung des Verbs am Nebensatzende hergestellt wäre.

  144. 144.

    Eine Charakterisierung der Äußerung als Korrektur wäre beispielsweise durch ein: das heißt, oder ein: beziehungsweise, möglich. Auch ein eingefügtes also, welches der Ergänzung vorausginge, könnte als derartiges Korrektursignal gelesen werden.

  145. 145.

    Kongruent an den manifesten Aussagegehalt könnte allein ein spekulativer Ausblick anschließen, in welcher Form und wann der BUB Petra Gercke beschäftigen werde, indem die Referendarin beispielsweise gesagte: Mal sehen, wann die Aufregung losgehen wird.

  146. 146.

    Gegenüber dieser Variante reduziert die Formulierung des Dann-sehen-Könnens allein die Bedeutsamkeit der thematischen Entscheidung.

  147. 147.

    Die Argumentation hieße dann, dass sich Petra Gercke, gerade weil sie – aus welchem Grund auch immer – erst am Wochenende die in Bezug auf den besonderen Unterrichtsbesuch anstehenden Entscheidungen treffen kann, mit selbigen als unerledigtem Problem aktuell beschäftigt.

  148. 148.

    In Anknüpfung an die ausführliche Auseinandersetzung mit dem Lachen als Ausdrucksform innerhalb der dritten Fallrekonstruktion (vgl. Kap. 7.3) lässt sich hier auf der Basis der bisherigen Interpretation leicht das das Lachen generierende Moment der Situation rekonstruieren: Offenbar erzeugt jene sich aus der Unverfügbarkeit der Situation ergebende Ohnmacht eine Spannung, welche sich im Lachen entlädt. Gewagter könnte das Lachen als Ausdruck einer Unsicherheit dahingehend gelesen werden, inwieweit Petra Gercke „das“ tatsächlich „am Wochenende“ wird sehen können. Dabei bedeutet jene Spannungslösung jedoch weder, dass sich Petra Gercke der Problematik bewusst ist, noch, dass sich die Problematik mit dem Lachen auflöst.

  149. 149.

    Dies wäre gegeben, wenn Petra Gercke sagte, sie wolle jedoch nicht über den BUB sprechen.

  150. 150.

    Anders verhielte es sich, wenn gesagt worden wäre: Ähm, ja, sonst gibt es noch eine Sache. Diese Aussage würde das Folgende vom Vorausgehenden genauso abgrenzen, ohne der abgeschlossenen Thematik abzusprechen, eine Sache zu sein.

  151. 151.

    Deutlich wird dies erkennbar, wenn wir den diesbezüglich maximal kontrastierenden zweiten Fall als Vergleichsfolie anlegen und den geradezu Spontaneität und Unmittelbarkeit inszenierenden Ausruf „Ferien“ den bisher rekonstruierten Sequenzen gegenüberstellen.

  152. 152.

    Konkret nimmt sie den Einwand vorweg, die „Sache“ sei innerhalb der kommunikativen Situation deplatziert. Mit Blick auf den weiteren Fortgang der Fallarbeitssitzung entzieht sie die „Sache“ einer im Setting der Fallarbeit angelegten diskursiven Auseinandersetzung. Als Nicht-Fall kann sie nicht zum Gegenstand der gemeinsamen Reflexion werden.

  153. 153.

    So wird ein Vortrag eines Gedichtes vorbereitend geübt und ein wissenschaftlicher Vortrag vorbereitend inhaltlich erarbeitet und strukturiert. Dies bedeutet nicht, dass eine Erzählung weniger strukturiert sei. Auch kann etwas, das erzählt wird, bereits hochgradig reflexiv bearbeitet und komponiert sein. Jedoch stellt dies kein konstitutives Merkmal des Erzählens dar. Andersherum kann zwar ein Vortrag aus dem Stehgreif erfolgen, jedoch stellt dies einen im Zweifel erläuterungsbedürftigen Sonderfall dar. Dies lässt sich auch daran erkennen, dass der freie Vortrag als solcher speziell ausgewiesen wird, also nicht den Regelfall des Vortrags darstellt.

