Skip to main content

Kinderschutz als gesellschaftliches Projekt: Kontext und Konzept einer soziologischen Feldanalyse

  • Chapter
  • First Online:
Organisierter Kinderschutz in Deutschland
  • 5727 Accesses

Zusammenfassung

Dieses Kapitel beleuchtet die groben Konturen sowie das Umfeld dessen, was in unserer Studie „Kinderschutzsystem“ genannt wird; gleichzeitig beschreibt es den konzeptionellen Ansatz, mit dessen Hilfe wir dieses System näher durchleuchten wollen. Weil Kinderschutz in modernen Gesellschaften als öffentliche Aufgabe bzw. als sozialpolitisches Projekt definiert wird, rücken dabei die wohlfahrtsstaatliche Infrastruktur und ihre jüngere Entwicklung mit ins Zentrum der Betrachtung.

This is a preview of subscription content, log in via an institution to check access.

Access this chapter

Chapter
USD 29.95
Price excludes VAT (USA)
  • Available as PDF
  • Read on any device
  • Instant download
  • Own it forever
eBook
USD 49.99
Price excludes VAT (USA)
  • Available as EPUB and PDF
  • Read on any device
  • Instant download
  • Own it forever
Softcover Book
USD 64.99
Price excludes VAT (USA)
  • Compact, lightweight edition
  • Dispatched in 3 to 5 business days
  • Free shipping worldwide - see info

Tax calculation will be finalised at checkout

Purchases are for personal use only

Institutional subscriptions

Notes

  1. 1.

    Siehe z. B. Greese 2011.

  2. 2.

    Bei der Rezeption des entsprechenden Datenmaterials muss man berücksichtigen, dass die auf diversen Quellen beruhenden Daten enorme Lücken und Unzulänglichkeiten enthalten; zudem ist (insbesondere in Bezug auf die Polizeiliche Kriminalstatistik) von einem großen Dunkelfeld auszugehen (Haug & Höynck 2012, Fendrich & Pothmann 2010; vgl. auch die auf Eigenangaben basierenden Untersuchungen im Kasten). So weist auch der 13. Kinder- und Jugendbericht des Deutschen Bundestages (2009: 89) treffend darauf hin, dass „das tatsächliche Ausmaß von Vernachlässigung und Kindesmisshandlung (…) nur geschätzt werden (kann), da (…) neuere repräsentative und auf der Basis valider Erhebungsinstrumente gewonnene Ergebnisse fehlen“. Die Daten sind daher mit entsprechender Vorsicht zu interpretieren. In der weiteren Darstellung bleiben Statistiken des Gesundheitswesens (z. B. zu Todesursachen) ausgeblendet, da sie mit erheblichen Erhebungsproblemen behaftet sind (vgl. Haug & Höynck 2012: 136 ff).

  3. 3.

    Die Zahlen betreffen Gesamtdeutschland exklusive Hamburg, das keine Ergebnisse zur Verfügung stellte.

  4. 4.

    Für diese These spricht auch der Vergleich von jüngeren Untersuchungen (Baier et al. 2009; Bussmann 2005a, b) mit solchen älteren Datums (Pfeiffer et al. 1999; Bussmann 1996), der sogar auf rückläufige Zahlen leichterer Gewalterfahrungen von Kindern und eine zunehmende Bedeutung des Gewaltfreiheitspostulats in der Erziehung hindeutet (Baier et al. 2009; Bussmann 2005a, b). Vor diesem Hintergrund gewinnt die These einer Verschiebung der Hellfeld-Dunkelfeld-Relation an Bedeutung (für diesen Hinweis danken wir Monika Haug).

  5. 5.

    Vgl. Welter-Enderlin & Hildenbrand (2006).

  6. 6.

    Solche Phänomene verweisen allgemein auf strukturelle Sozialisationsprobleme im Kontext von „Armutskarrieren“ (vgl. dazu Groh-Samberg & Hertel 2010). Weiter unten gehen wir ausführlicher auf solche strukturellen Faktoren ein.

  7. 7.

    Vgl. Fuchs et al. (2009).

  8. 8.