  154. 154.

    Thematisch wird damit die Frage nach der konkreten Ausgestaltung der Spezifizität der kommunikativen Situation (vgl. Kap. 6.1). Darauf, dass Petra Gercke das Setting als spezifisch begreift, verweist eben die Thematisierung dieser Problematik, in der sich die Unterscheidungslogik zwischen diffus und spezifisch abbildet, der zufolge in einer spezifischen Situation das Einbringen neuer Themen, in einer diffusen dagegen deren Ausblendung begründungspflichtig ist.

  155. 155.

    Schauen wir, in welchem Kontexten von einem „Fall“ die Rede sein kann, so zeigt sich, dass der Begriff immer auf eine berufliche, streng genommen professionelle Auseinandersetzung verweist: Ein Kriminalist kann von einem Fall sprechen, eine Ärztin kann sich mit einem Fall beschäftigen, ebenso können sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit Fällen beschäftigen. Dagegen kann man beispielsweise von seiner Lebenspartnerin oder seinem Lebenspartner nur in ironischer Sprechweise als Fall sprechen.

  156. 156.

    Dass eine Liebesbeziehung idealtypisch auch nicht graduell einer spezifischen und damit letztlich zweckrationalen Logik folgen kann, lässt sich an folgendem Gedankenexperiment illustrieren: Dass auf die Frage: Warum bist du mit mir zusammen?, nur auf Kosten einer Beziehungskrise mit einer Aufzählung materieller Vorteile, die sich aus der Beziehung ergeben, geantwortet werden kann, erscheint offensichtlich. Nun wird diese Antwort jedoch auch nicht unproblematischer, würde geantwortet: Ich bin mit dir zusammen, weil ich dich um deiner selbst willen liebe und weil du gut kochen kannst und in einem gesicherten Beschäftigungsverhältnis stehst.

  157. 157.

    Eingeführt wurde das Thema als etwas, das Petra Gercke schon beschäftigt hat, und damit als problematische Begebenheit.

  158. 158.

    Die hier in Frage gestellte Lesart gewönne dann wieder an Plausibilität, wenn Petra Gercke im Folgenden auf den zu präsupponierenden tendenziell totalitären Zwangscharakter des Referendariats einginge.

  159. 159.

    Dass eine solche Entgrenzung nicht durch das Setting angelegt ist und sich damit nicht ein Artefakt der Erhebungsmethode protokolliert, weil die Teilnehmenden also latent dazu aufgefordert würden, derartige Themen anzusprechen, belegt die extensive Rekonstruktion der Fallarbeitseröffnung der Sitzung, aus der auch die dieser Rekonstruktion zugrunde liegende Schilderung stammt. Die drei vorausgehenden Fallrekonstruktionen bestätigen das.

  160. 160.

    Die inhaltlich naheliegende Rückfrage, wie Petra Gerckes Behauptung, das Beziehungsende hänge mit dem Referendariat zusammen, forderte eine explizite Darstellung der zum Ende der Beziehung führenden Probleme ein. Darin reproduzierte sich die Entgrenzung, welche Petra Gercke vollzieht, indem sie das Thema anspricht.

  161. 161.

    Die implizite argumentative Figur lässt sich in folgender Weise reformulieren: Wenn auch die Behauptung, meine Trennung von meinem Freund hinge mit dem Referendariat zusammen, bezweifelt werden kann, so gilt zumindest, dass Beziehungsprobleme und Referendariat korrelieren.

  162. 162.

    Dass das Verb „passieren“ auf ein ungewöhnliches, sogar tendenziell erschreckendes oder bedrohliches Geschehen verweist, lässt die folgende gedankenexperimentelle Szene erkennen: Stellen wir uns vor, wir hören aus einem Nebenraum ein ungewöhnliches, lautes Geräusch, beispielsweise einen Knall oder ein lautes Scheppern. Hören wir kurz darauf eine Person aus dem gleichen Raum rufen: Nichts passiert!, so beantwortet sie mit diesem Ausruf die durch das Geräusch begründete Befürchtung, es sei ein kleines oder großes Unglück geschehen, oder die Sorge, die Person brauche Hilfe.

  163. 163.

    Für diese Lesart spricht, dass das zweite Thema nicht mit einem „dann“ oder „und dann“ in die Gesamterzählung eingeordnet wird. In der sich daraus ergebenden Alleinstellung markiert das „und dann“ eine Hervorhebung des Folgenden. Dies mag folgende gedankenexperimentelle Kontrastierung illustrieren: Heute haben wir im Zoo die Giraffen gesehen, dann die Elefanten, dann die Pinguine und dann noch die Raubvögel, vs. Heute haben wir im Zoo die Giraffen gesehen, die Elefanten, die Pinguine und dann noch die Raubvögel.

  164. 164.

    Wiederum kann auch in einem Freundeskreis etwas besprochen werden, etwa wenn eine gemeinsame Aktivität geplant wird. In dieser Situation nehmen jedoch die Freundinnen und Freunde spezifisch aufeinander Bezug und damit nicht als Freundinnen und Freunde.

  165. 165.

    Selbst eine Besprechung eines Buches kann in diesem Sinne verstanden werden, weil es auch dort um eine Beurteilung des Werkes geht, welche letztlich nichts anderes als eine Empfehlung oder ein Abraten vom Buch impliziert. Eine so verstandene Besprechung unterscheidet sich allein hinsichtlich ihrer Verbindlichkeit, nicht aber in ihrem normativen Charakter und damit in ihrer handlungskoordinierenden Funktion.

  166. 166.

    Zwar ließe sich bezüglich des Laptops gemeinsam überlegen, inwieweit die Daten auf der Festplatte zu retten seien, oder im Anschluss an den Unfall beispielsweise über die Gefährlichkeit bestimmter Pausenaktivitäten lamentieren. Es ließe sich also einiges im Anschluss an die Äußerung sagen; dies wäre jedoch im oben explizierten Sinne keine Besprechung.

  167. 167.

    Diese Lesart erscheint insofern gewagt, als dass das Verb glauben kontextfrei auf eine Nicht-Validierbarkeit verweist. Der religiöse Glaube bedarf weder eines empirischen noch argumentativen Beweises – gerade das kennzeichnet ihn. Jedoch erfordert diese Verwendung des Verbs glauben als Ausdruck eines Glaubensbekenntnisses ein mit der Präposition an angefügtes Objekt: Ich glaube an Gott (vgl. Lorenzer 1973, S. 122).

  168. 168.

    Dass die Einschränkung der Gültigkeit der metakommunikativen Aussage in Richtung der Schilderung des Geschehens weist, verdeutlicht eine Auslassprobe: Stellen wir uns kontrastiv vor, Petra Gercke hätte gesagt: was aber nichts ist, was man besprechen kann. Dies ließe im Gegensatz zur realisierten Aussage kaum zu, dass eine Anwesende bzw. ein Anwesender als Reaktion darauf sagte: Erzähl doch einfach mal.

  169. 169.

    Dass die sich hier andeutende Thematisierung einer derartigen emotionalen Betroffenheit ein besonderes Wagnis darstellt und eine entsprechende Unsicherheit produziert, lassen auch die verschiedenen Relativierungen innerhalb der Äußerungen erkennen: In deren Zuge wird aus der Erschütterung ein Mitgenommensein, und beide Gefühlsbeschreibungen werden mit den Einfügungen des Attributs „ein bisschen“ abgeschwächt.

  170. 170.

    Streng genommen verweist dies auf eine Erschütterung über das Erschüttert-Gewesen-Sein, weil dies die Vorstellung vom eigenen Umgang mit der Referendariatssituation erschütterte.

  171. 171.

    Abgesehen von der Verwunderung darüber, dass das Fehlen von Hausaufgaben Petra Gercke erschüttert, verweist der Hinweis, dass der Schüler ganz oft seine Hausaufgaben nicht hatte, darauf, dass es sich dabei nicht um das singulär erschütternde Ereignis handeln kann, welches „heute“ passierte.