    Vgl. allgemein die Beiträge in Berger et al. (2011).

  9. 9.

    Um nur einige Beispiele für Untersuchungen zu nennen, die Fallverläufe rekonstruieren und auf diese Volatilität der „Bearbeitungsprozesse“ verweisen: Fegert et al. (2010), Retkowski et al. 2011 sowie (diverse Beiträge in) Thole et al. (2012) und Marthaler et al. (2012).

  10. 10.

    Zum Begriff des Technologiedefizits sozialer Interventionen vgl. Scherr (2001).

  11. 11.

    Empirische Analysen dazu bewegen sich gewiss auf dünnem Eis, immerhin beruhen die Datensammlungen z. T. auf Diagnosen von möglicherweise voreingenommenen Verantwortlichen des Kinderschutzsystems. Dafür, dass der höhere diagnostizierte Interventionsbedarf bei „Unterschichts“- und Alleinerziehendenhaushalten gegenüber der Restbevölkerung wesentlich durch selektive Problemwahrnehmungsmuster bestimmt ist, gibt es allerdings wenige empirische Hinweise.

  12. 12.

    Der Begriff der postindustriellen Sozialstruktur sollte nicht zu wörtlich genommen werden. Insbesondere soll er nicht insinuieren, dass der für westliche Volkswirtschaften typische Tertiarisierungsprozess – also die Zunahme von Dienstleistungstätigkeiten bei gleichzeitig relativ an Bedeutung verlierender Industriearbeit – sämtliche sozialstrukturellen Merkmale der Industriemoderne aufgelöst hat. Eher steht der Terminus hier für eine sozialstrukturelle Konstellation, für die bestimmte kulturelle Neuorientierungen (z. B. im Hinblick auf das Verständnis von Geschlechterrollen oder die Einstellung gegenüber Märkten) grundlegend sind und graduelle Gewichtsverlagerungen (im Arbeitsmarkt, bei den vorherrschenden Wertvorstellungen, im Bereich politischer Interessenvermittlung etc.) erkennbar werden (vgl. dazu die Erläuterungen in Bode 2013a: 81 ff, 316 ff).

  13. 13.

    Vgl. klassisch Merton 1968 sowie Böhnisch 2010. Dabei gilt es wiederum zu bedenken, dass Personen in Unterschichtspositionen tendenziell häufig im Fokus von Sicherheitspolitiken stehen bzw. von Wohlfahrtsbürokratien stärker beobachtet werden.

  14. 14.

    Siehe dazu Hopf (2005: 153), Seus-Seberich (2006: 21–22) sowie die Zusammenstellung von internationalen Forschungsergebnissen in U.S. Department of Health and Human Services (1996), Dyson (2008), Brett & Zuravin (1998) und Hurrelmann & Andresen (2007); dagegen mit differenzierteren Befunden: Hussey et al. (2006) sowie abweichend Trunk (2010).

  15. 15.

    Vgl. dazu etwa Buhr & Huinink (2011).

  16. 16.

    Laut Kinder- und Jugendhilfestatistik ist diese Diagnose (mit einem Anteil von 43 % in 2012) bei weitem der häufigste Anlass für eine Inobhutnahme (Statistisches Bundesamt; eigene Berechnung).

  17. 17.

    Vgl. dazu etwa Schneewind & Schmidt (1999).

  18. 18.

    So war im Jahr 2009 die Wahrscheinlichkeit, dass alleinerziehende Eltern eine Hilfe zur Erziehung in Anspruch nehmen mussten, dreimal so hoch wie bei Ehepaaren und Patchworkfamilien (Fendrich et al. 2011).

  19. 19.

    So der Titel eines Werks eines der bekanntesten Vertreter der Individualisierungsthese (Beck 1997), der zufolge permanente Wahlfreiheiten (und -zwänge) gerade auch im Hinblick auf die Partnerwahl Kennzeichen zeitgenössischer Gesellschaften sind.

  20. 20.

    Vgl. dazu die Angaben bei Häuser et al. (2011).

  21. 21.