  172. 172.

    Die Deutung, in der realisierten Äußerung ein Nichtgelingen zu sehen, stützt sich neben der erwähnten Form des Anschlusses als Objektivsatz auf den eingefügten Verzögerungslaut sowie die nachgeschobene Erläuterung zum Schüler: „also aus meiner fünften Klasse“, welche auf einen Korrekturbedarf gegenüber der ursprünglichen Anlage der Äußerung verweist.

  173. 173.

    Die Bezeichnung einer Lerngruppe als „meine Klasse“ begegnete uns bereits innerhalb der ersten Fallrekonstruktion. Sie scheint – wie dort bereits ausgeführt – zum einen eine gebräuchlich Bezeichnung zu sein, welche Klassenlehrerinnen und Klassenlehrer in Bezug auf die von ihnen in dieser Funktion geleiteten Klassen benutzen. Zum anderen findet sie sich – wie sich im ersten Fall bestätigt – als eine von Referendarinnen und Referendaren verwendete Bezeichnung der von ihnen unterrichteten Lerngruppen. Dies kann auf den Umstand zurückgeführt werden, dass sie weniger Lerngruppen unterrichten als Lehrerinnen und Lehrer und dass damit die einzelne Klasse für sie eine ähnlich herausgehobene Bedeutsamkeit erlangt wie eine, auf die sich die Klassenlehrerfunktion bezieht.

  174. 174.

    Die Pflichtverletzung selbst kann ärgerlich sein, nicht aber erschütternd. Insofern kann die Nichterledigung der Hausaufgaben höchstens den Anlass für eine eskalierende, ggf. als erschütternd empfundene Auseinandersetzung darstellen.

  175. 175.

    Dies schließt aus, dass es heute passiert ist.

  176. 176.

    Die Erwähnung der Kontextinformation, dass es sich bei Felix um einen anwesenden Referendar handelt, erfolgt hier aus darstellungsökonomischen Gründen. Dass dem so sein muss, wird sich textimmanent an späterer Stelle zeigen.

  177. 177.

    Indem sich Petra Gercke hier auf „Felix“ beruft, bestätigt sie also die herausgearbeitete Konzeption der kommunikativen Situation, der zufolge es Petra Gercke darum geht, ihre Situationsdeutungen mit Blick auf die anwesenden Fallarbeitsteilnehmerinnen und -teilnehmer kollegial abzusichern.

  178. 178.

    Eine solche Zurückweisung durch Felix wäre vor dem Hintergrund der gewählten Formulierung nur möglich, wenn sich die Hausaufgabendisziplin des Schülers in seinem Unterricht grundlegend unterschiede.

  179. 179.

    Als kontrastierende Variante wäre vorstellbar, dass Petra Gercke hier zunächst versucht, die Fragestellungen zu formulieren, um die herum sich die Krisenhaftigkeit der Situation zentriert, um diese im Anschluss diskursiv im Kreis der Kolleginnen und Kollegen zu bearbeiten. Darüber hinausgehend ließe sich als maximal kontrastierende Umgangsweise vorstellen, dass Petra Gercke bereits auf den Versuch der Prädizierung der Fragestellung verzichtete und allein die persönliche Erschütterung zu illustrieren versuchte.

  180. 180.

    Diese Fraglichkeit schlösse sich bereits, wenn an einer Stelle der Darstellung ein „eigentlich“ eingefügt wäre, welches auf einen Regelverstoß verwiese.

  181. 181.

    Die sich aus dem Kontext aufdrängende Lesart, derzufolge sich das „mal“ im Sinne eines ein Mal auf die Anzahl der Anwendungen der Regel bezieht, ist auf Grund der sprachlichen Gestalt nicht plausibel, denn diese Lesart ließe das verkürzende Weglassen des Zahlwortes „ein“ nicht zu. Beide genannten Lesarten erforderten eine andere Stellung des „mal“ innerhalb der Äußerung. Die vorausgehende Information, dass der Junge „ganz oft“ die Hausaufgabenpflicht verletzte, weist in Richtung des manchmal. Dies liefe jedoch der Regel insofern entgegen, als dass genau geregelt ist, wie oft der Schüler einen Brief hätte bekommen müssen. Entsprechend müsste der bisherigen Darstellungslogik folgend hier eine Quantifizierung der geschriebenen Elternbriefe angeführt werden. Gegen die Lesart des „mal“ im Sinne eines manchmal spricht auch, dass sich die alternative Lesart des „mal“ als ein irgendwann einmal eher mit der verzögerten Position zu vertragen scheint.

  182. 182.

    Wird das „mal“ als „manchmal“ gelesen, so reduziert es die Bedeutsamkeit des Elternbriefs insofern, als dass es in eine Reihe mehr oder weniger regelmäßig erfolgender Routineexekutionen eingeordnet wird. Wird es im Sinne eines „einmal“ gelesen, rückt das Geschehen so weit in die Vergangenheit, dass dessen konkreter Zeitpunkt bedeutungslos wird. Negiert wird damit jede akute Bedeutsamkeit.

  183. 183.

    Ist von einer Rückgabe die Rede, pärsupponiert dies immer eine vorausgehende Leihgabe und damit eine Rückgabepflicht. Eine ausführliche Interpretation dazu findet sich bei Wernet (2000a, S. 47).

  184. 184.

    Dieser Logik zu Folge könnte der Schüler auf die Rüge: Du hast mir den Elternbrief noch immer nicht zurückgegeben, antworten: Sie haben mich nicht danach gefragt.

  185. 185.

    Dass in diesem Fall das „erst“ kaum als Markierung des Auftakts einer sich steigernden Aufzählung zu lesen ist, wird erkennbar, wenn wir versuchen, denkbare Anschlüsse zu entwerfen. So könnte Petra Gercke nicht sagen: „dann habe ich das erst vergessen“ und dann auch noch gar nicht mehr dran gedacht. Eine derartige Steigerung schließt sich sachlogisch aus. Möglich wäre nur noch eine Fortsetzung, in der Petra Gercke vorsätzlich eine Störung der Regelexekution produzierte: „dann habe ich das erst vergessen“, und dann hatte ich keine Lust mehr, den Schüler danach zu fragen.

  186. 186.

    Vor dem Hintergrund der nun erkennbar werdenden geringen Relevanz der Tatsache, dass Petra Gercke zunächst vergaß, auf der Rückgabe des Elternbriefs zu insistieren, kann deren Erwähnung als Ausdruck des Rechtfertigungsbestrebens gedeutet werden: Indem Petra Gercke dieses persönliche – unbedeutende – Versagen offen anspricht, versichert sie die Adressierten der Redlichkeit des Berichts und entkräftet damit den möglichen Verdacht einer geschönten Darstellung.

  187. 187.

    Deutlich wird die mit der gewählten Verbform zum Ausdruck kommende Distanzierung in der Differenz dieser Darstellung zur vorausgehenden Schilderung des Nicht-mit-Habens des Elternbriefs, welches sich die Sprecherin als Tatsachenbehauptung zu eigen macht.

  188. 188.

    Diese Deutung ermöglicht es, der Erwähnung des zwischenzeitlichen Vergessens eine gewisse Relevanz zuzuschreiben. Zwar spielt das Vergessen keine konstitutive Rolle für die sich andeutende Konfliktsituation. Jedoch kann ihm eine gewisse Bedeutung zugeschrieben werden, wenn es um die Bewertung der Plausibilität der Schülerbehauptung geht: So ließe sich in Parteinahme auf Seiten des Schülers argumentieren, dass je länger der Schüler im Besitz des Zettels ist, desto größer die Wahrscheinlichkeit wird, ihn zu verlieren.

  189. 189.

    Eine derartige Thematisierung hätte unterschiedlichste Ausdrucksformen annehmen können. Petra Gercke hätte etwa sagen können: Da musste ich jetzt überlegen, wie ich damit umgehen sollte, oder: Da konnte ich jetzt doch nicht einfach drüber hinweggehen. Eine Rechtfertigung der getroffenen Entscheidung, einen neuen Elternbrief anzufertigen, verwiese ebenso auf die Krisenhaftigkeit wie eine Negierung der Entscheidungsoffenheit, welche beispielsweise in der Formulierung: Da war für mich völlig klar, was zu tun war, zum Ausdruck kommt.