    Vgl. hierzu Sander (2011) sowie die Beiträge zu „Absteigern“ aus der Mitte in Castel & Dörre (2009).

  22. 22.

    Siehe allgemein etwa Rohrer-Werneck & Werneck (2000) oder Fegert & Spröber (2012).

  23. 23.

    Diese Optionalität von Lebensentwürfen wird von verschiedenen Vertretern der sog. „Individualisierungsthese“ stark gemacht – ihr Ausmaß wird, soweit es um die Normalbevölkerung geht, häufig überschätzt, liegt aber sicherlich über den Verhältnissen etwa der 1950er und 1960er Jahre (vgl. zur diesbezüglichen Debatte Berger & Hitzler 2010).

  24. 24.

    Indirekt ist das ablesbar an hohen Unterhalts(vorschuss)zahlungen seitens der öffentlichen Hand in Verbindung mit einem strategischen Vermeidungsverhalten bei Vätern (Scheiwe & Wersig 2011: 37–40).

  25. 25.

    Vgl. hierzu Luhmanns „Soziologie des Risikos“ (1991) sowie – bezogen auf die Kinderschutzdebatte – Wolff (2007).

  26. 26.

    Die internationale Kinderrechtskonvention sowie die seit einiger Zeit in Deutschland geführte Debatte über die Aufnahme von Kinderrechten in die Verfassung sind nur die schillerndsten Ausprägungen dieses Trends. Weiter unten greifen wir – im Rahmen der Beschreibung dessen, was wir „neue Wohlfahrtstaatlichkeit“ nennen – diese Beobachtung nochmals auf.

  27. 27.

    Beispiele aus dem Ausland – konkret z. B. der zunehmende Einfluss der „Neurowissenschaft“ im Rahmen (sozial)staatlicher Interventionsprogramme in England, der alles in dieser Hinsicht hierzulande Bekannte bei weitem in den Schatten stellt – deuten auf eine (anhaltende) markante Radikalisierung „objektivistischer“ Sozialtechnologien in westlichen Gesellschaften hin (vgl. Wastell & White 2012).

  28. 28.

    Die Bedeutung, die Betreuungs- und Bildungsfragen in der publizistischen und politischen Öffentlichkeit einnehmen, deuten in eine ähnliche Richtung. Auf den „sozialinvestiven“ Charakter darauf bezogener Politiken gehen wir weiter unten noch näher ein.

  29. 29.

    Verstanden als beharrliche, konsequente Investition in die Fähigkeit von unter prekären Bedingungen lebenden Personen, in verschiedenen Sozialsphären „Normalisierungen“ zu erreichen und dabei eine eigene Urteils- und Kritikfähigkeit im Hinblick auf die eigene Lebenswelt zu entwickeln (vgl. Herriger 2006).

  30. 30.

    Der Begriff der Institution ist für die (sozialwissenschaftliche) Gesellschaftsanalyse traditionell von zentraler Bedeutung (im Überblick Schülein 1987; Rehberg 1994; Scott 2001). Er hat indes viele Facetten, weil er sowohl die „ungeschriebenen Gesetze“ sozialer Ordnungen als auch gesellschaftliche Einrichtungen adressiert, die in einem gegebenen Gemeinwesen einen festen Ort haben und an die gesamtgesellschaftlich weitgehend einheitliche (wenngleich oft grobe) Leistungserwartungen adressiert werden. Beim (modernen) Kinderschutz kommt beides ins Spiel: eine (jedem Gesetz vorgängige) Erwartungshaltung, die das Gemeinwesen zum Intervenieren bewegt, sobald bestimmte Grundvoraussetzungen für das Kindeswohl nicht gegeben sind; und die Befassung von konkreten, öffentlich bzw. gesetzlich regulierten und rechenschaftspflichtigen Einrichtungen mit diesem Interventionsbedarf, allen voran Instanzen der Jugendhilfe bzw. Jugendämter.

  31. 31.

    In der Theorie des Wohlfahrtsstaats wird bezüglich der entsprechenden institutionellen Entwicklungsdynamiken verwiesen auf „the deployment of systems of ideas, including scientific ideas as well as political or moral ideologies“ (Rueschemeyer & Skocpol 1996: 4). Franz-Xaver Kaufmann (1997: 41) fasst dieses Verständnis von den Wurzeln wohlfahrtsstaatlicher Normen treffend mit der Bemerkung zusammen, dass der rein „pragmatische Nutzen von Einzelmaßnahmen ohne normatives Fundament an Wertüberzeugungen nicht [ausreicht], um der wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung die ihr eigene Richtung zu geben“.

  32. 32.

    Dabei kann der Erziehungscharakter unterschiedlich ausgestaltet sein: Die in der aktuellen Literatur zur (sog.) gouvernementalistischen Orientierung sozialer Interventionen (Stichwort: „aktivierende“ Soziale Arbeit; vgl. z. B. Dahme & Wohlfahrt 2003; Kessl 2005) beobachteten autoritären Tendenzen (siehe die Ausführungen weiter unten) wären damit eine Variation des pädagogischen Eingriffs, aber keinesfalls ein neuer Modus der genannten Interventionsform.

  33. 33.

    So verwendet ist der Modernisierungsbegriff neutral im Hinblick auf die Frage, wo und inwieweit faktische gesellschaftliche (institutionelle) Veränderungen dem entsprechen, was Menschen bezüglich ihrer Lebensumstände (kollektiv) anstreben (z. B. mehr Freiheit). Die soziologische Theorie diskutiert Modernisierungsprozesse sehr kontrovers – wobei jüngere Spielarten v. a. darauf abstellen, dass sie widersprüchlich und spannungsgeladen verlaufen (vgl. etwa Degele & Dries 2005, mit Blick auf Paradoxien van der Loo & van Reijen 1992).

  34. 34.

    Der Begriff steht hier als Chiffre für die nachfolgend skizzierte Verlagerung normativer Orientierungen und institutioneller Impulse mit Bezug auf die Infrastruktur des Wohlfahrtsstaats und jene Akteure, die in ihr wirken. In der Fachliteratur findet er vereinzelt Verwendung (z. B. Schridde 2003, mit Bezug auf eine neue infrastrukturelle Aufgabenverteilung); er ist jedoch (noch) kein etablierter terminus technicus der Sozialpolitikforschung.

  35. 35.

    Diskursiv werden beide Emanzipationsagenden z. T. auch vereint behandelt (siehe etwa Reich 2012).

  36. 36.

    Ein typisches Beispiel (jenseits der Kinder- und Jugendhilfe) sind Innovationen wie das „persönliche Budget“ in der Behindertenhilfe, das die Zuständigkeit für die Gestaltung sozialer Hilfen in die Hände der individuellen Nutzer legt, wodurch deren je unterschiedlichen Kompetenzen und Neigungen den Ausschlag über den Charakter der Hilfen geben.

  37. 37.

    Etwa beim persönlichen Zuschnitt von Arrangements der sozialen Absicherung oder auch bei der Selbstgestaltung von Dienstleistungsangeboten (z. B. im Bildungssystem), verbunden mit der (faktischen) Begrenzung solcher Angebote auf sozial homogenere Kollektive. Dies geschieht etwa dort, wo der Zugang zu Schulen und Kinderbetreuungseinrichtungen (mit kommunalpolitischer Unterstützung) so (re)organisiert wird, dass die Bessergestellten unter sich bleiben bzw. erweiterte Wahloptionen wahrnehmen können.

  38. 38.

    Wesentliche Initiativen in diese Richtung sind Anfang der 1990er Jahre seitens einer speziellen Arbeitsgruppe von Kommunalverwaltungsexperten ergriffen worden (hier wurde auch der Begriff der „Neuen Steuerung“ geprägt). Deren Umbauempfehlungen haben in Praxis und Wissenschaft durchaus „Schule gemacht“, wenngleich sie in unterschiedlich starkem Maße umgesetzt worden sind (vgl. Göbel & Vogel 2010; Grohs & Bogumil 2011; Bode 2013a: 234 ff). In der aktuellen Fachdiskussion wird oft behauptet, dass besagtes Modernisierungsprogramm mittlerweile ein Auslaufmodell sei (vgl. etwa Wegrich 2011) – wie weit dies tatsächlich der Fall ist, können jedoch nur empirische Studien klären.