  190. 190.

    Ein Abschluss erforderte dagegen im Anschluss an die konjunktionale Relationierung der vorausgehenden Sequenz an der Stelle des „dann“ ein und dann.

  191. 191.

    Im Kontrast zu dem hier thematisch werdenden Wundern zeigt sich Petra Gercke beispielweise nicht verwundert über die Aussage des Schülers, er habe den Zettel verloren.

  192. 192.

    Damit handelt es sich zwar um ein Sprechen über eigene Emotionen, jedoch nicht um ein expressives Sprechen. Vielmehr handelt es sich um einen Bericht über eine emotionale Reaktion.

  193. 193.

    Die hier erkennbar werdende Strategie der Ersetzung einer Deutung durch eine Beobachtung begegnete uns bereits im Kontext der Behauptung des Zusammenhangs von Beziehungsproblemen mit der Situation des Referendariats, welcher als offensichtlich korrelierend bezeichnet wurde. Auch dort wurde eine Deutung dieser behaupteten Beobachtung, nämlich die Deutung der Korrelation, den Zuhörenden überlassen.

  194. 194.

    Dabei ergäbe sich im Falle eines vermeintlichen Nichtreagierens – selbst wenn dieses keiner anderen Person bekannt würde, weil der Verdacht an keiner Stelle intersubjektiv thematisch würde – die Herausforderung, dieses (vor sich selbst) zu rechtfertigen.

  195. 195.

    Die Frage, ob im Falle eines Betruges auf diesen in Form einer Bestrafung reagiert werden soll, scheint insofern vorentschieden, da der Betrug bereits im Rahmen eines Bestrafungsvollzugs steht. Eine permissive Nichtbestrafung stellte eine Inkongruenz gegenüber diesem Kontext dar.

  196. 196.

    In der Gesamtschau zeigt sich, dass hier zum dritten Mal ein „und dann“ formuliert wird. Dies schwächt den interpretatorischen Schluss, aus dieser konjunktionalen Fügung könne auf den Abschluss der Vorgeschichte geschlossen werden. Vorsichtiger könnte also formuliert werden, dass die konjunktionale Fügung der entwickelten Lesart, die Vorgeschichte habe nun ihren Abschluss gefunden, zumindest nicht widerspricht.

  197. 197.

    Dadurch, dass sich die Fallstruktur bereits vorausgehend mehrfach in verschiedener Gestalt reproduzierte – die Formulierung der Fallstrukturhypothese erfolgte im Rahmen dieser Rekonstruktion auf Grund der spezifischen Gestalt der Schilderung vergleichsweise spät –, kann hier von einer weiteren Bestätigung die Rede sein. Offen erscheint damit weniger die Frage nach der Krise als vielmehr die Frage, inwieweit sich die rekonstruierte Umgangsweise in der Situation, um die es nun gehen wird, vor dem Hintergrund der sich abzeichnenden „brute facts“ wird reproduzieren können.

  198. 198.

    Zunächst wird die Regel nicht befolgt, sondern erst ein Elternbrief geschrieben, nachdem der Schüler ganz oft seine Hausaufgaben nicht hatte. Dann wird auf der Rückgabe des Briefes zunächst nicht insistiert.

  199. 199.

    Im Sinne einer maximalen Kontrastierung ließen sich folgende Formulierungen vorstellen: Ich wusste jetzt aber gar nicht, was ich mit dem Verdacht anfangen sollte, oder:. Beide Formulierungen verweisen wie das realisierte „naja“ auf eine Nichtpositionierung Petra Gerckes. Mit ihnen rückte diese jedoch manifest als Folge einer Entscheidungskrise in den Blick. Genau dies leistet das „naja“ jedoch nicht.

  200. 200.