  39. 39.

    Vgl. Polutta (2011) und Gray et al. (2009).

  40. 40.

    Ob also die Stabilisierung (oder weitere Destabilisierung) einer Familie bzw. der Lebenslage eines Kindes mit einer bestimmten Maßnahme (z. B. einer sozialpädagogischen Familienhilfe) zusammenhängt oder aber mit familieninternen Bewegungen bzw. (un)günstigen Entwicklungen im Lebensumfeld, ist für den Steuerungsansatz uninteressant. Was zählt, sind über mehrere Fälle nachvollzogene Ko-Inzidenzen von Maßnahmeneinsatz und (De-)Stabilisierungsindizien.

  41. 41.

    Dabei handelt es sich um zentrale Bausteine des oben bereits angesprochenen Modells des „New Public Management“.

  42. 42.

    Vgl. zur Problematisierung von Kooperation in der Jugendhilfe allgemein Santen & Seckinger (2003) sowie zur Wettbewerbslogik der neuen Wohlfahrtsstaatlichkeit Grzeszick (2010) oder Flösser & Vollhase (2006).

  43. 43.

    Symptomatisch dafür war die Debatte um Bildungspakete im Rahmen der Hartz IV-Gesetzgebung: Sie zeigte, dass in weiten Teilen der politischen Öffentlichkeit die Überzeugung besteht, dass Kinder universelle Ansprüche auf basale Entfaltungschancen haben.

  44. 44.

    Der „Stoff“ dieses Beherrschungsdrangs ist das „Wissen davon oder de[r] Glauben daran: dass man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte, dass es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, die da hineinspielen, dass man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne.“ (Weber 1994: 9). Der Beherrschungsdrang der Moderne wurde später auch von der Kritischen Theorie in den Mittelpunkt der Weltdeutung gestellt (Horkheimer & Adorno 1988), wobei der Akzent hier auf der Behauptung einer selbstzerstörerischen Dynamik dieses Drangs lag (im Weiteren abstrahieren wir von der Frage, wie weit diese Behauptung aus heutiger Sicht tragen kann).

  45. 45.

    Wobei allerdings darauf hingewiesen werden muss, dass diese national- bzw. regionalkulturell je spezifisch adaptiert werden (Heintz et al. 2006) und sich im Kontext von stabiler oder gar wachsender struktureller sozialer Ungleichheit vollziehen (Münch 2010).

  46. 46.

    Vgl. dazu die Ausführungen zum Netzwerkcharakter organisierten Kinderschutzes weiter unten.

  47. 47.

    Wesentlich erscheint dabei, dass die Behörde Jugendamt eng mit einem mit Träger(verbands)vertretern besetzten Jugendhilfeausschuss kooperiert, sowohl Hilfe- als auch Kontrollaufgaben wahrnimmt und ihre Handlungsspielräume mit Vertretern einer ihr vorgesetzten Verwaltung bzw. der kommunalen Sozialpolitik verhandelt (vgl. dazu im Überblick Bettmer 2010 und Gissel-Palkovich 2011).

  48. 48.

    Innerhalb der öffentlichen Jugendhilfe existiert mit dem sog. „Allgemeinen Sozialen Dienst“ (ASD) eine Spezialinstanz, welche eine zentrale Rolle bei der Koordination der Leistungserbringung einnimmt (vgl. Gissel-Palkovich 2011). Zur entsprechenden Rollenstruktur vgl. unsere Ausführungen weiter unten.

  49. 49.

    Zu solchen Existenzgründungen vgl. Köppel (2007). Das Sample unserer Settings enthält einige gewerblich verfasste Anbieter von ambulanten und stationären Betreuungsleistungen. In einem besonders schillernden Fall handelt es sich um eine Unterabteilung eines privaten Pflegedienstes.

  50. 50.