    Ausgehend davon verwundert es nicht, dass die eigenen Versäumnisse – das Nichtanfertigen der Elternbriefe und das zwischenzeitliche Vergessen der Unterschriftenkontrolle – nicht problematisiert werden: Diese erfordern keinen Ausstieg aus einer routineförmigen Bezugnahme auf die Situation – sie heilen sich, so gesehen, selbst, weil an sie eine Fortsetzung eines routinisierten Handelns angeschlossen werden kann.

  201. 201.

    Kontextfrei ließe sich an eine derartige Aufzählung auch mit der Aussage: Ich bin mal gespannt, was morgen passiert, anschließen. Da wir aber durch den Verweis auf die Erschütterung wissen, dass die Situation, in welcher Weise auch immer, bereits heute eine Eskalation erfuhr, scheiden diese Anschlussoption und die mit ihr verbundene Lesart der vorliegenden Sequenz aus.

  202. 202.

    Wie weiter oben das Verb zurückgeben verweist das hier verwendete zurückbringen zwingend auf eine Bringpflicht des Schülers.

  203. 203.

    Dass diese Formulierung üblich ist, zeigt sich auch darin, dass sie im ersten und dritten Fall verwendet wird.

  204. 204.

    Dieser Tatsache kann insbesondere vor dem Hintergrund, dass im Kontext der Elternbriefepisode eine entsprechende Nachfrage gleich zwei Mal thematisch wurde, Bedeutsamkeit zugeschrieben werden.

  205. 205.

    Im Sinne der methodologischen Behauptung, jede Fallrekonstruktion verweise auch auf Fallstrukturen, welche sich nicht realisieren, sich aber hätten realisieren können, hätte Petra Gercke auch sagen können: Dass ich nun bei den Eltern anrufen musste, war ja klar. Ich hatte nur Sorge, dass sie das ziemlich schockieren würde. Wie schon weiter oben markiert Petra Gercke diese ausbleibende Überlegung mit einem „naja“.

  206. 206.

    Die Unterstellung, er hätte davon wissen sollen oder müssen, ergibt sich nicht nur aus dem Kontext, sondern auch daraus, dass dies der Erwähnung des Nichtwissens erst Relevanz verleiht.

  207. 207.

    Damit bestätigt sich nun die vorausgehende auf das Arbeitsheft bezogene Lesart, der zufolge die ausbleibende Rückgabe des Heftes ein Problem in Bezug auf die formale Aufrechterhaltung der schulischen Praxis darstellt. Die Rückgabe des Arbeitsheftes dient dem Abschluss einer in hohem Maße formalisierten Praxis der schriftlichen Überprüfung und Beurteilung der schulischen Leistung des Schülers.

  208. 208.

    Wenn der Vater nichts von „irgendwelchen Arbeiten“ weiß, so von mehr als nur der zuletzt geschriebenen und bewerteten. Dann aber hätte der Schüler bereits vorher Unterschriften fälschen müssen. Unklar bleibt dann aber, warum der Schüler nun, statt die Unterschrift erneut zu fälschen, das Arbeitsheft nicht zurückgibt, also seine Betrugsstrategie ändert.

  209. 209.

    Dass die Aufzählung sich hier komplettiert, lässt sich aus dem immanenten Kontext schließen.

  210. 210.

    Am Rande sei auf die Irritation verwiesen, dass der Vater sich von den nicht gemachten Hausaufgaben geschockt zeigt und nicht von den Betrugsfällen. In gewagter Deutung kann dies als Ausdruck von Petra Gerckes kompletter Ausblendung des aus dem Betrug erwachsenden innerfamilialen Vertrauensproblems gelesen werden. Darin bestätigt sich eindrucksvoll die alleinige Fokussierung auf die formale Aufrechterhaltung der schulischen Verfahrensabläufe bei gleichzeitiger Ausblendung des materialen Gehaltes der pädagogischen Interaktion. Welche Folgen der Telefonanruf innerfamiliär zeitigt, kann Petra Gercke egal sein.

  211. 211.