    Mitgliederdemokratie bzw. assoziative Governance macht sich v. a. im Organisationskern bzw. als Kontrollinstanz bemerkbar; im operativen Geschäft tritt sie eher in den Hintergrund. Meist sind nur kleine Kreise involviert, die als Arbeitgeber für normale Angestellte fungieren. Es ist eine empirische Frage, inwieweit die Organisationsverfassung für das praktische Handeln dieser Angestellten einen Unterschied macht. Immerhin können auch in Jugendämtern informelle Formen assoziativer Governance ausgebildet sein. Allerdings ist die Rechenschaftskonfiguration bei den Jugendämtern eine andere: Politik und Verwaltung sitzen hier letztlich immer am längeren (hierarchischen) Hebel.

  51. 51.

    Beim Sampling für die von uns näher untersuchten lokalen Kinderschutzsettings sind uns Organisationen mit (zumindest im Diskurs dominanten) spezifischen Sachzielen mehrfach begegnet – wobei die offizielle „mission“ natürlich noch nichts über die Praxis der Träger aussagt. Ein typisches bundesweites Beispiel für solche Organisationen sind Kinderschutzzentren bzw. der Deutsche Kinderschutzbund, der einige dieser Zentren, welche teilweise auch als Dienstleistungserbringer in Erscheinung treten (vgl. etwa Klotmann & Klinkhammer 2005), verbandlich vertritt.

  52. 52.

    Das komplexe Neben-, Mit- und auch Gegeneinander der in das Kinderschutzsystem involvierten Instanzen gilt verbreitet als Ursache inkonsistenter Interventionsprozesse. Typische Beobachtungen aus der Fachliteratur lauten wie folgt: „Gleiche Symptome führen zu ganz unterschiedlichen Reaktionen des Hilfesystems“ (Winkler 2005: 713) oder: „Kooperationen [werden] bisher häufig zu unreflektiert eingesetzt“ (Pluto et al. 2007: 594). Bathke (2006: 45) spricht gar von einer kooperationsschädlichen „Konkurrenz zwischen den beteiligten Akteuren und Institutionen“.

  53. 53.

    Vgl. exemplarisch Nationales Zentrum Frühe Hilfen (2008), Lukasczyk & Pöllen (2007), Borris (2007), Wagenblass (2005) sowie Rönnau & Fröhlich-Gildhoff (2008).

  54. 54.

    Also von Situationen, in denen eine Seite nur deswegen nicht kooperiert, weil sie befürchtet, die andere würde Kooperationsangebote bzw. mit Vorleistungen verbundene Vertrauenskredite (z. B. in Gestalt von preisgegebenen kritischen Informationen) nicht erwidern, um so für sich Vorteile zu erzielen (van Lange et al. 1992; Küchle 2012).

  55. 55.

    Ein solcher Existenzdruck liegt v. a. dort vor, wo sich mit Kooperationserwartungen konfrontierte Akteure in einem Konkurrenzverhältnis zu Netzwerkpartnern befinden. Gerade dann ist es eine offene Frage, wie sich in interorganisationalen oder interprofessionellen Beziehungen des Kinderschutzsystems das Verhältnis von Netzwerk- und Marktlogik sowie die damit verbundenen „Rationalitätskonflikte“ (vgl. dazu Hessinger 2009, am Beispiel der Gesundheitsversorgung) konkret darstellen.

  56. 56.

    Dabei folgen, um es nochmals zu betonen, die institutionellen Logiken ihrerseits den oben umrissenen gesellschaftlichen Modernisierungstendenzen bzw. wohlfahrtsstaatlichen Paradigmen.

  57. 57.

    DiMaggio & Powell (1983: 148) zufolge zeichnet sich ein Organisationsfeld dadurch aus, dass sich sämtliche in ihm tätigen kollektiven Akteure als gleichartige „key suppliers, resource and product consumers, regulatory agencies, and other organizations that produce similar services“ gegenübertreten. Solche Felder bilden sich dann, wenn: 1) das Niveau der Interaktionen zwischen Organisationen in einem gegebenen Handlungsbereich deutlich anwächst, 2) interorganisationale Strukturen entstehen, die feldinterne Herrschafts- und Koalitionsverhältnisse klären, 3) die Informationsmenge zunimmt, die auf Organisationen eines Feldes einwirkt, und 4) sich ein geteiltes Bewusstseins der Teilnehmer bestimmter Organisationen darüber einstellt, dass sie an einer gemeinsamen Aufgabe arbeiten.