    Zwar klingt in der Formulierung die eingangs der Schilderung zum Ausdruck kommende Konzeption des Referendariats als einmal mehr und einmal weniger angenehme Zeit an, indem hier wieder das Adjektiv „unangenehm“ verwendet wird. Im Unterschied zur erwähnten Stelle des Protokolls, an der davon die Rede ist, dass es relativ angenehm sei, beschreibt sie die Situation hier jedoch als nicht nur relativ, sondern „ganz“ unangenehm. Auch das „einfach“ weist in Richtung der Totalität des unangenehmen Charakters des Gesprächs, indem es die Möglichkeit einer differenzierteren Betrachtung zurückweist: Es ist „einfach“ und damit offensichtlich und nicht hinterfragbar „ganz unangenehm“.

  212. 212.

    Gegen diese Deutung kann auch nicht hypothetisch argumentiert werden, die Eltern hätten vom Verhalten des Sohns gewusst. Hätten sie das gebilligt, hätte der Schüler zum einen keinen Grund, die Unterschrift auf dem Elternbrief zu fälschen oder das Arbeitsheft nicht zurückzugeben. Zum anderen könnte Petra Gercke nicht annehmen, dass die Eltern in diesem Falle für eine hinreichende Konformität des Schülers sorgen könnten oder wollten. Unter der Annahme wäre also der Entschluss zum Anruf nicht sinnvoll.

  213. 213.

    Der erste abgebrochene Formulierungsansatz ließe sich sinnvoll zu der Aussage ergänzen: „das habe ich ei“nfach nicht erwartet. Mit dieser Formulierung würde Petra Gercke jedoch ihre vollkommene, nicht weiter begründbare Unbedachtheit ausdrücken. Dieses wird in der korrigierten Version doppelt abgeschwächt: Zum einen verzichtet Petra Gercke hier auf das einfach – hier erklärt sich schlüssig die Stelle des sich protokollierenden Abbruchs; zum anderen fügt sie nachträglich, und damit als zweite Korrektur, das „so“ ein, welches zum Ausdruck bringt, dass sie durchaus erwartet habe, dass der Vater erschüttert reagieren würde. Die Erwartungswidrigkeit reduziert sich damit auf ein graduelles Abweichen.

  214. 214.

    Worin sich dieses reziproke Vertrauensproblem begründet, bleibt im Dunkeln. Was Petra Gercke aus dieser Überlegung hinsichtlich des Umgangs mit der problematischen Situation folgern könnte, braucht hier nicht diskutiert zu werden. Relevant erscheint allein die Tatsache, dass derartige Überlegungen sich in ihrer Darstellung der Situation in keiner Weise andeuten.

  215. 215.

    Die hier ins Spiel gebrachte Vermutung, die Aussage der Lehrerin könnte ggf. zumindest in ihrer Schärfe ironisch gebrochen sein, begründet sich in der Schärfe der zitierten Aussage, kann aber nicht belegt werden. Entscheidend für unsere Zusammenhänge ist, dass es zunächst keinen Hinweis darauf gibt, dass Petra Gercke die Aussage in ihrer wörtlichen Bedeutung nicht ernst nimmt.

  216. 216.

    Die Annahme, dass es hier um ein Telefongespräch geht, begründet sich in der rekonstruierbaren Chronologie der Ereignisse. Mit der Klassenlehrerin spricht die Referendarin im Anschluss an das Gespräch mit dem Vater. Gehen wir davon aus, dass sie dieses nicht während der Unterrichtszeit, sondern im Anschluss daran führte, erscheint es unwahrscheinlich, dass sie zwischen diesem Gespräch und der sich protokollierenden Situation die Klassenlehrerin traf. Wenn dies auch nur gemutmaßt werden kann, erscheint das unproblematisch, weil die Form des Gesprächs für die Rekonstruktion ohne Belang ist.

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Dietrich, F. (2014). Fallrekonstruktionen zu Krisen und Krisenbearbeitungen im Referendariat. In: Professionalisierungskrisen im Referendariat. Rekonstruktive Bildungsforschung, vol 1. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-03525-9_7

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