  58. 58.

    Die Definition von Thornton & Ocasio (1999: 804) ist noch etwas allgemeiner und sieht institutionelle Logiken als „the socially constructed, historical patterns of material practices, assumptions, values, beliefs, and rules by which individuals produce and reproduce their material subsistence, organize time and space, and provide meaning to their social reality.“

  59. 59.

    Dies ist die Botschaft des internationalen Wohlfahrtsstaatsvergleichs und zugleich Ergebnis vieler Studien zur lokalen Sozialpolitik (für viele: Schmid 2010; Dahme & Wohlfahrt 2010).

  60. 60.

    Mit dem Begriff der „Doktrin“ führen wir also eine weitere intermediäre Emergenzebene ein, die gleichsam „unterhalb“ der institutionellen Logiken auf gesamtgesellschaftlicher Ebene, aber „oberhalb“ organisationaler Kodierungen verortet ist.

  61. 61.

    So schon Friedland & Alford (1991), vgl. zur entsprechenden Diskussion auch Bode (2012b).

  62. 62.

    Sie ist implizit auch in frühen Versionen der neo-institutionalistischen Organisationstheorie angelegt, die davon ausgeht, dass Organisationen institutionalisierte (von außen an sie herangetragene) Leistungserwartungen wenigstens partiell ignorieren bzw. nur symbolisch bedienen können, während sie reale operative Prozesse davon ab- bzw. entkoppeln (Meyer & Rowan 1977; vgl. auch Wolff 2010).

  63. 63.

    Nassehi rekurriert hier auf Alfons Bora und sieht Organisationen als Instanzen, die in der Gesellschaft auftretende „ökonomische, rechtliche, religiöse, wirtschaftliche oder politische Ereignisse und Ereignisketten aufeinander beziehen können“ (ebd.). Gleichzeitig seien sie aber auch „Zonen dichter Kommunikation und stärkerer Kopplung der Elemente“ jener gesellschaftlichen Funktionssysteme (z. B. Wirtschaftsmärkte, Politik, Wissenschaft), in denen diese Ereignisse auftreten. Ob es möglich ist, mit dem systemtheoretischen Programm die Vermittlungskompetenz von Organisationen hinlänglich zu beschreiben, muss an dieser Stelle offen bleiben (siehe dazu Bode 2003a).

  64. 64.

    Zum Konzept der „street level bureaucracy“ vgl. klassisch Lipsky (1980) sowie – als Beispiel für deren Relevanz unter zeitgenössischen wohlfahrtsstaatlichen Bedingungen – Duner & Mordström (2006).

  65. 65.

    Bei der Auswertung unseres empirischen Materials in den nachfolgenden Kapiteln blenden wir deshalb rein individuelle Orientierungen (z. B. bei einzelnen Professionellen auftretende idiosynkratische Lesarten von Problemen und Signalen) im Interventionsgeschehen weitgehend aus – was nicht bedeutet, dass sie beim Kinderschutz in konkreten Fällen ganz konkrete Wirkungen zeitigen können.

Author information

Authors and Affiliations

Authors

Corresponding author

Correspondence to Ingo Bode .

Rights and permissions

Reprints and permissions

Copyright information

© 2014 Springer Fachmedien Wiesbaden

About this chapter

Cite this chapter

Bode, I., Turba, H. (2014). Kinderschutz als gesellschaftliches Projekt: Kontext und Konzept einer soziologischen Feldanalyse. In: Organisierter Kinderschutz in Deutschland. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-03354-5_2

Download citation

  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-03354-5_2

  • Published:

  • Publisher Name: Springer VS, Wiesbaden

  • Print ISBN: 978-3-658-03353-8

  • Online ISBN: 978-3-658-03354-5

  • eBook Packages: Humanities, Social Science (German Language)

Publish with us

Policies and ethics